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Einleitung
Orientierung in unübersichtlichen Situationen: Unterscheidung als Prozess und Produkt
ОглавлениеWir orientieren uns, indem wir unterscheiden. Unterscheiden ist eine Orientierungsoperation, die Grundoperation der Orientierung. Orientierung und Unterscheidung sind auseinander zu verstehen.
Unterscheidungen als solche waren in der Antike und im Mittelalter ein großes Thema der Philosophie.1 Im Zug der Verrechtlichung und Demokratisierung der griechischen Stadtstaaten musste man genauer bestimmen, womit man es zu tun hat. Im Mittelalter stand man vor dem zentralen Problem der Unterscheidung eines Unbegreiflichen, Gottes. Als in der Moderne der religiöse Glaube ins Wanken kam, suchte man nach Regeln des Unterscheidens, die absolute Gewissheit gewährleisten sollten. Dabei ging es um Einheit in Hierarchien von Unterscheidungen. Seither kämpft man mit gesellschaftlich befreienden Wirkungen um Differenz und Diversität und entdeckt die Unbestimmbarkeit und Unentscheidbarkeit als Gegengewichte zur Bestimmtheit und Gewissheit. Zentrales Problem ist nun die unfassbare Komplexität der Welt und die Orientierung in ihr. Das komplexeste Organ der Welt, das menschliche Gehirn, erfindet technisch modellierbare Intelligenz ohne das Ziel eines endgültigen Wissens. Man weiß inzwischen, dass man sich immer nur vorläufig durch immer nur vorläufige Unterscheidungen orientieren kann. Orientierung und Unterscheidung rücken in den Mittelpunkt.
Sich zu orientieren heißt, sich in unübersichtlichen Situationen zurechtzufinden.2 Man geht heute davon aus, dass sich die menschliche Orientierung in laufender Auseinandersetzung mit immer neuen Situationen evolutionär entwickelt hat. Entsprechend vielfältig muss sie ihre Möglichkeiten zu unterscheiden differenziert haben. Neuro- und Informationswissenschaften, Psychologie und Soziologie machen viele Unterscheidungen der traditionellen Erkenntnistheorie obsolet, allen voran die Unterscheidung von Denken und Wahrnehmen. Sie sind selbst als Orientierungsentscheidungen in erkenntnistheoretischen Zusammenhängen zu verstehen, die sich auch anders treffen lassen. So kann man hier nicht mit einer abschließenden Theorie rechnen.3
Indem man in Situationen unterscheidet, orientiert man sich. Die Vergewisserung durch Selbstbezug hat eine lange Tradition in der Philosophie. Aristoteles’ Selbstbegründung des Satzes vom Widerspruch folgte in der Moderne Descartes’ Selbstbestätigung des Denkens im cogito sum, Kants Selbstbegrenzung der reinen Vernunft, Fichtes Selbstversicherung der Freiheit und Hegels Selbstentfaltung des Systems der philosophischen Wissenschaften. Nietzsche mit seiner Selbstentlarvung des Philosophierens als Wille zur Macht und Wittgenstein mit seiner Anleitung zur Selbsttherapie des Philosophierens fügten der Selbstvergewisserung die Seite der Selbstverunsicherung hinzu, Gödel bewies die Grenzen der Beweisbarkeit in formalen Systemen, Heidegger verunsicherte entschieden allen Halt an vermeintlich Feststehendem, Luhmann hat mit Spencer Brown das Unterscheiden selbst zum Thema des Unterscheidens gemacht, ohne noch den Selbstbezug als Selbstbegründung zu verstehen.4 Es ist Zeit, sich der Orientierung durch Unterscheiden selbst zuzuwenden.
Nach dem grimmschen Wörterbuch heißt im Deutschen5 ›unterscheiden‹ etwas mit Augen, Ohren und anderen Sinnen ›ausmachen‹, von anderem abgrenzen, z. B. ein Sternbild am Nachthimmel oder ein musikalisches Intervall (lat. discernere), metaphorisch etwas ›auseinanderhalten‹ (ähnliche Konstellationen, Dur- und Moll-Tonarten), von da aus auch etwas bezeichnen, benennen, ›unterteilen‹ (Äpfel) und Nicht-Zugehöriges nach Kriterien ›ausscheiden‹ (Birnen). Ehemals bedeutete ›unterscheiden‹ auch etwas von anderem räumlich trennen (Vögel durch Käfigwände), außerdem etwas hervorheben, betonen, deutlich machen, ausdrücklich festsetzen (ein Gebot) und etwas gegenüber anderem aufwerten (engl. distinguish). Etwas kann aber auch ›sich unterscheiden‹ (eine Farbe von einer andern), und man kann etwas ›in‹ etwas oder jemandem unterscheiden (den warmherzigen Menschen in der strengen Beamtin). Und so kann man auch sich von anderen dadurch abheben, also unterscheiden, dass man bei etwas oder jemandem einen Unterschied macht, wo andere keinen machen oder sehen, sich also selbst durch Unterscheiden von anderen unterscheiden.
All diese Spielarten des Unterscheidens, die in der alltäglichen Kommunikation, wenn auch oft schwer unterscheidbar, im Spiel sind, wurden in Wissenschaft und Philosophie mitsamt ihrem Orientierungswert bisher weitgehend ausgeblendet. Jürgen Mittelstraß etwa legt die wissenschaftliche Unterscheidung auf die »fundamentale Sprachhandlung der Prädikation« »in behauptender Intention« und mit »Begründungsverpflichtungen« fest und stellt »Orientierungen« als »pragmatische Unterscheidungen […] in bezug auf bestimmte Situationsmerkmale« daneben.6 Niklas Luhmann hat stattdessen im Rahmen seiner soziologischen Systemtheorie und im Anschluss an die mathematikförmigen Laws of Form von George Spencer Brown7 eine Theorie der Beobachtung entwickelt, in der die Zweiseitigkeit, Entscheidbarkeit und Prozessualität des Unterscheidens zur Geltung kommt8, und sein Schüler Dirk Baecker und dessen Schüler Athanasios Karafillidis haben sie weiterentwickelt.9 Die systemtheoretische Schule bekennt sich insgesamt zum ›Konstruktivismus‹: Sie löst die Theorie der Unterscheidung von der metaphysischen Ontologie ab, indem sie statt bei scheinbar an sich vorhandenen Gegebenheiten oder Begebenheiten bei Kommunikationen über sie ansetzt.
Für die philosophische Erschließung der Funktion des Unterscheidens in der menschlichen Orientierung reicht das jedoch nicht aus. Denn erstens umfasst Orientierung weit mehr als die Kommunikation mit anderen, und zweitens stößt das ›Konstruieren‹ von Unterschieden in unübersichtlichen Situationen rasch an Grenzen. Nietzsche einerseits und der späte Wittgenstein andererseits führen hier weiter. Auch wenn sie den Begriff selbst kaum gebrauchen, haben sie am vorurteilslosesten über die Bedingungen des Unterscheidens in der menschlichen Orientierung nachgedacht. Bei Nietzsche, Wittgenstein und Luhmann finden sich die stärksten Anhaltspunkte zum Thema Orientierung durch Unterscheiden.
Angeregt von Spencer Brown und Luhmann haben jüngst auch Dirk Rustemeyer und Katrin Wille unabhängig voneinander »Weisen des Unterscheidens« unterschieden.10 Auch sie setzen nicht schon eine Metaphysik, Epistemologie und Logik, keine irgendwie geartete Ordnung der Welt voraus, sondern fokussieren auf den Prozess des Unterscheidens selbst, um dessen vielfältige Produktivität zu erschließen. Sie wollen erkunden, wie Ordnung durch Unterscheiden zustande kommt, ohne dabei auf eine Gesamtordnung der Welt oder der Gesellschaft aus zu sein, die sich eine solche entwirft. Katrin Wille hält sich dabei an den Rahmenbegriff der Praxis, die sie anhand der Unterscheidung von Wunsch und Wille illustriert, Dirk Rustemeyer an den der Kultur, um ausführlich auch die Künste einzubeziehen. Beide setzen heuristisch auf Reihungen von »Kontrasten« und »Vergleichen« und stellen das alltägliche und ›praktische‹ Unterscheiden in den Vordergrund, dem gegenüber das wissenschaftliche und künstlerische zwar erhellende, aber nicht mehr maßgebliche Spezialfälle sind. Sie lösen sich vom Postulat der Eindeutigkeit als speziellem Bedürfnis der Logik, der Mathematik und der Wissenschaften und betonen stattdessen die unverzichtbaren Funktionen der Mehrdeutigkeit in der alltäglichen und künstlerischen Unterscheidungspraxis. Dazu gebrauchen sie wohl regelmäßig den Begriff der Orientierung, stoßen aber nicht zum philosophischen Problem der Orientierung überhaupt vor.
Das soll hier geschehen. Ich gehe den Weg philosophischer Heuristik weiter, um nun die Funktionen des Unterscheidens in der menschlichen Orientierung zu unterscheiden, und greife dabei, soweit möglich, auf bahnbrechende Einsichten in der Geschichte der Philosophie zurück.11 Ich gehe nun vom Begriff der Unterscheidung selbst aus – mit der Unterscheidung der Unterscheidung als Prozess (›unterscheiden‹) und als Produkt (›Unterschied‹). Ich beginne nicht schon wie die Luhmann-Schule mit einem Beobachter, der Unterscheidungen trifft, macht oder konstruiert – denn auch die Unterscheidung von Beobachtung (mit demselben Doppelsinn von Prozess und Produkt) und Beobachter ist schon eine Orientierungsunterscheidung –, sondern mit dem Prozess des Unterscheidens selbst. Ziel ist hier zunächst, die philosophische Unterscheidungs- und Orientierungsforschung wieder ein Stück weiterzuführen, um sie dann mit dem Denken radikaler Alterität zu konfrontieren.