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3. Unterscheiden als zeitlicher Prozess: Zeit der Neuorientierung

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Das Unterscheiden als Prozess der Abgrenzung und Abgleichung braucht Zeit, und die menschliche Orientierung kann und muss sich auf die Zeit einstellen und mit ihr mitgehen. Die Zeit war jedoch stets eines der schwierigsten Probleme der Philosophie. Den berüchtigten Gegensatz zwischen Parmenides und Heraklit – Sein schließt Zeit aus / alles Sein ist im Fluss, also Werden, also Zeit – hat Aristoteles so aufgelöst, dass er Zeit als Eigenschaft von Bewegungen und diese als wechselnde und damit wiederum zeitliche Eigenschaften von bleibendem Seienden unterschied; feststellbar würden Bewegungen durch die Abgrenzung eines früheren und eines späteren Zustands des Seienden. So wurde zur Bestimmung der Zeit zirkulär die Zeit selbst verwendet. Außerdem entstand das Problem, wie Zeit einerseits eine Eigenschaft von Bewegungen von Seienden und andererseits das sein kann, worin oder wonach Bewegungen verschiedener Seiender verglichen werden.32 Darüber hinaus ist das Sein der Zeit selbst ist nicht feststellbar, weil sie – schon nach Parmenides – stets zugleich ist, noch nicht und nicht mehr oder, wie es dann Aristoteles zuspitzt, das Jetzt immer zugleich dasselbe und ein anderes ist.33 Sagt man ›jetzt‹, ist das Jetzt, von dem man spricht, schon vergangen. Die Paradoxien oder Aporien der Zeit haben sich trotz immer neuer Versuche bis ins 20. Jahrhundert nicht auflösen lassen, bis Luhmann sie schließlich kreativ für seine Theorie nutzte – durch die Analyse des Begriffs der Unterscheidung selbst im Anschluss an Spencer Brown.

Sie argumentieren so: Unterscheidung hat, als Abgrenzung oder Form, zwei Seiten. Mit der Unterscheidung stehen beide Seiten gleichzeitig, also ohne zeitliche Unterscheidung, zur Verfügung; die Unterscheidung (distinction) erscheint zeitlos. Will man mit ihr aber etwas unterscheiden, also bestimmen und bezeichnen (indication), muss man auf eine ihrer beiden Seiten gehen (rechts oder links, zutreffend oder unzutreffend, vorher oder nachher), in Spencer Browns Sprache: die Grenze »kreuzen«, die die Unterscheidung zieht. Um eine Unterscheidung zu gebrauchen, muss man also zugleich ihre beiden Seiten im Blick haben und zwischen ihnen hin und her gehen, also einen Prozess vollziehen, der Zeit braucht.34 Geht man vom Prozess des Unterscheidens in der Orientierung aus, wird aus der Aporie ein Argument: Eben dadurch, dass das Unterscheiden zugleich mit Gleichzeitigkeit und Ungleichzeitigkeit arbeitet, wird die Zeit merklich, was immer sie auch sei oder wozu sie in welcher Weise gehören mag. Der Zirkel, die metaphysischen Versuchungen und ihre Paradoxien verschwinden. Phänomenologisch zeigt sich die Zeit beim Unterscheiden; sie läuft beim Unterscheiden als Zeit des Unterscheidens mit, ohne dass sie selbst bestimmt oder bezeichnet werden müsste.35 Unterschieden wird sie von der Unterscheidung erst, wenn sie nicht mehr als deren Prozess, sondern als Produkt einer besonderen Unterscheidung betrachtet wird.

Dann kann sie zum festen Anhaltspunkt der Orientierung werden – indem sie durch Uhren gemessen und damit klar feststellbar wird. Sie erscheint dann als etwas, das es gibt wie anderes auch, als schlicht Vorhandenes. Darüber vergisst man jedoch, dass die Zeitmessung zum einen weiterhin Zeit braucht und zum anderen die Maßstäbe, nach denen sie gemessen wird (nach Aristoteles der Umlauf der Gestirne, heute die regelmäßige Frequenz elektromagnetischer Wellen bei den Schwingungen besonderer Atome) sich ihrerseits in der Zeit verändern, also wiederum ›ihre Zeit haben‹. Außerdem stehen in der menschlichen Orientierung der durch Uhren gemessenen Zeit weiterhin andere Arten des Zeit-Erlebens gegenüber (wie circadiane biologische Rhythmen oder das nachträgliche Empfinden von Kurzweiligem als lang, von Langweiligem als kurz).36 So ist die gemessene Zeit nur eine Unterscheidung der Zeit unter anderen.

In schwierigen Orientierungssituationen steht das Unterscheiden zudem unter hohem Zeitdruck: Um eine Situation zu bewältigen und Schaden abzuwenden, muss unter ihren möglichen Anhaltspunkten schnell unterschieden werden. Unterschiedliche Unterscheidungen können die weitere Orientierung aber gänzlich anders ausrichten (ist das ein möglicher Weg aus der Krise oder nicht?), wobei die Unübersichtlichkeit der Situation die Wahl unter ihnen schwer machen kann. Umso mehr würde man Zeit zum Unterscheiden brauchen, oft ohne sie zu ›haben‹. Zudem können in der Zeit des Orientierungsprozesses neue Anhaltspunkte für neue Unterscheidungen auftauchen und die bisherige Orientierung umsteuern, mitunter so stark, dass sie als gänzliche Neuorientierung erlebt wird (nach einer heftigen Auseinandersetzung mit dem Arbeitgeber droht Entlassung, da kommt das Angebot zur Teilnahme an einem start-up-Unternehmen, und ›ein neues Leben beginnt‹). Zeit wird am stärksten im Zug solcher Neuorientierungen erfahren und unterschieden: Die Gegenwart wird spürbar Vergangenheit, Zukunft tut sich auf.

Orientierung und Ander(s)heit

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