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2. Unterscheiden als Prozess der Abgleichung: Gleichsetzungen zur Vereinfachung der Orientierung
ОглавлениеMusterbildungen im Unterscheiden schließen Abgleichungen und Abgleichungen Gleichsetzungen ein. Bei Gleichem entfällt neuer Orientierungsaufwand, die Orientierung wird vereinfacht. Seit Leibniz geht man davon aus, dass es nichts Gleiches gibt, sondern dass dort Gleiches erscheint, wo man mit dem Unterscheiden aufhört (principium identitatis indiscernibilium).21 Es hängt also vom Unterscheiden selbst ab, ob etwas als gleich gilt oder nicht. Das »Gleichsetzen und Zurechtmachen«, notiert Nietzsche, »ist der Thatbestand, nicht die Gleichheit (– diese ist vielmehr zu leugnen –)«.22 Gleichsetzung beruht ihrerseits auf Vergleichung. Und Wittgenstein bemerkt: »Nimm nicht die Vergleichbarkeit, sondern die Unvergleichbarkeit als selbstverständlich hin.«23
Zum Abgleichen von Anhaltspunkten einer Situation (auch von Daten in wissenschaftlichen Erhebungen) muss man nicht schon vorab einen übergeordneten Begriff oder ein leitendes Kriterium des Vergleichs (tertium comparationis) haben; beide können sich in der Orientierung erst herausstellen. Das geschieht so, dass man zwischen Anhaltspunkten oszilliert (die Bäume dort, Birken und Buchen, stehen in einer auffallend geraden Reihe, sie könnten einen Weg markieren, das sind Alleebäume; Messwerte verteilen sich auf dem Bildschirm so, dass sie eine Parabel oder eine Hyperbel bilden könnten; meine Freundinnen reagieren auf diese Geschichte so, meine Freunde so, gibt es da geschlechtstypische Unterschiede?). Die menschliche Orientierung geht zumeist weniger deduktiv und induktiv als abduktiv im Sinn von Peirce vor. Erscheinen Anhaltspunkte in etwas gleich, kann man sich in dieser Hinsicht an ihnen gemeinsam orientieren. Man kann nun vorläufig von Weiterem absehen, die Orientierung wird beschleunigt.24
Das Vergleichen und Gleichsetzen hat Spielräume (auch wenn kein Ei einem andern gleicht, kann man Eier von Legehennen gleichermaßen vermarkten; aber man kann dann wieder unterscheiden, ob die Hennen in Käfige gesperrt sind oder frei auf der Wiese herumlaufen dürfen). Spielräume sind metaphorische Räume, in deren Grenzen etwas, hier das Vergleichen, ›frei spielen‹, d. h. etwas so oder anders unterscheiden oder gleichsetzen kann. Man kann sich, aus den unterschiedlichsten Gründen, auch scheuen oder weigern, etwas mit etwas zu vergleichen (im Extrem die Verbrechen der deutschen Nationalsozialisten mit irgendetwas anderem). Zuletzt geht es, so Wittgenstein, darum, ob etwas mit etwas ›zu tun hat‹,25 und das kann in jeder Situation und für jede Orientierung in ihr etwas anderes sein (Legehennenbatterien mit Tierethik, Nationalsozialisten mit jetzigen Populisten). Man kann Gleichsetzungen in Familienähnlichkeiten zurücknehmen, wie Wittgenstein und auch schon Nietzsche sie nannte.26 Nietzsche hat sie philosophisch an »Sprach-Verwandtschaften«, Wittgenstein an »Sprachspielen« vorgeführt, aber z. B. auch an Photos seiner Geschwister, indem er deren Gesichtszüge schrittweise ineinander übergehen ließ; sie glichen einander in jeweils anderen Zügen, waren im Ganzen aber nicht gleich.27 Beim Abgleichen führen die einen Anhaltspunkte zu anderen Anhaltspunkten, die anderen zu wieder anderen, ohne dass man alle auf gemeinsame Begriffe bringen könnte und müsste.
Sosehr Nietzsche und Wittgenstein auf der prinzipiellen Unvergleichbarkeit und den Spielräumen, wenn nicht der Willkür des Gleichsetzens bestanden, so sehr war ihnen die Unumgänglichkeit des Vergleichens bewusst. Nietzsche sah sich in einem »Zeitalter der Vergleichung«, in dem man sich, nachdem der Halt an Religion und Metaphysik zunehmend unglaubwürdig wurde, in einer »Cultur der Vergleichung« zu orientieren suche28; Wittgenstein arbeitete, um sich »nicht durch das allgemeine Begriffswort verführen [zu] lassen«29, methodisch mit Vergleichen. Man kann beim Vergleichen einen Anhaltspunkt oder ein Muster von Anhaltspunkten zum Maßstab für andere nehmen, also etwas von etwas unterscheiden, das man schon als feststehend betrachtet (›schau, so eine Klappbrücke habe ich schon in Holland gesehen‹). Ein bekannter Anhaltspunkt wird zum Vergleichsgesichtspunkt für einen neuen. Solche Vergleichsgesichtspunkte kann man aber auch wieder in Frage stellen (›diese hier, eine Wippbrücke, erinnert mehr an eine Schaukel‹) – oder auch auf ihnen bestehen (›Klappbrücke ist Klappbrücke‹). Das heißt: Beim Vergleichen kann sich das Unterscheiden selbst festlegen oder in Bewegung halten, je nachdem, wie es in der Orientierung weiterkommt. Ergiebige Vergleichsgesichtspunkte sind wiederverwendbar, können zu Erkenntnis- und Differenzierungsgewinn führen (der eine Klappbrückentyp kann hier, der andere dort von Vorteil sein), aber auch zu Stereotypen erstarren (›Holland, das Land der Klappbrücken‹).30
Durch Gleichsetzungen sieht man von Ungleichheiten ab, macht aber zugleich auf sie aufmerksam. Das haben besonders Nietzsche und Luhmann hervorgehoben:31 Unterstellt man politisch die Gleichheit aller Menschen und fordert ihre Gleichbehandlung, treten desto mehr Ungleichheiten hervor. Der Gleichheitsbedarf kann darum auf verschiedenen Feldern der menschlichen Orientierung sehr unterschiedlich sein, anders z. B. in den Medien, die immer Neues, also Ungleiches berichten müssen, als im Recht, wo streng auf Gleichbehandlung geachtet werden muss, anders in der Wissenschaft, soweit sie allgemeine Gesetzlichkeiten eruieren will, als in der Wirtschaft, in der Erziehung, im Sport oder in der Kunst, wo Vergleichen Konkurrenzen anregt und gezielt Ungleichheiten hervorbringt.