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Im Bahnwärterhaus
ОглавлениеDie Sonne scheint auf Kagens Bahnwärterhaus. Dort, wo sie am meisten hinbrennt, am Südhang des Bahndammes, riecht es nach heißem Kies, nach Gras, Tomatenkraut und nasser Wolle. Denn der Mantel Alfred Dahls hängt da, der grüne Hut, die braune Joppe und die breiten melangefarbenen Hosen. Um zehn Uhr kommt Kagen, nimmt Joppe und Hose, die getrocknet sind, und verschwindet im Haus. Kurz vor halb elf erscheint Alfred Dahl im Freien, er ist ausgeschlafen, aber unrasiert, der Anzug ungebügelt, das Hemd nicht frisch. Er hat eine lange Unterredung mit Richard Kagen, das heißt, er redet, und Kagen nickt dazu, wenn es ihm zu stimmen scheint, oder sieht starr vor sich hin, wenn er anderer Meinung ist. Er mag weder den Kopf schütteln noch dagegen reden. Er hat während dieser ganzen schweren Jahre festgestellt, daß Herren und Nichtherren wohl dieselben Menschen sind — das sagt er seiner Frau, so oft er sie sieht —, aber eine verschiedene Sprache sprechen.
Ob Dahl sich verteidigen möchte oder nur reden will, bleibt unklar. Er spricht jedenfalls deutlich von seiner Schuld Henriette Kagen gegenüber: Wie er glaubte, durch die Heirat alles in Ordnung zu bringen, und nun alles in Unordnung gebracht hat. Er berichtet sachlich, wie erst seine Mutter, die doch ein bißchen auf seiner Seite stand, dann seine Frau über der „Affäre“ wegstarb, wie der alte Jens schon damals ein Gutachten Hellwigs in der Tasche hatte, daß Alfred Dahl ausgesprochen manisch wäre. Er verschweigt nicht sein Entsetzen über das imitierte Jedelbach, das sich Henriette in Rödeln eingerichtet hat, mit dem diebischen alten Adam als Diener und ihrer Mutter als Hofmeisterin (dafür, zum Teufel, soviel Aufregung und Opfer, soviel Kampf), und es bleibt sogar noch ein Bedauern übrig für das große Unglück mit Wolfgang, das nur mit Mord und Totschlag enden konnte. Denn wenn er, Dahl, auch viel Unrecht und Ehebruch getrieben hatte und gewissermaßen im Glashaus saß, so glaubte er damals doch, ihm sei etwas ganz Unerhörtes zugefügt und es bliebe eine gewaltige Rechnung mit Henriette und Wolfgang Dahl auszugleichen, die nur mit Blut bezahlt werden konnte. Daß er dann auch bezahlen mußte, daß man ihn internierte, hielt er zunächst für ein schreiendes Unrecht, jetzt freilich weiß er das besser.
Hier hält er endlich ein. Aber vielleicht auch nur, weil der Zug von Jedelbach durchfährt und Kagen mit Mütze und Fahnenstock an der Barriere stehen muß und nun doch ein Bahnwärter ist, mit dem man so vertrauliche Gespräche nicht führt. So sagt er auch nichts weiter von seinen Plänen und daß er nun sein Leben ganz zu Ende verantworten will, sondern bittet den Alten nur, ihm ein, zwei Tage Quartier zu geben und seine Anwesenheit niemandem zu verraten. Danach fährt er auf Kagens Rad ab.
Zwanzig Minuten später kommt Jens P. schwitzend den Waldweg von der Chaussee heraufgefahren, sieht einen langen Mantel und einen grünen Hut an den Tomaten hängen, liest die Buchstaben A. D. mit der Krone in den Mantel eingenäht, rennt zu seinem Großvater hinüber, findet ihn im Dienstzimmer eingeschlafen und schreit ihn an, wo der Vater ist. Kagen gesteht schlaftrunken, er sei nach Hirschberg unterwegs, und braucht sich mit dem Verheimlichen auch sonst keine Mühe zu geben, denn Jens P. ist bereits weitergesaust.
Der Portier vom „Schwarzen Adler“ in Hirschberg hat einen einträglichen Tag. Am Morgen wird er von einem kleinen jüdischen Arzt namens Troplowitz über den Baron Alfred Dahl ausgeforscht und bekommt zehn Mark für weitere Nachrichten, die er nicht geben kann. Drei Mark bekommt er um halb zwölf von einem Schüler des Hirschberger Gymnasiums — es ist Stief Dahl, und sein Vater sitzt zehn Meter von ihm zwischen den Efeuwänden und frühstückt — auch für die Nachricht, daß er von Dahl nichts weiß, und um zwei kommt die falsche Baronin mit ihrem kleinen Opel angefahren und gibt fünf Mark für den gleichen Zweck. Alle können nur erfahren, daß Alice Dahl in der Nacht zuvor im „Adler“ übernachtet hat. Von Alfred Dahl keine Spur.