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Man erfährt, was für ein Kerl Troplowitz ist

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Doktor Troplowitz muß sich von seiner Frau sagen lassen, daß er noch ungenießbarer ist als das Anstaltsessen. Er ißt mit zusammengezogener Stirn, verkniffenen Lippen, preßt die Fingerknöchel gegen die Schläfen, massiert den kurzen dicken Nacken, springt schließlich fluchend auf, um seine englische Pfeife zu stopfen, und raucht dicke Wolken zum Fenster hinaus.

Frau Troplowitz räumt das Geschirr in den großen Flur (wo es der Anstaltsdiener abholt) und stellt sich neben ihren Mann ans Fenster.

Ob er den Geheimrat Hellwig denn wirklich so unerträglich findet?

Ja!

Ob er denn eine Anstalt weiß oder sonst irgendeine andere Stelle, wo er mit nur russischem Examen Geld verdienen kann?

Nein!

Ob er im Gegensatz zu ihr die Kraft hat, die Hunger- und Frostjahre von 1918 bis 1924 zu wiederholen?

Antwort: Achselzucken, heftiges Schnaufen, Riesendampfwolken.

Außerdem: Ob es nicht ganz nützlich ist, daß jemand die sechzig Patienten vor den größten Dummheiten des Geheimrats schützt?

Nein: Wie der Kommandierende im Krieg seinen Stabschef hielt, der seine Dummheiten zu verhindern hatte, so hält und bezahlt der Anstaltskommandierende den Oberarzt. Das ist die Ordnung der Welt.

Also um was geht es diesmal? Der Malariatod der Frau Told?

Verschmerzt!

Die Entmündigung des Schauspielers Berger?

Unvermeidlich, obwohl man die Erben noch jetzt lachen hört.

Also doch wieder Dahl?

Keine Antwort.

„Also was?“

„Ein Brief der Tochter, die ihn befreien will. Kennst sie ja. Sitzt in Hirschberg, dreiundzwanzig Jahre alt. Wartet. Sie denkt, er kommt, weil sie wartet. Schreibt: Hast genug gebüßt. Denkt, weil sie recht hat, muß was zu machen sein. Hat recht, aber das nützt nichts.“

Frau Troplowitz nickt. Es ist nichts weiter zu fragen. Sie haben Dahls Schicksal genug hin und her verhandelt. Sie weiß, daß der Baron entweder als Irrer oder als Mörder zu gelten hat. Entläßt man ihn hier, so verfällt er dem Zuchthaus. Verfällt er dem Zuchthaus, dann wird er bestimmt verrückt. Das Irrenhaus hat einen Ausgang ins Zuchthaus, das Zuchthaus einen ins Irrenhaus.

Sie setzt sich aufs Fensterbrett, beugt sich weit nach hinten, reckt sich, stöhnt. Es tut gut, daß alles auf dem Kopf steht. Die Häuser in den dunkelblauen Abendhimmel zu fallen suchen. Mitsamt den dienstfreien Wärtern, die einen kleinen Skat im Hof arrangieren, Mundharmonika spielen oder rauchend in den winzigen Vorgärten der Wärterbaracken herumsitzen.

Als sie sich wieder aufrichtet, ist Troplowitz verschwunden. Sie sieht erschrocken in der Ecke neben dem Klavier nach: das Schachspiel ist fort. Er ist also zu Dahl gegangen. Sie klappt den Klavierdeckel zurück, klimpert unentschlossen. Fühlt dabei, wie ihr breites dämmeriges Gesicht wieder heller wird. Vor dem Unvermeidlichen fürchtet sie sich nicht. Es kann nichts Schlimmeres geschehen, als daß sie beide wieder ihr kleines Behagen einbüßen. Höchstens hätte sie ihrem Mann noch gern gesagt, daß er es nicht um etwas ganz Aussichtsloses aufs Spiel setzen soll. Aber einerlei.

Sie setzt sich und fängt an, eine Tokkata von Bach zu hämmern. Streng, verbissen und sauber.

Im schweren Frauenhaus schreit eine Frau. Es ist Frau Breise. Ihr Mann ist um diese Stunde bei Verdun gefallen. Sie schreit und — Frau Troplowitz weiß es — wirft ihren Kopf wie eine Glocke hin und her. Dann knallt ein Fenster zu. Unheimliche Stille, in die viele Ohren hineinhorchen.

Zehn Jahre, zehn Tage

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