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9. Unterschied als Produkt: Denken von Begriffen, Identitäten und Entitäten

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In Sprachen liegen Unterschiede als Produkte von Unterscheidungen vor. Sie erscheinen dann ihrerseits als Gegebenheiten, werden als an sich bestehende angenommen. Sie gelten als selbstverständlich, was sie keineswegs sind, wie man heute an lange fraglosen Unterschieden wie zwischen Herrschern und Untertanen, Reichen und Armen, Weißen und Schwarzen, Männern und Frauen leicht sehen kann. In scheinbar gegebenen Unterschieden, die sich jedoch in der Situation einer Zeit ergeben, wird von den Prozessen des Unterscheidens und deren Motiven abgesehen; die Produkte werden von den Prozessen gelöst. Unterschiede scheinen dann vorhanden und lassen sich als lehrbares Wissen in definierbare Ordnungen (z. B. biologische, ethnologische, soziologische, kulturologische) bringen; auf sie werden soziale und politische Ordnungen aufgebaut (z. B. im Zweiten Deutschen Kaiserreich ein Männer- und Klassenwahlrecht) und aus ihnen Legitimationen abgeleitet (z. B. zur Kolonialisierung anderer Länder).

Ein Produkt des Unterscheidens ist auch die Selbstunterscheidung ›des Denkens‹, das in der europäischen Philosophie weitgehend als gegeben vorausgesetzt wurde. Es wurde seit der griechischen Antike in einen asymmetrischen Gegensatz zum Wahrnehmen gesetzt, um vom Zeitlichen ein Zeitloses, vom Veränderlichen ein Seiendes, vom Werden ein Sein, vom Haltlosen einen festen Halt der Orientierung zu unterscheiden (Abschn. 1). Das Denken wurde selbst zu einem zeitlosen Akteur gemacht (Abschn. 6). Descartes verwendete die Figur des Selbstbezugs, die man in der Antike noch mied, weil man infinite Regresse, d. h. unendliche Entgrenzungen fürchtete, um das Denken sich seiner eigenen und nun einzig gewissen Existenz versichern zu lassen; sie sollte das Sicherste sein, das es gibt. Als immer deutlicher wurde, dass das, was das Denken unterscheidet, nicht schon an sich besteht, und auch nicht das Denken selbst – nach der Kritik der reinen Vernunft ist nur wirklich, was begrifflich fassbar und sinnlich wahrnehmbar ist, das Denken ist aber per definitionem nicht sinnlich wahrnehmbar –, übertrug Kant die Asymmetrie der Unterscheidung von Denken und Wahrnehmen in die von Spontaneität und Rezeptivität. Das Denken war nun, was immer es auch sonst sein mochte, der Akteur schlechthin. Darauf konnte der Deutsche Idealismus seine Systeme bauen. ›Das Denken‹ schafft Begriffe und aus seinen Begriffen Welten. Aber es sind gedachte Welten, Welten ›im‹ Denken.

Bei der Bildung von Begriffen überhaupt wird in Unterscheidungen deren alternative Seite weniger abgewertet (Abschn. 5) als abgeblendet oder, wie bei Hegel, dialektisch aufgehoben. Aus zwei- oder mehrstelligen Unterscheidungen, die Alternativen offenhalten, werden einstellige Begriffe, die durch weitere einstellige Begriffe definiert werden können. So wird die Bedeutungsvielfalt alltäglicher Unterscheidungen gezielt ausgeschlossen, die Entscheidbarkeit im Unterscheiden wird invisibilisiert, die Orientierung gefestigt: Es kommen Identitäten, Entitäten und Qualitäten aller Art zustande, auf die man sich dauerhaft beziehen kann. Gefestigte oder, nach Nietzsches Abhandlung Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, aus flüssigen Metaphern erstarrte Begriffe verführen dazu, sie ontologisch zu hypostasieren, darunter auch das Denken selbst. Ordnungen aus physikalischen Entitäten wie Kräften, Energieformen, Schwingungen, Feldern oder Quanten, die nicht unmittelbar zu beobachten sind, geben der Orientierung über Naturprozesse einen kaum noch bezweifelbaren Halt; für soziale und politische Ordnungen wie Nationen, Staaten und Herrschaftsformen, die ebenfalls auf dem Weg der ontologischen Hypostasierung entstehen, kann man kämpfen und, wenn es zum Äußersten kommt, sogar sein Leben opfern.

Nachdem man im Zug des 19. Jahrhunderts gegen die Idealisierung des Denkens, seiner Begriffe und seiner Ordnungen zunehmend skeptisch geworden war, brach Nietzsche vollends mit ihr. Die Entidealisierung und Wiederverflüssigung, die er betrieb, hält bis heute an. Die »Gegenwärtigen und Zukünftigen in der Philosophie«, schrieb er, sind »allesamt Sensualisten«, »nicht der Theorie nach, aber der Praxis, der Praktik …«66 Philosoph*innen arbeiten weiter an begrifflichen Ordnungen, doch zumeist ohne noch an die absolute Zeitlosigkeit der Ordnungen eines ›reinen‹ Denkens zu glauben. Zugleich zeigt sich, wie schwer Denken als solches fassbar ist. Es geschieht, ohne dass sich ein Akteur ausmachen lässt, läuft unaufhörlich weiter, lässt sich nicht aus- und einschalten, es kann, im Schlaf oder im Koma, verschwinden und dann wieder erwachen. Man verfügt über das Denken noch weniger als über das Gedächtnis, auf das es sich beim Gebrauch von Sprachen und Zeichen stützt; ein Gedanke kann einem einfallen und wieder verschwinden. Achtet man auf das Denken selbst, unterscheidet man es als Bewusstsein und das, was da unterscheidet, als Selbstbewusstsein, so dass es sich selbst bestätigt; doch das sind nur Selbstunterscheidungen des Denkens, nichts, was sich ohne Weiteres beobachten ließe. Auch das ›man‹, von dem ›ich‹ hier spreche, ist eine grammatische Hilfsgröße, die den Schein erweckt, als wisse man, worum es sich handelt. Aber man kann sich anhand solcher Hilfsgrößen orientieren. Auch was wir ›Denken‹ nennen, ist eine Hilfsgröße unserer Orientierung.

Der alltägliche (deutsche) Sprachgebrauch gibt, auch wenn er grammatisch zu Aktionen Akteure assoziiert und so auch zu den Vorgängen des Denkens ein denkendes Subjekt (Abschn. 6), ein anderes Bild vom Denken: Er lässt ein weites Spektrum vielfältiger Funktionen des Denkens erkennen. Es reicht vom bloßen Aufmerken (›denke daran‹) über ein Glauben (›ich denke, es verhält sich so‹), Vorstellen (›denke dir Folgendes‹), Phantasieren (›er hat sich da etwas ausgedacht‹), Meditieren (›darüber muss ich in Ruhe nachdenken‹), Erinnern (›denken wir einmal zurück‹), Berücksichtigen (›bedenke, dass da auch andere betroffen sind‹), Einfühlen (›sie kann sich da gut hineindenken‹) und willentliches Beabsichtigen (›ich gedenke so zu verfahren‹) bis zum methodischen wissenschaftlichen Denken (›lass uns das Schritt für Schritt durchdenken‹).67 Das Letztere hat die Philosophie zum Maßstab alles übrigen Denkens gemacht. Dabei gehen weitere charakteristische Unterscheidungen und Nuancierungen des Denkens verloren, etwa, dass man ›klar‹ oder ›geheimnisvoll‹, ›zielführend‹ oder ›umwegig‹, ›tief‹ oder ›oberflächlich‹, ›traditionell‹ oder ›innovativ‹, ›konform‹ oder ›abweichend‹, ›idealistisch‹ oder ›nüchtern‹ denken kann.

In jedem Fall ist Denken nicht unmittelbar beobachtbar. Man unterstellt es anhand gewisser Anhaltspunkte. Am schärfsten hingesehen hat hier wiederum Wittgenstein.68 Nach ihm ist Denken »im wesentlichen eine Tätigkeit des Operierens mit Zeichen [:] Diese Tätigkeit wird mit der Hand ausgeführt, wenn wir schreibend denken; mit dem Mund und Kehlkopf, wenn wir sprechend denken; und wenn wir denken, indem wir uns Zeichen oder Bilder vorstellen.« Und dabei kann man »kein Agens, das denkt, angeben. Wenn du dann sagst, daß in solchen Fällen der Geist denkt, dann würde ich deine Aufmerksamkeit lediglich auf die Tatsache lenken, daß du eine Metapher gebrauchst, daß der Geist hier in einem andern Sinn ein Agens ist als dem, in dem man von der Hand sagen kann, daß sie das Agens beim Schreiben ist.«69 Was man ›Denken‹ nennt, ist ein bisher undurchschaubarer »Mechanismus«, bei dem, sobald wir ihn »nachträglich […] beschreiben« wollen, »alle die vielen feineren Vorgänge […] verloren gegangen sind.«70

Diese Vorgänge haben dennoch gemeinsam, dass die menschliche Orientierung durch sie Distanz zur unmittelbar wahrgenommenen Situation gewinnt und so versuchsweise ›über sie hinausblicken‹ kann, etwa, um Pläne für anstehendes Handeln durchzuspielen. Dazu muss Denken weder ›transzendent‹ noch ›a priori‹ noch nach logischen Regeln geordnet sein. Es schafft, so wie wir es erleben, lediglich Spielräume gegenüber der jeweiligen Situation. Als ungeordnetes, ›schweifendes‹ Denken kann es auf ›Einfälle‹ kommen, als ›überfliegendes‹ Denken Anhaltspunkte für mögliche Ordnungen sammeln. Es ist stets Teil eines umfassenderen Orientierungsprozesses und dabei offen für Alternativen und Veränderungen.

Wittgenstein ist, um den ontologischen Hypostasierungen von Begriffen zu Entitäten zu entgehen, auf die Grundstimmungen der menschlichen Orientierung, Beunruhigung und Beruhigung71, zurückgegangen, fragte, warum die »Festsetzung einer Regel […] uns beruhigt, nachdem wir so schwer beunruhigt waren. Was uns beruhigt, ist offenbar, daß wir ein System sehen, das diejenigen Gebilde (systematisch) ausschließt, die uns immer beunruhigt haben, mit denen wir nichts anzufangen wußten und die wir doch respektieren zu müssen glaubten.«72 Beruhigung entsteht in der menschlichen Orientierung durch dauerhafte und übersichtliche Ordnungen aus Identitäten und Entitäten, die ihre immer möglichen Alternativen überblenden. Sie werden durch Verallgemeinerungen und Verknüpfungen von Unterschieden möglich.

Orientierung und Ander(s)heit

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