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Alice Dahl trifft ein

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Genau in dieser Stunde springt Alice Dahl in Hirschberg aus dem Zug. Sie hat ein hellblaues Kostüm an, einen weißen Hut auf. Trägt weiße waschlederne Handschuhe, wie ihr Vater sie immer getragen hat. Es ist das fünfte Paar seit Florenz. Nun ist noch ein Paar sauber. Die Baronesse hat eine kleine Handtasche bei sich und einen Tennisschläger. Den großen, prächtig abgeschabten Lederkoffer läßt sie auf der Bahn. Der alte Hotelwagen, in dem sie zum „Schwarzen Adler“ fährt, hat den Tag in der Sonne gestanden. Er ist bouillonheiß. Riecht nach verstaubtem Samt wie die Tischdecken im Jedelbacher Salon.

Alice stützt die Hände auf die Bank, um die Stöße des Pflasters abzufangen. Nun ist der Mut aus. Von weitem schien alles ganz natürlich. Aber schon hier in dem alten Klapperwagen wird es unmöglich. Sie kann eine Hand dort hinlegen, wo damals der Vater, und eine, wo der Großvater gesessen hat. Aber damit ist nichts geschafft. Und wahrscheinlich würden sie heute genau so aneinander vorbeistarren wie damals. Es scheint Alice, als sei auch noch die Spur der Tränen zu erkennen, die Henriette Kagen, „Vaters zweite Frau“, einmal in diesem Wagen geweint hat. Aber — so wird ihr klar — wie nichts ungeweint zu machen ist, so lauern auch schon neue Tränen, die über den Vater geweint werden müssen. „Ein Tränenstrom“, hat Tante Jella Dahl einmal bitter gesagt, „ein Tränenstrom ist Alfred Dahls Leben. Wir Frauenzimmer liefern die Tränen, auf denen er uns davonschwimmt.“

Gut, daß sie gerade noch daran denkt. Durch Tränen treibt man ihn fort, ermahnt sie sich, und so lächelt sie, als sie beim Hotel aussteigt. Lächelt, als sie hereinkommt und den Portier (als sei es das Natürlichste von der Welt) nach ihrem Vater, dem Baron Alfred Dahl, fragt. Lächelt in ihrem Zimmer, obwohl kein Brief, kein Telegramm da ist. Nichts, nichts als wieder das alte Bild, das sie auf der ganzen Reise mitgehabt hat, das sie schleunigst auspackt und das nun, da sie in seiner Nähe ist, alt und tot wirkt.

Zehn Jahre, zehn Tage

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