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Es ist, wenn man Bergson glauben will, die Vergegenwärtigung der durée, die dem Menschen die Obsession der Zeit von der Seele nimmt. Proust hält es mit diesem Glauben und hat aus ihm die Exerzitien hervorgebildet, in denen er lebenslang darauf ausgewesen ist, Verflossenes, gesättigt mit allen Reminiszenzen, die während seines Verweilens im Unbewußten in seine Poren gedrungen waren, ans Licht zu heben. Er war ein unvergleichlicher Leser der »Fleurs du mal«; denn er hat Verwandtes in ihnen am Werk gespürt. Es gibt keine Vertrautheit mit Baudelaire, die Prousts Erfahrung an ihm nicht mit umfaßt. »Die Zeit«, sagt Proust, »ist bei Baudelaire auf eine befremdende Art zerfällt; nur wenige seltene Tage tun sich auf; es sind bedeutende. So versteht man, warum Wendungen wie ›wenn eines Abends‹ und ähnliche bei ihm häufig sind.«1188 Diese bedeutenden Tage sind Tage der vollendenden Zeit, mit Joubert zu sprechen. Es sind Tage des Eingedenkens. Sie sind von keinem Erlebnis gezeichnet. Sie stehen nicht im Verbande der übrigen, heben sich vielmehr aus der Zeit heraus. Was ihren Inhalt ausmacht, hat Baudelaire im Begriff der correspondances festgehalten. Er steht unvermittelt neben dem der ›modernen Schönheit‹.

Das gelehrte Schrifttum über die correspondances (sie sind Gemeingut der Mystiker; Baudelaire ist bei Fourier auf sie gestoßen) beiseiteschiebend, macht Proust darum nicht mehr Aufhebens von den artistischen Variationen über den Tatbestand, die von den Synästhesien bestritten werden. Wesentlich ist, daß die correspondances einen Begriff der Erfahrung festhalten, der kultische Elemente in sich schließt. Nur indem er sich diese Elemente zu eigen machte, konnte Baudelaire voll ermessen, was der Zusammenbruch eigentlich bedeutete, dessen er, als ein Moderner, Zeuge war. Nur so konnte er ihn als die ihm allein zugedachte Herausforderung erkennen, die er in den »Fleurs du mal« aufgenommen hat. Wenn es eine geheime Architektur dieses Buches, der viele Spekulationen gewidmet worden sind, wirklich gibt, so dürfte der Gedichtkreis, der den Band eröffnet, einem unwiederbringlich Verlorenen gewidmet sein. In diesen Kreis fallen zwei Sonette, die in ihren Motiven identisch sind. Das erste, überschrieben »Correspondances«, beginnt:

La Nature est un temple où de vivants piliers

Laissent parfois sortir de confuses paroles;

L’homme y passe à travers des forêts de symboles

Qui l’observent avec des regards familiers.

Comme de longs échos qui de loin se confondent

Dans une ténébreuse et profonde unité,

Vaste comme la nuit et comme la clarté,

Les parfums, les couleurs et les sons se répondent. 1189

Was Baudelaire mit den correspondances im Sinn hatte, kann als eine Erfahrung bezeichnet werden, die sich krisensicher zu etablieren sucht. Möglich ist sie nur im Bereich des Kultischen. Dringt sie über diesen Bereich hinaus, so stellt sie sich als ›das Schöne‹ dar. Im Schönen erscheint der Kultwert als Wert der Kunst1190.

Die correspondances sind die Data des Eingedenkens. Sie sind keine historischen, sondern Data der Vorgeschichte. Was die festlichen Tage groß und bedeutsam macht, ist die Begegnung mit einem früheren Leben. Das legte Baudelaire in dem Sonett nieder, das »La vie antérieure« überschrieben ist. Die Bilder der Grotten und der Gewächse, der Wolken und der Wogen, die der Beginn dieses zweiten Sonetts heraufruft, heben sich aus dem warmen Dunst der Tränen, welche Tränen des Heimwehs sind. »Der Wanderer blickt in diese von Trauer umflorten Weiten, und in seine Augen steigen Tränen der Hysterie, hysterical tears«1191, schreibt Baudelaire in seiner Anzeige der Gedichte von Marceline Desbordes-Valmore. Simultane Korrespondenzen, wie sie später von den Symbolisten kultiviert wurden, gibt es nicht. Vergangenes murmelt in den Entsprechungen mit; und die kanonische Erfahrung von ihnen hat selber ihre Stelle in einem früheren Leben:

Les houles, en roulant les images des cieux,

Mêlaient d’une façon solennelle et mystique

Les tout-puissants accords de leur riche musique

Aux couleurs du couchant reflété par mes yeux.

C’est là que j’ai vécu. 1192

Daß der restaurative Wille Prousts in den Schranken der irdischen Existenz befangen bleibt, Baudelaires über sie hinausschießt, kann als symptomatisch dafür begriffen werden, wieviel ursprünglicher und machtvoller die Gegenkräfte sich Baudelaire angekündigt haben. Und ihm glückte schwerlich Vollkommeneres als wo er, von ihnen überwältigt, zu resignieren scheint. Das »Recueillement« zeichnet gegen den tiefen Himmel die Allegorien der alten Jahre ab,

… vois se pencher les défuntes Années,

Sur les balcons du ciel, en robes surannées1193.

In diesen Versen bescheidet sich Baudelaire, dem Unvordenklichen, das sich ihm entzog, in der Gestalt des Altmodischen zu huldigen. Den Jahren, welche auf dem Altan erscheinen, denkt Proust die von Combray schwesterlich zugetan, wenn er im letzten Band seines Werkes auf die Erfahrung zurückkommt, von der er beim Geschmack einer madeleine durchdrungen wurde. »Bei Baudelaire … sind diese Reminiszenzen noch zahlreicher; man sieht auch: was sie bei ihm heraufführt, ist nicht der Zufall, und dadurch sind sie meines Erachtens entscheidend. Es gibt keinen wie ihn, der von langer Hand, wählerisch und doch lässig, im Geruch einer Frau zum Beispiel, im Duft ihres Haares und ihrer Brüste, den beziehungsvollen Korrespondenzen nachginge, die ihm dann ›den Azur des ungeheuren, gewölbten Himmels‹ oder ›einen Hafen, der voller Flammen und Masten steht‹ eintragen.«1194 Die Worte sind ein eingeständliches Motto zum Werk von Proust. Es hat eine Verwandtschaft mit Baudelaires, das die Tage des Eingedenkens zu einem geistlichen Jahr versammelt hat.

Aber die »Fleurs du mal« wären nicht, was sie sind, waltete in ihnen nur dies Gelingen. Unverwechselbar sind sie vielmehr darin, daß sie der Unwirksamkeit des gleichen Trostes, daß sie dem Versagen der gleichen Inbrunst, daß sie dem Mißlingen des gleichen Werks Gedichte abgewonnen haben, die hinter denen in nichts zurückstehen, in denen die correspondances ihre Feste feiern. Das Buch »Spleen et idéal« ist unter den Zyklen der »Fleurs du mal« das erste. Das idéal spendet die Kraft des Eingedenkens; der spleen bietet den Schwarm der Sekunden dagegen auf. Er ist ihr Gebieter wie der Teufel der Gebieter des Ungeziefers. In der Reihe der »Spleen«-Gedichte steht »Le goût du néant«, wo es heißt:

Le Printemps adorable a perdu son odeur! 1195

In dieser Zeile sagt Baudelaire ein Äußerstes mit der äußersten Diskretion; das macht sie unverwechselbar zu der seinigen. Das Insichzusammengesunkensein der Erfahrung, an der er früher einmal teilgehabt hat, ist in dem Worte perdu einbekannt. Der Geruch ist das unzugängliche Refugium der mémoire involontaire. Schwerlich assoziiert er sich einer Gesichtsvorstellung; unter den Sinneseindrücken wird er sich nur dem gleichen Geruch gesellen. Wenn dem Wiedererkennen eines Dufts vor jeder anderen Erinnerung das Vorrecht zu trösten eignet, so ist es vielleicht, weil diese das Bewußtsein des Zeitverlaufs tief betäubt. Ein Duft läßt Jahre in dem Dufte, den er erinnert, untergehen. Das macht diesen Vers von Baudelaire zu einem unergründlich trostlosen. Für den, der keine Erfahrung mehr machen kann, gibt es keinen Trost. Es ist aber nichts anderes als dieses Unvermögen, was das eigentliche Wesen des Zornes ausmacht. Der Zornige ›will nichts hören‹; sein Urbild Timon wütet gegen die Menschen ohne Unterschied; er ist nicht mehr im Stande, den erprobten Freund von dem Todfeind zu unterscheiden. D’Aurevilly hat mit tiefem Blick diese Verfassung in Baudelaire erkannt; »einen Timon mit dem Genie des Archilochus«1196 nennt er ihn. Der Zorn mißt mit seinen Ausbrüchen den Sekundentakt, dem der Schwermütige verfallen ist.

Et le Temps m’engloutit minute par minute,

Comme la neige immense un corps pris de roideur. 1197

Diese Verse schließen unmittelbar an die oben zitierten an. Im spleen ist die Zeit verdinglicht; die Minuten decken den Menschen wie Flocken zu. Diese Zeit ist geschichtslos, wie die der mémoire involontaire. Aber im spleen ist die Zeitwahrnehmung übernatürlich geschärft; jede Sekunde findet das Bewußtsein auf dem Plan, um ihren Chock abzufangen1198.

Die Zeitrechnung, die ihr Gleichmaß der Dauer überordnet, kann doch nicht darauf verzichten, ungleichartige, ausgezeichnete Fragmente in ihr bestehen zu lassen. Die Anerkennung einer Qualität mit der Messung der Quantität vereint zu haben, war das Werk der Kalender, die mit den Feiertagen die Stellen des Eingedenkens gleichsam aussparen. Der Mann, dem die Erfahrung abhanden kommt, fühlt sich aus dem Kalender herausgesetzt. Der Großstädter macht am Sonntag mit diesem Gefühl Bekanntschaft, Baudelaire hat es avant la lettre in einem der »Spleen«-Gedichte.

Des cloches tout à coup sautent avec furie

Et lancent vers le ciel un affreux hurlement,

Ainsi que des esprits errants et sans patrie

Qui se mettent à geindre opiniâtrement. 1199

Die Glocken, die den Feiertagen einst zugehörten, sind wie die Menschen aus dem Kalender herausgesetzt. Sie gleichen den armen Seelen, die sich viel umtun, aber keine Geschichte haben. Wenn Baudelaire im spleen und in der vie antérieure die auseinandergesprengten Bestandstücke echter historischer Erfahrung in Händen hält, so hat sich Bergson in seiner Vorstellung der durée der Geschichte weit mehr entfremdet. »Der Metaphysiker Bergson unterschlägt den Tod.«1200 Daß in Bergsons durée der Tod ausfällt, dichtet sie gegen die geschichtliche (wie auch gegen eine vorgeschichtliche) Ordnung ab. Bergsons Begriff der action fällt entsprechend aus. Der ›gesunde Menschenverstands durch welchen der »praktische Mann‹ sich hervortut, hat Pate bei ihm gestanden1201. Die durée, aus der der Tod getilgt ist, hat die schlechte Unendlichkeit eines Ornaments. Sie schließt es aus, die Tradition in sie einzubringen1202. Sie ist der Inbegriff eines Erlebnisses, das im erborgten Kleide der Erfahrung einherstolziert. Der spleen dagegen stellt das Erlebnis in seiner Blöße aus. Mit Schrecken sieht der Schwermütige die Erde in einen bloßen Naturstand zurückgefallen. Kein Hauch von Vorgeschichte umwittert sie. Keine Aura. So taucht sie in den Versen des »Goût du néant« auf, die sich den vorgenannten anschließen:

Je contemple d’en haut le globe en sa rondeur,

Et je n’y cherche plus l’abri d’une cahute. 1203

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Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke

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