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4. Alternativität des Unterscheidens: Entscheidungen zwischen Unterscheidungen und zwischen ihren Seiten

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Das zweiseitige Unterscheiden, wie es Spencer Brown und Luhmann vor Augen haben, bietet sich an, wenn etwas bestimmt und bezeichnet (marked) und dabei von anderem abgesehen wird (unmarked space). Doch Unterscheidungen sind nicht eo ipso zweiseitig. Wege können sich nicht nur in einen rechten und einen linken gabeln, sondern außerdem in halbrechter und gerader Richtung weiterführen. Und man könnte auch ohne Weg über das Feld weitergehen. Bei Farben, Tönen, Geschmäcken und Gefühlen kann man viele Nuancen unterscheiden, ohne dass man Begriffe für sie hätte. In perspektivischen Gemälden zeigen sich Unterschiede in kaum benennbaren Kontrasten wie Abstufungen der Größenverhältnisse und Abschattungen der Helligkeit und Deutlichkeit.37 Wenn die Orientierung durch Unterscheiden mit vielfältigen Alternativen zugleich umgehen kann, darf man sich philosophisch nicht einfach an zweiseitige, logisch klar definierbare Unterscheidungen halten, sondern muss auch hier unterhalb der Begriffe bei bloßen Anhaltspunkten der Orientierung ansetzen. Gemeinsam aber ist allem Unterscheiden, dass es Alternativen eröffnet, die Möglichkeit, jeweils auf die andere Seite begrifflicher Unterscheidungen oder zu anderen Anhaltspunkten überzugehen (›sehen wir die Lage einmal so‹). Über Alternativen aber muss laufend entschieden werden. ›Ent-scheidung‹ heißt eine Scheidung so wieder aufheben, dass man in seiner Orientierung weiterkommt.

Die Nötigung zum Entscheiden zwischen Möglichkeiten gehört zum Unterscheiden schon vor dessen Bewusstheit (beim Durchqueren unwegsamer Gelände muss man jeden Schritt richtig, aber ohne lange Überlegung setzen). Im Prozess der Orientierung, der Auslotung einer Situation auf Möglichkeiten hin, in ihr erfolgversprechend zu agieren (beim Gehen im Berg nicht abzustürzen), wird stets unter Ungewissheit unterschieden und entschieden. Was geht und nicht geht, zeigt sich beim Vorangehen. Das Unterscheiden, dem man dabei nur schwer ein Subjekt zuschreiben kann, erkundet die Orientierungssituation, die Entscheidung verändert sie, schafft schon eine neue Orientierungssituation und mit ihr auch wieder neue Ungewissheit. So muss man immer neu unterscheiden und entscheiden, mit welchen Unterscheidungen und Entscheidungen man am ehesten weiterkommt. Dabei schränken einmal getroffene Unterscheidungen und Entscheidungen die Spielräume wohl ein, in denen es weitergehen kann, geben aber nicht schon vor, mit welchen Unterscheidungen und Entscheidungen das am besten geschieht (man ist mit einem Unternehmen gestartet und muss nun Wege finden, sich mit ihm auf einem überraschend veränderten Markt zu behaupten). Denn an Unterscheidungen und Entscheidungen kann ganz unterschiedlich angeschlossen und über geeignete Anschlüsse an sie muss darum jeweils neu entschieden werden (man tauscht im Unternehmen Programme oder Personen aus, um weiterzukommen). Nur so kann sich der Orientierungsprozess für eine unbestimmte Zukunft offenhalten. Ein Modell dafür ist die Kunst. Sie ist frei am Anfang, dann lässt jede entschiedene Formung nur noch solche zu, die zu dieser passen, doch dabei bleiben immer noch alternative Möglichkeiten.38

In der menschlichen Orientierung ist der Spielraum der Entscheidungen für Unterscheidungen dennoch limitiert: durch Faktoren wie individuelle Charaktere, Vorlieben und Interessen, eingespielte Gewohnheiten und Routinen, sprachliche und kulturelle Standards, soziale Normen und juristische Gesetze, Autoritäten auf verschiedensten Feldern usw. Sie ersparen jeweils neue und eigene Orientierungen und damit neue Unterscheidungen und Entscheidungen. Denn die Kapazitäten der Orientierung können sich unter Menschen zwar erheblich unterschieden, sind im Prinzip aber begrenzt. Werden sie überschritten, wird das Unterscheiden und Entscheiden unter Ungewissheit überfordert, tritt Desorientierung ein, kommt Unruhe, Angst, wenn nicht Panik und Verzweiflung auf (›Epidemie – die Kinder können nicht zur Schule, wir können nicht zur Arbeit, die Großeltern vereinsamen, was jetzt?‹). Wissenschaften können gezielt Orientierung geben, weil sie das Unterscheiden gezielt limitieren: durch die inhaltliche Abgrenzung von Forschungsfeldern und durch methodische Regelungen der Anschlüsse von Unterscheidungen aneinander. Sie erhöhen die Zielgenauigkeit des Unterscheidens, schränken aber auch dessen Fokus ein. Forschungseinrichtungen, aber auch Organisationen wie Unternehmen, Banken, Ministerien, Parlamente, Parteien, Verbände, Gerichte usw. ermöglichen planvolles Handeln, indem sie sich auf bestimmte Parameter des Unterscheidens und Prämissen des Entscheidens festlegen.39 Werden die Möglichkeiten des Unterscheidens und Entscheidens auf diese Weisen eingegrenzt, steigt die Orientierungssicherheit, und der Zeitdruck entspannt sich. Brechen jedoch solche Ordnungen ein, wird das rasch als ›Chaos‹ erlebt.

Orientierung und Ander(s)heit

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