Читать книгу Zehn Jahre, zehn Tage - Walther von Hollander - Страница 4
Dahl
ОглавлениеDahl sitzt wie gewöhnlich an seinem Schreibtisch mit dem Rücken zur Tür. Die Arme hat er aufgestützt, die verschränkten Hände unter dem Kinn. Ein Buch liegt vor ihm, aber er liest nicht. Er starrt hinaus, wendet sich nicht um. Er weiß: entweder ist der Wärter Hannemüller eingetreten mit den sonnabendlichen Bratkartoffeln, dem gallertsteifen Rührei und dem romantisch verzierten sauren Salat — oder Weißkopf, der Nachtwächter — oder eben Troplowitz.
„’n Abend, Troplowitz“, sagt er endlich leise, nimmt die Brille ab und schiebt den Arzt, der neben ihn getreten ist, ein wenig beiseite. „Sie entschuldigen. Sie passen nicht gut in den Frieden der Landschaft. Schön, so ein Septemberabend, was? Zu denken, man wollte mich einmal da oben am Bodensee einsperren. Wäre schlimm gewesen. Zu viel Wasser, zu hohe Berge am Horizont. Muß schon eine Ebene sein. So wie man es gewöhnt ist. Schlesisch.“ Und als Troplowitz noch nichts sagt: „Habe ich Ihnen natürlich schon längst erzählt. Aber was wollen Sie? Das Alte ist alles wegerzählt, und Neues wächst in Magersdorf nicht nach. Also?“
Der Oberarzt schüttelt den Kopf. Zu dumm! Er weiß wirklich nicht, wie er den Brief „unauffällig“ loswerden soll ... „Ein Brief“, sagt er schließlich ärgerlich und legt ihn vor Dahl auf den Schreibtisch.
Der Baron erhebt sich und kommt, die Hände in den Hosentaschen, langsam auf Troplowitz zu. Er wippt ein wenig auf den Fußspitzen, so daß er noch größer, hagerer, noch zerbrechlicher aussieht, als er ist. Er zieht den Arzt am Knopf seines Kittels ans Fenster.
„Na, was steht drin?“ flüstert er. „Na, was ist los?“
Troplowitz zuckt amtlich die Schultern. Dahl seufzt, steckt eine seiner langstengeligen Zigaretten an. Das Streichholz zittert. Dann reißt er den Umschlag auf, überfliegt den Brief.
„Was finden Sie, Troplowitz?“ fragt er im Lesen. „Ach nein, sprechen Sie doch, oder muß das Theater sein? Für Ihr Gehalt? Also was ist verdächtig. Hm ja, natürlich. Daß meine Tochter Alice in Hirschberg übernachtet. Wann? Richtig! Heute übernachtet! Daß sie sich nach mir sehnt? Daß sie mich braucht? Wie alt ist sie? Dreiundzwanzig Jahre. Wie weit ist Hirschberg? Vier Stunden zu Fuß oder noch weniger? Glauben Sie, daß ich deshalb nun gehen werde? Unsinn, Troplowitz. Sie wissen ja, daß ich nicht auf den Brief gewartet habe, sondern ...“
Er stockt, er will es Troplowitz nicht unnütz schwer machen. Und sich selbst auch nicht. Ihm ist klargeworden, daß Alice Dahl ein Recht hat, zu warten, daß er verpflichtet ist, zu gehen. Nicht weil sie geschrieben hat, nicht weil sie ihn braucht, sondern weil das den Entschluß zum Überlaufen bringt.
„Troplowitz“, sagt er und reicht dem Arzt die Hand, „was würden Sie tun? Würden Sie bleiben?“
Der kleine Arzt zuckt die Achseln, zieht den Kopf ein. Er will sich nun wohl endlich aussprechen. Aber da kommt natürlich der Wärter Hannemüller mit dem Essen. Troplowitz verbeugt sich und wünscht einen guten Appetit. Er schlüpft zur Tür hinaus. Draußen sagt er laut: „Natürlich würde ich gehen, aber natürlich.“