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VII

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Baudelaire hat es gefallen, den Mann der Menge, auf dessen Spur der Poesche Berichterstatter das nächtliche London die Kreuz und die Quer durchstreift, mit dem Typus des Flaneurs gleichzusetzen1162. Man wird ihm darin nicht folgen können. Der Mann der Menge ist kein Flaneur. In ihm hat der gelassene Habitus einem manischen Platz gemacht. Darum ist eher an ihm abzunehmen, was aus dem Flaneur werden mußte, wenn ihm die Umwelt, in die er gehört, genommen ward. Wurde sie ihm von London je gestellt, so gewiß nicht von dem, das bei Poe beschrieben ist. An ihm gemessen, wahrt Baudelaires Paris einige Züge aus guter alter Zeit. Noch gab es Fähren, die dort, wo später Brücken sich wölben sollten, die Seine querten. Noch konnte, in Baudelaires Todesjahr, ein Unternehmer auf den Gedanken kommen, zur Bequemlichkeit bemittelter Einwohner fünfhundert Sänften zirkulieren zu lassen. Noch waren die Passagen beliebt, in denen der Flaneur dem Anblick des Fuhrwerks enthoben war, das den Fußgänger als Konkurrenten nicht gelten läßt1163. Es gab den Passanten, welcher sich in die Menge einkeilt, doch gab es auch noch den Flaneur, der Spielraum braucht und sein Privatisieren nicht missen will. Die Vielen sollen ihren Geschäften nachgehen: flanieren kann der Privatmann im Grunde nur, wenn er als solcher schon aus dem Rahmen fällt. Wo das Privatisieren den Ton angibt, ist für den Flaneur ebensowenig Platz wie im fieberhaften Verkehr der City. London hat seinen Mann der Menge. Der Eckensteher Nante, der in Berlin eine volkstümliche Figur des Vormärz war, steht gewissermaßen Pendant zu ihm; der pariser Flaneur wäre das Mittelstück1164.

Wie der Privatier auf die Menge sieht, darüber erteilt eine kleine Prosa Aufschluß – die letzte, die E. T. A. Hoffmann geschrieben hat. Das Stück heißt »Des Vetters Eckfenster«. Es ist fünfzehn Jahre älter als Poes Erzählung und stellt wohl einen der frühesten Versuche dar, das Straßenbild einer größeren Stadt aufzufassen. Die Unterschiede zwischen den beiden Texten lohnen vermerkt zu werden. Poes Beobachter blickt durch das Fenster eines öffentlichen Lokals; der Vetter dagegen ist in seinem Hauswesen installiert. Poes Beobachter unterliegt einer Attraktion, die ihn schließlich in den Strudel der Menge zieht. Hoffmanns Vetter in seinem Eckfenster ist gelähmt; er könnte der Strömung selbst dann nicht folgen, wenn er sie an der eigenen Person verspüren würde. Er ist aber über diese Menge vielmehr erhaben, wie es sein Posten in einer Etagenwohnung ihm nahelegt. Von dort durchmustert er die Menge; es ist Wochenmarkt, und sie fühlt sich in ihrem Element. Sein Opernglas hebt ihm Genreszenen aus ihr heraus. Dem Gebrauch dieses Instruments ist die innere Haltung des Benutzers durchaus entsprechend. Er will seinen Besucher, wie er gesteht, in die »Primitien der Kunst zu schauen«1165 einweihen1166. Diese besteht in der Fähigkeit, sich an lebenden Bildern zu erfreuen, wie ihnen das Biedermeier auch sonst nachgeht. Erbauliche Sprüche stellen die Auslegung1167. Man kann den Text als einen Versuch ansehen, dessen Veranstaltung fällig zu werden begann. Es ist aber klar, daß er in Berlin unter Bedingungen unternommen wurde, die sein volles Gelingen vereitelten. Hätte Hoffmann Paris oder London je betreten, wäre er auf die Darstellung einer Masse als solcher aus gewesen, so hätte er sich nicht an einen Markt gehalten; er hätte nicht die Frauen beherrschend ins Bild gestellt; er hätte vielleicht die Motive aufgegriffen, die Poe der im Gaslicht bewegten Menge abgewinnt. Übrigens hätte es derer nicht bedurft, um das Unheimliche herauszustellen, das andere Physiognomen der großen Stadt gespürt haben. Ein nachdenkliches Wort von Heine gehört hierher. »Er litt«, so berichtet ein Korrespondent 1838 an Varnhagen, »im Frühling sehr an den Augen. Das letztemal ging ich ein Stück von den Boulevards mit ihm. Der Glanz, das Leben dieser in ihrer Art einzigen Straße regte mich zu unermüdlicher Bewunderung auf, welchem gegenüber dieses Mal Heine das Grauenvolle, das diesem Weltmittelpunkte beigemischt sei, bedeutend hervorhob.«1168

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Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke

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