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5. Asymmetrisierung des Unterscheidens: Wertungen als Halt in Unterscheidungen

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Zu leichteren Entscheidungen verhelfen zugleich Wertungen der beiden Seiten von Unterscheidungen. Luhmann gebraucht hier den Begriff der Asymmetrisierung: Wenn Entscheidungen für die eine Seite nahegelegt werden sollen, werden die Seiten der Unterscheidungen unterschiedlich gewichtet und in diesem Sinn vereinseitigt.40 Sie werden dann zu wertenden Unterscheidungen. Das geschieht unauffällig im Spielraum der Bedeutungen des Wortes ›Wert‹, der von wertneutralen ›formalen‹ Werten zweiseitiger Unterscheidungen (links / rechts, positiv / negativ, 1 / 0) über ökonomische und lebenspraktische Werte (günstig / ungünstig, gut / schlecht) bis zu moralischen Werten (gut / böse, verlangt / verboten) reicht.41 Die ersten lassen Entscheidungen ganz frei (›beides möglich‹), die zweiten empfehlen die eine Seite der Unterscheidung (›besser dies als jenes‹), die dritte fordert, die andere Seite auszuschließen (›dies, nicht jenes‹). Nietzsche hat in Zur Genealogie der Moral gezeigt, wie fließend die lebenspraktische Unterscheidung gut / schlecht in die moralische gut / böse übergeht. Dabei sind positive Werte wie Glück, Freiheit, Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit oft schwer zu bestimmen und darum strittig, während es für die negativen, Unglück, Versklavung, Ungerechtigkeit, Täuschung, meist allseits plausible Anhaltspunkte gibt. Beides zusammen, die Asymmetrisierung von Unterscheidungen und der Ausschluss ihrer negativen Seite, geben der Orientierung Halt und festigen sie. Ethiken können darauf aufbauen.

Aber auch dieser Halt ist nicht unerschütterlich. Denn vor allem die positiven Werte sind stark kulturabhängig und können darum im Kulturenvergleich fragwürdig werden.42 Entscheidungstheorien entgehen dem, wenn sie bestimmte Präferenzen (wie Rationalität oder Glücks- oder Gewinnstreben) schon voraussetzen; dann werden Entscheidungen auch statistisch berechen- und vorhersagbar. Solche Präferenzen sind in der menschlichen Orientierung jedoch keineswegs eindeutig; situative Abweichungen, Mehrfachmotivationen, Profilierungsbemühungen43, gezielte politische Provokationen, religiöse Fundamentalismen, aber auch schon bloße Ironisierungen und Ridikülisierungen gängiger Werte schaffen neue Entscheidungsspielräume.44 Auch persönliche Idiosynkrasien und Abwehrhaltungen können einer Orientierung Halt geben. Dann stützt sie sich auf ihre eigenen Asymmetrisierungen.

So wird die Wertesituation ihrerseits unübersichtlich; in modernen Gesellschaften befindet sie sich in ständigem Wandel. Menschliche Orientierung muss darum lernen, auch Wertungen in Unterscheidungen zu sichten, verschiedene Wertunterscheidungen zu gewichten und zu entscheiden, welche Unterscheidungen zu welcher Zeit in welchen Situationen angemessen sind. Wertorientierung ist nicht nur Orientierung an Werten, sondern auch über Werte. Sie geht dann in eine reflektierte Moral im Umgang mit Moralen über.45 Anfänglich individuelle Abweichungen (eine frugale Lebensweise mitten im Wohlstand, eine gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft) können sich in gesellschaftlichen Transformationsprozessen rasch verbreiten und gesamtgesellschaftliche Umorientierungen auslösen (Rettung des Erdklimas vs. Ernährungs-, Mobilitäts- und Heizungsluxus, Entdiskriminierung vs. Bestehen auf Traditionen). Während Neuorientierungen in neuen Situationen alltäglich sind, werden derartige Neuentscheidungen über wertende Unterscheidungen als Umorientierungen erfahren: ›das Leben‹ im Ganzen wird dann ›anders‹, als ›neue Zeit‹ erlebt – und findet in neuen asymmetrischen Unterscheidungen neuen Halt (klimaschädlich / klimaneutral, politisch korrekt / inkorrekt).

Orientierung und Ander(s)heit

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