Читать книгу Zehn Jahre, zehn Tage - Walther von Hollander - Страница 19
Brinkmeyer bringt es an den Tag
ОглавлениеBrinkmeyer, von der Posthilfsstelle Rödeln, denkt, er hat das Telegramm nach Florenz falsch aufgenommen. Hagungogagee, das kann unmöglich stimmen. Er ruft noch mal in Jedelbach an und bekommt den Hausmeister Mohr zu fassen. Da die Herrschaften beim Abendbrot sind, buchstabiert er ihm das ganze Telegramm durch:
„Wolf v. Haacke Florenz. Wissen nicht weiter. Komm. Hagungogagee. Dahl.“
Mohr, der nicht gut auf die junge Baronesse zu sprechen ist und sich schon denken kann, was gespielt wird, legt das Telegramm dem alten Baron vor.
Der nickt. Es sei alles in Ordnung. Und schiebt das Papier, als die Dienerschaft draußen ist, zu Alice hinüber. Die Baronesse nimmt es auf. Sieht ihren Großvater, der die Stirn wütend hochzieht und sie über den Kneifer weg anstarrt, ernst an. Und erhebt sich.
„Du wirst mir die Sache erklären!“ schreit Jens Dahl wütend. „Das schickt Telegramme in die Welt. Bietet sich an. Was willst du von diesem Haacke? Was ist das für eine Familie? Was soll er dir helfen?“
Alice Dahl läßt ihren Großvater nicht aus den Augen. Sie möchte die Sache gern auf die Spitze treiben. Gut! Soll man sie hinauswerfen. Gut! Dann ist sie das alles los: diesen immer dämmerigen getäfelten Saal mit den bunten Fenstern und den Kerzen, den Waffen und Geweihen, den Bildern und Schnitzereien, nach denen niemand sieht, und das Riesenschloß mit den weiten Gängen, mit den siebzig Zimmern für niemanden und für nichts. Gut, dann ist sie den Großvater los, den die Einsamkeit böse gemacht hat, und die ewig zitternde Tante Jella, die jedem recht gibt und es niemandem recht macht. Gut.
Der alte Baron hört plötzlich zu sprechen auf. Was sind das nur für Mächte, die seinen Blicken solchen unfaßbaren Widerstand leisten? Natürlich, es sind die unwiderstehlichen Augen Renate Dahls, seiner Frau, oder auch Wolfgang Dahls, seines Sohnes. Da sind die beiden wieder, die er beherrscht und geliebt und doch nicht untergekriegt hat. Da sind sie wieder: zwei Tote sind da in einem Lebenden. Oder nein: er, Jens Dahl, ist noch dazugemischt. Seltsam: wird das zum Ausgleich oder Kampf oder ...
Er winkt ab. Am liebsten würde er alles laufen lassen. Er ist sechsundsiebenzig Jahre alt. Da hat man eigentlich ein Anrecht darauf. Ja, er säße auch still, wenn nicht die Söhne weg wären. Tot der eine, verrückt der andere. Da muß man einspringen. Und ein zweites Leben anfangen.
„Geh auf dein Zimmer“, sagt er leise, „und erwarte mich.“
Alice senkt den Kopf. Sie merkt, daß der Kampf den Sinn verloren hat. Vielleicht hat sie gesiegt. Aber was soll sie mit dem Sieg anfangen? Sie geht auf den Großvater zu und (sie hatte das, seit sie erwachsen war, nicht mehr getan, weil tägliche Küsse bei den Dahls eigentlich als Schande gelten) — küßt ihn, als käme sie von der Reise oder führe für lange ab.
Dann geht sie hinaus und hinauf, sitzt und wartet. Stiefs Regenvogelpfiff wandert an der Parkmauer entlang. Sie pfeift zurück. Aber der Nachtwind steht auf dem Fenster und bläst die Töne in ihr Gesicht zurück. Sie wartet noch eine halbe Stunde. Ihre Gedanken gehen langsam und zäh.
Zuerst denkt sie, daß der Großvater nun bestimmt sterben muß. Aber so sehr sie darauf gewartet hat, um Macht und Geld zu haben und den Vater zu befreien und den Stief aus Rödeln herauszuholen, so wenig scheint ihr nun damit getan.
Natürlich: wenn Jens Dahl tot ist, dann fällt die Familie Dahl auseinander. Dann hört sie eigentlich auf. Früher glaubte sie, damit würde „der Fluch über den Dahls“ aufhören, von dem Tante Jella immer an dunklen Abenden im Winter erzählte, der Spuk, der die Männer und Frauen entweder früh sterben oder uralt werden ließ, der Hochmut, die wahnsinnige Einsamkeit, die gewalttätige Lebenslust und die selbstmörderische Melancholie.
Aber nun weiß sie: es ist nichts damit gewonnen. Denn nun will sie die Familie Haacke weiterführen, und die Haackes sind auch nicht besser als die Dahls, obwohl sie die äußere Ordnung halten können, obwohl sie einander nur im stillen kaputtmachen und nicht so offen mit Gewehr und Irrenhaus.
Es wird fast elf, bis sich Alice aus ihren Gedanken losmacht und in den Anbau hinübergeht. Das ist der kleine Seitenflügel, den man früher einmal für eine illegitime Dahl gebaut hatte und der das Ziel der Wünsche Henriette Dahls war.
Sie findet den Stief im kleinen Saal auf einem der mit Nessel überzogenen Sofas hocken. Eine Batterie seiner Taschenlaterne hat er schon bei der Lektüre seines Reisebuches verbraucht, und die zweite brennt bereits trübe. Das Zimmer ist fast dunkel. Die Bilderrahmen an den Wänden verschwimmen. Eine Ritterrüstung klirrt mit, wenn man laut spricht. Heiß ist es, denn es herrscht noch der Hochsommer, der langsam durch die geschlossenen Läden eingedrungen ist und nicht wieder zurückkann.
Stief und Alice sitzen dicht umarmt im Dunkeln. „Ich glaube, er kommt heute nacht“, sagt Jens P. ein wenig bitter, „und man wird ihn nicht warnen können. Wenn er nun da hineinkommt und findet bei uns so eine kleine falsche Baronie — meinst du nicht, daß er lieber gleich umkehrt?“
Alice Dahl weiß es nicht. Sie weiß überhaupt nicht mehr, wie das alles enden soll. Sie ist so unüberlegt wie eine echte Dahl. Das hat alles kein Ziel, und mit einmal ist sie auch so bange darum, daß sie diesen Wolfgang von Haacke liebt. Hat sie sich nicht eigentlich einem sympathischen, aber fremden jungen Herrn anvertraut? Genau wie ihre Vorfahrinnen, die alle damit falsch gefahren sind?
Sie erzählt die Sache mit dem Telegramm, und Stief muß sich Adresse und Wortlaut genau einprägen, weil er es aufgeben soll. Denn es ist gut, wenn Wolf schnell kommt. Er weiß immer Rat. Keinen klugen Rat eigentlich, aber einen ruhigen und richtigen. Und kann noch lachen, wenn alle schon hilflos zusammenklappen.
„Ich liebe ihn nämlich, Stief“, gesteht sie schüchtern und um sich gut zuzureden, „ich muß dir sagen, daß er mein Mann ist. Komisch, nicht?“
Sie werden beide rot im Dunkeln, Alice, weil das in diesem Augenblick Wirklichkeit geworden ist, in dem es ein Dritter weiß. Und Stief, weil da schon wieder diese Liebe ist, weil Alice sich zuschließt, indem sie sich ihm anvertraut, und er noch einsamer wird.
Er drängt zum Aufbruch. Sie verabreden sich für den nächsten Morgen. Stief schleicht hinaus, bleibt im Schatten der Häuser und der Parkmauer, bis er ins Freie kommt, und geht dann langsam, wie vor einem Unglück scheuend, über die Wiese nach Rödeln zu.
Als Alice in ihr Zimmer zurückkommt, sitzt der alte Jens Dahl in ihrem Sessel am Fenster und schläft. Sie geht an ihm vorbei ins Schlafzimmer. Er wacht nicht auf. Sie zieht sich aus. Liegt im Dunkeln. Fern pfeift der Regenvogel viele Male. Nebenan schnarcht der alte Dahl. Alice wird starr vor Ratlosigkeit. Der Schlaf, in den sie hineinfällt, gleicht eher einer Ohnmacht.