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Abendbrot in Rödeln

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Die Baronin Dahl, Henriette, geb. Kagen — in ihrer Jugend als die schöne Bahnwärterstochter in vieler Leute Mund und später als die „falsche“ Baronin, obwohl sie dem Standesamt nach eine richtige Baronin ist und ihr Sohn Jens Peter sich seit der Revolution auch Baron Dahl nennen kann —, Henriette Dahl kommt erst gegen sieben aus Hirschberg zurück.

Sie hat ziemlich großartige Einkäufe gemacht, Einkäufe, die sie von ihrem Einkommen eigentlich gar nicht bestreiten kann. Aber sie muß sich bei den Geschäftsleuten immer wieder in Achtung setzen und standesgemäß verschwenden, und an diesem Tag ist sie außerdem auf sehr verwöhnten Besuch gefaßt.

Sie hat noch nicht oft mit ihrem Mann gegessen. Ein paarmal vor der Ehe, einmal am Hochzeitstag und ein paarmal, als er aus dem Krieg auf Urlaub kam. Und weil sie sich am genauesten an das Souper erinnert, das sie beim erstenmal in Breslau aßen, vor sechzehn Jahren also, in einem großen Speisesaal mit Spiegelscheiben, Tanzmusik und Kellnern in lila Frack, darum übergibt sie dem Diener Adam folgende Sachen für den Abend: ein halbes Pfund Kaviar, drei Büchsen Spargelspitzen, ein Pfund Schinken in Brotteig gebacken, ein großes Tablett mit Petit fours, Käsestangen, Pralinés, zwei Flaschen Sekt und natürlich zwei Flaschen Haut-Sauternes.

Sie zieht sich gleich in ihr Zimmer zurück. Wäscht sich sorgfältig. Pudert und parfümiert sich und bekommt einen kleinen Schreck. Sie weiß nämlich nicht mehr genau, ob Alfred Dahl dieses Parfüm geliebt hat oder Wolfgang Dahl. Und sie ist überhaupt böse, daß sie an diesem Tag soviel mehr von der Vergangenheit heimgesucht wird als von der Gegenwart. Daß sie statt an Alfred Dahl immer wieder an den toten Wolfgang Dahl denken muß, an sein Lachen, seine Wandsbeker-Husaren-Uniform, an „Hexe“, die Stute, die aufmerksam war wie ein Wachhund und schnaubte, wenn Menschen kamen. Wolfgangs Augenfarbe weiß sie sogar und die Haarfarbe und wie er beim Gehen vor Lebenslust mit den Armen und Beinen schlenkerte und wie er auf dem Totenbett ausgesehen hat, mit dem blutigen Taschentuch über Stirn und linkem Auge.

Sie sitzt still und entsetzt vor ihrem Spiegel. Mein Himmel, warum vergißt man — und erinnert sich plötzlich an das Vergangene.

Das Vergangene? Das ist gar nicht vergangen. Vergangenheit ist immer und immer wiederholbare Gegenwart. Schlimm nur: man kann sie nicht ändern, oder doch höchstens allmählich die Farben etwas günstiger setzen, die Beleuchtung abdämpfen, in der man steht.

Vergangenheit? Nein, hier ist nichts zu ändern. Dies ist ihr in die Haut eingebrannt und ins Gehirn: sie haben sich vor dem Mittagessen verabredet. Henriette sitzt gehorsam hinter der großen Hecke gleich am Park. Endlich kommt Alfred Dahl. Sein Gesicht ist grau und zerfahren wie eine Landstraße. Er spricht nichts, aber das tat er manchmal nicht. Er zieht sie an der Hand durch den Park, schnell über den mittagleeren Hof, von hinten ins Schloß hinein, die Treppe hinauf zum Schlafzimmer hin wie so oft. Aber er zieht so grausam und heftig. Sie fürchtet sich.

„Was hast du da?“ fragt sie und zeigt auf das Blut an seiner Weste.

„Was ist das?“ fragt er böse. „Weißt du das nicht?“

„Doch“, antwortet sie, „Blut!!“

Er zieht sie in das Schlafzimmer hinein. Da liegt also Wolfgang Dahl. Die Kugel ist durchs linke Auge gegangen.

„Du sollst es als erste erfahren“, flüstert Alfred Dahl, „es hat ihn noch niemand gesehen. Ich habe ihn vom Park allein heraufgeschleppt. Die andern sitzen schon beim Mittagessen.“

„Ja warum hat er sich denn umgebracht?“ flüstert Henriette entsetzt.

Alfred Dahl schüttelt den Kopf. „Ich“, sagt er leise und ruhig. „Ich.“

Sie sieht ihn fassungslos an, will zusammensacken. Aber er hält sie. Nein, das könnte ihr so passen. „Weißt du auch warum?“

Sie wehrt sich nicht mehr. „Ja“, sagt sie leise, „ich weiß.“

Es klopft. Sie kann sich nicht zurechtfinden. Wo lebt sie? Damals? Jetzt? Sie sieht sich endlich im Spiegel sitzen mit glanzlosen, aufgerissenen Augen, träge und nicht mehr ganz jung. Es ist vorbei: das Entsetzliche und das Schöne.

Es klopft noch einmal. Die Mutter schiebt vorsichtig den Kopf herein. Dann kommt sie selbst, zierlich und weißhaarig, mit dunklen Augen, im Wesen wie eine Feldmaus, gekleidet wie ein Maulwurf.

„Na — und?“ sagt sie hastig. „Was gibt es Neues? Adam behauptet, er kommt zum Abendessen. Er hat mir gezeigt, was du mitgebracht hast. Der Kaviar reicht ja für eine Gesellschaft. Nein? Na, ich habe genug Gesellschaften bekocht. Ich weiß es doch. Aber was ich jetzt sagen wollte: es ist acht. Wann kommt er?“

Henriette schüttelt ungeduldig den Kopf. „Ich weiß es nicht“, flüstert sie. „Ich warte auch nicht. Nein, wir wollen essen.“

Die Alte klingelt. Adam erscheint, verbeugt sich vor ihr besonders devot, noch immer versucht er, sie durch seine Höflichkeit blind zu machen. Denn sie ist die einzige, die ihm auf die Finger sieht. Sie sind Nachbarkinder gewesen, Instleutekinder beide. Sie kennen sich genau und können sich nichts vormachen, soviel sie sich auch vormachen.

Henriette steht schwerfällig auf, bürstet die halblangen, künstlich im Nacken gelockten, seidenweichen Haare. Als sie gehen will, fällt ihr Blick auf ein kleines Bild in rotem Lederrahmen. Es ist ein Bild der Brüder Dahl, aber nur Wolfgang kann man darauf erkennen. Deshalb hat sie an das „Schlimme“ denken müssen. Sie nimmt den Rahmen, pfeffert ihn in eine Schublade, schließt ab.

Das Abendessen verläuft noch eisiger als sonst. Jens P. ist blaß und angegriffen. „Ich glaube, ihr seid komplett verrückt“, flüstert er und zeigt auf den vierten, leeren Stuhl. „Oder habt ihr, wie die gläubigen Juden, für den Messias gedeckt?“

Er hat auch die Sektflasche im Eis stehen sehen und den Kaviar. Übrigens gibt es, weil man allein bleibt, nur kalten Aufschnitt, saure Gurken und Tee.

„Wir heben es auf“, hat Frau Kagen gesagt.

„Kaviar hält sich nicht“, hat Adam erwidert.

„So lange, bis mein Schwiegersohn kommt, hält er“, hat die Alte das letzte Wort behalten.

Um halb zehn erhebt sich Jens P., küßt Mutter und Großmutter flüchtig auf die Stirn und meldet, daß er noch fortgeht. Die beiden fragen nicht, was er noch vorhat. Denn er sagt es ihnen doch nicht, und sie lassen ihn laufen, seit sie wissen, daß er manchmal mit Alice Dahl zusammen ist. Vielleicht — träumen sie manchmal — wird er doch noch einmal Herr auf Jedelbach.

Henriette begleitet ihn bis zur Gartentür. „Wenn nun dein Vater inzwischen kommt?“ fragt sie schüchtern. Jens P. schüttelt den Kopf. Er wird es schon spüren, meint er.

Dann sieht er nach der Uhr und fährt in Richtung Jedelbach davon. Henriette sieht das Licht der Laterne noch durch die Chausseebäume wandern. Dann wird alles dunkel, bange, ungewiß und langweilig wie immer.

Zehn Jahre, zehn Tage

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