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Alice, der Stammtisch und ein Brief
ОглавлениеAlice Dahl sitzt im großen Speisesaal des „Schwarzen Adler“. Sie hat den weißen Hut mit einer Kappe in der Farbe ihres Mantels vertauscht. Der alte Kellner steht über sie gebeugt und liest zärtlich die Speisekarte vor, als hätte eine so junge Dame noch nicht das Lesen gelernt.
Drüben in der Stammtischecke hocken die Hirschberger Honoratioren in einer Wolke von Tabakdampf. Alice kennt alle. Den Schlachter Grotefeld, den Arzt Heubach, den Apotheker Staumann, den Lehrer Perse, den Juwelier Reichenberg usw. Alle kennen sie, aber sie grüßen nicht. Allein gilt die Baronesse nichts.
Sie sitzt klein und etwas krumm in ihrem sesselartigen Stuhl. Wenn die Tür aufgeht, hämmert ihr Herz. Einmal zuckt sie zusammen: ein langer grüner Mantel tritt ein. Ein Jägerhut. Aber es steckt der Oberförster Winnig drin.
Die Hirschberger haben das Flüstern nicht gelernt. So bekommt Alice zur Bouillon mit Ei den Niedergang der Dahls serviert, der von Jens Dahls Laxheit herrühren soll. Lieber Himmel, was für ein Unsinn! Zum Beefsteak erfährt sie, daß der getötete Wolfgang Dahl viel netter gewesen ist als Alfred Dahl, ihr Vater. Schöner auch, schneidiger in der Wandsbeker-Husaren-Uniform. Daß alle Frauen hinter ihm her waren (jetzt, da er tot ist, wird auch das gelobt). Alice kann das nicht begreifen. Es hängen ja genug Bilder in Jedelbach. Wie konnten die Frauen auf dies Lächeln hereinfallen, auf dieses Stuckprofil.
Zum Kaffee endlich und weil sie eine Zigarette raucht, was in Hirschberg als Frauenlaster gilt, muß sie hören, daß Jens Peter Kagen-Dahl, ihr kleiner Stiefbruder, von den Hirschbergern nicht anerkannt wird. Alfred Dahl hat ihn zwar ehelich erklären lassen. Aber das genügt den Stammtischlern nicht. Beim Adel halten sie auf Ebenbürtigkeit, und kein Gesetz wird ihnen einen unehelichen Bengel in einen ehelichen umzaubern.
Alice geht noch ein Stück spazieren. Es ist sehr warm in den engen Straßen. Aber sie friert. Sie begreift langsam, daß ihr Vater nicht kommen kann. Sie ist sehr böse auf sich. Wie romantisch hat sie das wieder angesehen. Man schreibt einen Brief, man leidet ein paar Jahre, man schreibt wieder, und das genügt, um ein verfahrenes Leben ins Gleis zu bringen!
Um neun Uhr ist sie auf ihrem Hotelzimmer. Das Zimmermädchen hat die Fenster geschlossen. Es riecht nach Odol und feuchter Wäsche. Auch alter Menschengeruch ist noch zu spüren. Sie wäscht sich, so gut es in der winzigen Waschschüssel geht. Zieht ihr längstes Hemd an und eine Bettjacke mit Ärmeln. Schläft gleich ein. Um elf klopft der Hoteldiener, bringt das Telegramm aus Magersdorf. Alice wird dadurch nicht mehr trauriger.
Sie liegt, hört die Stammtischler nach Hause gehen. Ein Reisender — er muß es sein, weil er der einzige Gast außer ihr ist — klinkt vorsichtig an ihrer Tür. Die Hirschberger Hunde erheben ihr großes Nachtgebell, sie bewachen die alten Häuser, denen niemand zu nahe treten will.
Alice holt sich Briefpapier, schiebt sich das Kissen aus dem nachbarlichen Ehebett unter den Rücken und schreibt:
„Lieber Junge!
Liege restlos gestrandet im Bett. Was in Florenz selbstverständlich scheint, ist hier unmöglich. (Übrigens stimmt das auch für uns, aber ich werde es doch möglich machen.) Jedenfalls von Vater keine Spur. Statt dessen eben ein Telegramm von dem jüdischen Oberarzt: Er kommt nicht oder später. Länger warten kann ich nicht. Ein Reisender klinkte schon an meiner Tür. Die Stammtischler sagen, es sei mit den Dahls zu Ende. Na, mit mir nicht, das sage ich Dir.
Lieber Wolf, sei nicht bissig. Lach mich nicht aus. Ich muß morgen nach Jedelbach, denke nur: Großvater, Tante Jella, Inspektor v. Viersen, Hausmeister Mohr, Fräulein Bosse, Frau Reinhardt — Himmel, Himmel! Wenigstens bin ich nicht mehr dieselbe, die weggefahren ist. Oder doch? Hier in Hirschberg scheint’s, als müsse alles in Ewigkeit beim alten bleiben. Du weißt, daß Du mir helfen mußt, wenn nötig.
Deine Alice.“
Sie liest das sorgfältig durch, dann löscht sie schnell das Licht. Die Tränen kommen angestürzt. Lieber will sie im Dunkeln weinen.