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VORWORT

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Als ein elementares »Bedürfnis der Vernunft« galt es Kant, sich zu orientieren: physisch im »Gefühl eines Unterschiedes« am »eigenen Subjekt«, das die Himmelsrichtungen richtig bestimmen kann, aber auch geistig im »Raume des Übersinnlichen«, wo tiefe Nacht herrscht, wie er meinte. In jedem Fall sollte man sich selbst orientieren, selbst denken und nicht in womöglich selbst verschuldeter Unmündigkeit verharren. Als Unmündigkeit, Konformismus oder gar Hörigkeit würde man wohl heute noch eine unbedachte Orientierung an Anderen bezeichnen, gegen die sich Kant indirekt gewandt hatte. Dagegen ist etwa ein Jahrhundert später die kritische Orientierung an Anderen zu einem Politikum geworden. So beruft man sich oft auf Rosa Luxemburg, die postulierte, unsere Freiheit sei in erster Linie »die Freiheit des Andersdenkenden«, womit sie auch die Anderslebenden und -liebenden gemeint haben könnte, wie sie heute im Zentrum einer inklusiven »Politik der Differenz« stehen, die alle – einschließlich ihrer unabsehbaren Verschiedenheit – anerkannt sehen will und niemanden ›zurück-‹ bzw. ›draußenlassen‹ möchte. So, hoffen viele, könnte es endlich möglich werden, »ohne Angst verschieden« zu sein bzw. zu bleiben oder zu werden, wie es schon Theodor W. Adorno in seinen Minima Moralia verlangte, ohne damit eine bloße Utopie im Auge zu haben.

Wie auch immer es um die konkreten Realisierungsperspektiven einer solchen Politik bestellt sein mag, sie plädiert gewiss nicht für Fremdbestimmung anstelle der Selbstbestimmung, die Kant als Mündigkeit des Bürgers forderte. Und dennoch suggeriert sie eine früher nicht gekannte Maßgeblichkeit des ›Anderen‹ als solchen und scheint uns ans Herz zu legen, sich an seinem Anderssein zu orientieren. Wäre eine Politik, die jedem in Anbetracht seines Andersseins auf diese Weise gerecht zu werden verspricht, nicht angebracht? Oder sind alle Anderen nicht auf unübersehbare Weise ›anders‹, so dass allein damit, d. h. mit ihrer Alterität, keine ohne Weiteres konkretisierbare Orientierung zu verknüpfen wäre?

Kann oder soll man sich an Anderen orientieren, wenn sie sich auch als ›ganz anders‹ und derart fremd herausstellen können, dass es keinerlei ›Gemeinsamkeit‹ mit ihnen geben zu können scheint? Führen uns solche Fragen womöglich in religiöses Gelände, wo niemand definitiv zu sagen weiß, ob ein ›radikal‹ oder gar ›absolut‹ Anderer überhaupt existiert (wenn nicht im theologisch längst liquidierten ›Himmel‹), ob man ihm je ins Angesicht sehen oder unter die Augen treten kann oder ob es sich letztlich nur um eine gespenstische Vorstellung handelt, die uns vielleicht gewisse ›Ahnen‹ eingeflüstert haben, wie Paul Ricœur zu bedenken gab?

Schon diese Fragen machen deutlich, welch gewaltiges Irritationspotenzial in Begriffen wie Verschiedenheit, Differenz, Ander(s)-heit oder Alterität liegt. In der Gegenwart sind sie zu Leitfragen einer wirkungsvollen Identitätspolitik geworden. Sie soll für Entdiskriminierung sorgen, führt zugleich aber zu neuen Diskriminierungen, weil auch und gerade hier unterschieden werden muss. Desorientiert sie mehr als sie orientiert? Wäre da nicht zu klären, was Orientierung an Ander(s)heit und darüber hinaus Orientierung überhaupt bedeutet und was sie leisten kann? Es liegt nahe, sich dazu an die umfassende Philosophie der Orientierung zu wenden, die Werner Stegmaier 2008 vorgelegt hat. Auf der andern Seite aber muss man prüfen, ob die Andersheit der Anderen oder ihre in begrifflichen Unterscheidungen nicht mehr fassbare ›Anderheit‹ das Sich-Orientieren im Denken, wie Kant es nannte, nicht so irritiert und desorientiert, dass sie damit ›nicht fertig wird‹. Das Ergebnis könnte sein, dass das Einander-ausgesetzt-sein, wie es Burkhard Liebsch zuletzt ausgelotet hat, zu kreativen Neuorientierungen führt, die die aufklärerische Vernunft nicht leisten kann.

Die Philosophie der Orientierung findet wichtige Anhaltspunkte bei Friedrich Nietzsche, Ludwig Wittgenstein und Niklas Luhmann, die Philosophie der Ander(s)heit oder Alterität bei Emmanuel Levinas, Jacques Derrida und Paul Ricœur. Orientierung und Alterität sowie dabei auch diese Autoren produktiv aufeinander zu beziehen, ist noch nicht versucht worden. Das soll in diesem schlanken Buch geschehen. Wir tun das in sechs aufeinanderfolgenden Beiträgen, in denen wir uns schrittweise weiter auf Ansätze des jeweils anderen beziehen und uns von ihnen zu denken geben lassen, ohne eigene dabei sogleich aufzugeben. So differenzieren sich beide Ansätze im Zeichen des andern. Dabei kommen auch Grundfragen des Sozialen und des Politischen ins Spiel. Ausgangspunkt ist das Unterscheiden als solches, die Orientierung durch Unterscheiden. Am Ende steht die offene Frage, wie Normen der Orientierung an Anderen damit zu verknüpfen sind.

Bochum und Greifswald, im August 2021

Burkhard Liebsch und Werner Stegmaier

Orientierung und Ander(s)heit

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