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Dahl tritt ein

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Alfred Dahl zögert einen Augenblick. Dann kommt, von der Flurlaterne geworfen, sein Schatten. Endlich tritt er ein.

Er trägt seinen braunkarierten Sportanzug aus Hirschberg, der etwas zu weit und zu kurz ist. Den Kopf hat er vorgebeugt und das Gesicht gehoben. Langsam und hochherrschaftlich schließt Adam die Tür hinter ihm.

„Guten Abend“, sagt Dahl so freundlich wie möglich und reicht ihr die Hand.

„Guten Abend, Freddy“, antwortet sie und hebt ihm die Hand zum Kusse entgegen. Aber er sieht das nicht. Denn er hat sich blitzschnell umgedreht, um nach diesem Freddy zu sehen, erinnert sich dann, daß er das selber gewesen ist, beim Regiment und bei den Frauen. Ihm fällt ein, daß er ja einmal lustig war und hübsch. Natürlich nicht so lustig und hübsch wie Wolfgang Dahl, aber dafür war er auch reicher und klüger und hatte seine besonderen Gedanken zu jeder Sache.

Freddy! Das kriecht kalt den Rücken herauf.

„Freddy?“ fragt er freundlich. „Wollen wir nicht lieber bei Alfred bleiben? Oder —? Nein, wenn es dir so traurig ist! Aber nein! Nicht weinen. Das ist ganz überflüssig. Gut, also Freddy. Ich hatte das nur vergessen. Weißt du, wenn man viel allein ist und denkt, und es geschieht nichts mehr ... Vielleicht kennst du das auch? Nein? Ich dachte. Man berichtete mir, du lebst ganz zurückgezogen. Natürlich anders als ich. Aber einerlei: jedenfalls, ich habe einiges Vergangene umbauen müssen. Man denkt immer daran, aber man erträgt es nicht. Man begreift es nicht. Dann findet man eines Tages doch die Gründe. Es sind nicht die richtigen. Aber einerlei, nun begreift man das Unbegreifliche. Verstehst du? Zeit gehört natürlich dazu, viel Zeit. Aber nach Jahr und Jahr, da richtet sich das Vergangene nach den Gründen. Man hat alles vergessen, oder vielmehr man hat ein Bild, ein Panorama, einen Prospekt davor aufgestellt. Was dahinter ist ... Also deshalb hatte ich Freddy vergessen.“

Er hört endlich auf zu sprechen. Schlägt mit der Hand durch die Luft. Zieht die Schultern hoch und sieht seine Frau an.

Jetzt erst sieht er sie wirklich. Mein Himmel, wie alt mag sie sein? Zehn Jahre ist es alles her. Vierzig also vielleicht. Das ist doch nicht zu alt. Vielleicht ist sie auch schön? Er kann es nicht beurteilen. Er muß mit der Erinnerung kämpfen. Die fälscht ja wohl. Die Linie von den Schläfen zum Kinn zum Beispiel ist doch noch unzerstört. Die Stirne glatt und kindlich wie früher, die Augenbrauen zwei schwungvolle Bogen. Echt? Einerlei. Aber die Lippen sind auch gemalt. Der Mund schwingt nicht mehr mit.

„Entschuldige“, beginnt er wieder, „ich rede da die ganze Zeit nur von mir. Komm, setzen wir uns. Hier. Nein, du aufs Bett. Ich werde einen Hocker nehmen. Laß dich mal anschauen. Wie lange sahen wir uns nicht? Zehn Jahre? Warum kamst du eigentlich nie? Wie? Ich wollte nicht? Oder, nein — du? Also gut. Ja, da bist du also.

Verändert? Nein, eigentlich nicht. Aber vielleicht doch? Natürlich, die Haare. Richtig, das trägt man jetzt. Halblang, mit Locken im Nacken. Ich habe manchmal die Frauen von Patienten gesehen. Nein — Alice hatte wohl noch lange Haare. Sie hat auch Naturlocken. In Zeitschriften habe ich es auch gesehen. Nur begreifen kann man’s erst, wenn man es sieht.“

Er streicht mit der Hand vorsichtig über die Locken im Nacken, hält Henriette, wie er es vom Gespräch mit Troplowitz gewohnt ist, an der Schulter fest, sucht ihren Blick zu fangen.

Aber sie sieht ihn nicht an, sondern das lebensgroße Bild von früher, die ölgemalte Fotografie mit dem feldgrau überzogenen Kürassierhelm, den Orden, dem überflüssigen Säbel und dem kleinen Schnurrbart über den lächelnden Lippen.

Dahl läßt Henriettes Schulter los und dreht sich langsam um. Er steht auf und besieht sein Bild nun auch aufmerksam. „Ja — wir haben uns doch verändert“, sagt er freundlich, „es ist nicht mehr dasselbe. Es ist vorbei. Lassen wir das.“

Henriette schüttelt den Kopf. Sie begreift nun gar nichts mehr. Sie weiß nicht mehr, was war und was nicht war, was lebt und was tot ist.

„Du mußt mir verzeihen“, sagt sie plötzlich. Das ist ihr im Gedächtnis geblieben. Das wollte sie sagen. Das sagt sie, obwohl es nun gar nicht mehr paßt.

„Verzeih mir. Es war so merkwürdig. Ich begreife es selber nicht mehr.“ Sie meint die Sache mit Wolfgang.

Dahl ist noch immer in die Betrachtung des Bildes versunken. „Nein, laß das“, sagt er flüchtig und leise. „Es ist vorbei. Wie die Kürassiere, die Orden, die Säbel. Man hat das mal getragen. Man wünschte sich das so. Es sah hübsch aus. Es war elegant und angenehm. Man wußte ja nicht, was dabei herauskam. Krieg aus Orden und Uniformen und stumpfen Säbeln, aus hohen Lackstiefeln und hohen Leidenschaften? Oder —?“

„Nein, ich hätte es nicht getan“, klagt Henriette verzweifelt. „Oder hätte man es doch getan? Konnten wir gar nichts anderes tun?“ schließt Dahl für sich.

Er steht jetzt am Fußende der Betten. Seine Hände gleiten über das glatte helle Holz. An was erinnert das nur? Wo ist er nur? Diese großen Ehebetten aus Kirschholz, die hellblauen Samtvorhänge, die dreiteilige Spiegeltoilette, die großen Hocker, die glatten Kleiderschränke. Er kennt das doch alles, obwohl dies Zimmer noch nicht eingerichtet war, als er zum letztenmal zu Besuch kam.

Henriette hat ihre Fassung schon wiedergewonnen. „Schön — nicht?“ lacht sie und legt ihre Hand auf Alfred Dahls Hand. „Ja, es ist alles genau so, aber es ist nicht dasselbe. Euer Schlafzimmer in Jedelbach steht noch unangerührt. Ich habe es nachbauen lassen beim selben Tischler in Breslau. Ganz genau. Ja, ich kannte es ganz gut. Ich war doch oft oben. Einmal gleich im Anfang, als ich sonst nur die Küche kannte und den Flur und — später manchmal, als deine Frau tot war. Nein, sonst durfte niemand hinein. Aber ich war manchmal drin. Da hat uns niemand gesucht.“

Wahrscheinlich würde sie noch lange weiterreden. Aber Alfred Dahl hält ihr den Mund zu. „Still“, flüstert er, „still. Genug. Wir wollen das nicht ausplaudern.“

Er zieht ihr vorsichtig das Kleid von den Schultern, so daß es zu Boden fällt, und legt sie ins Bett. Er löscht die Lichter bis auf die kleine Nachttischlampe, zieht sich auf dem Bettrand sitzend aus. Er kriecht zu ihr unter die Decke, hält sie in seinen Armen. Es ist nicht so schön, wie er geträumt, nicht so schrecklich, wie er gedacht hatte. Es ist sehr merkwürdig, eine fremde ältere Dame zu umarmen, in einem Bett, das nicht seines ist und doch genau wie seines von früher. Hier zu liegen, während oben in Jedelbach das gleiche Zimmer dunkel ist und wahrscheinlich modrig riecht.

Einmal geht die Gartenpforte, kommen leichte Tritte die Treppe herauf, flüstern zwei. Dahl fährt zusammen. „Der Junge“, flüstert er, „was macht denn der Junge? Wollen wir nicht dem Jungen guten Tag sagen?“

Aber jetzt hält ihm Henriette den Mund zu. „Nein, nein“, sagt sie, „morgen! Jetzt laß ich dich nicht. Jetzt halt ich dich. Jetzt habe ich dich.“

Aber wenn er auch den Kopf wieder auf die Kissen legt, sie hat ihn doch nicht. Seine Gedanken wandern schon wieder durch leere Zimmer und leere Jahre. Die Erinnerungen überwältigen ihn. Die Toten leben, zerren ihn von Henriette weg. Er muß mit ihnen gehen.

Er läßt sie langsam los, liegt starr, ein Gespenst, eine blasse Larve, eine schlechte Nachahmung Dahls in dem nachgeahmten Zimmer.

Zehn Jahre, zehn Tage

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