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1. Unterscheiden als Prozess der Abgrenzung: Grenzen als Anhaltspunkte der Orientierung

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George Spencer Brown und Niklas Luhmann haben angeregt, die Unterscheidung als Handlung oder Prozess und ihr Ergebnis oder Produkt als Form zu fassen. Der Begriff der Form (morphé) gehört zum Grundbestand der Metaphysik des Aristoteles. Er soll dort die Beständigkeit der Veränderungen der Natur (physis) zum Ausdruck bringen. Veränderung wird dabei so verstanden, dass in bestehenbleibenden Formen laufend Stoff (hyle) ausgetauscht wird, in biologischen Arten die gleichförmigen individuellen Lebewesen. So wird die Form zum Wesen (ousía): Die gleichbleibende anschauliche Form der biologischen Art (eídos) ist Aristoteles’ Modell eines an sich bestehenden Allgemeinen, unter das wechselnde Individuen fallen, und damit zugleich ein logisches Modell. Sein technisches Modell der Form, etwa einer Skulptur, die in verschiedenen Materialien ausgeführt werden kann, legt die Metaphorik der Hohlform nahe, die unterschiedlich ausgefüllt werden kann. Die Verschränkung beider Modelle prägt das Denken der Form und mit ihm das philosophische Denken überhaupt bis heute: Sie lässt das Denken selbst als Form erscheinen, das verschiedenste Inhalte fassen kann und dabei selbst immer gleich, ›rein logisches‹ Denken bleibt. Noch Kant und Hegel halten fraglos daran fest.

Nach Darwin erkennt Nietzsche die Form als »flüssig« und nimmt ihr damit eben das, wofür Aristoteles sie eingeführt hatte: ihren festen Bestand.12 Ein Jahrhundert später gehen Spencer Brown und Luhmann noch weiter und setzen bei der Form als Operation der Formung an, um so ihre metaphysische Ontologisierung zu einem an sich bestehenden Wesen zu vermeiden. Sie denken die Veränderlichkeit der Form, indem sie dem geometrischen, geographischen oder geodätischen Modell der Grenzziehung folgen. Danach grenzt die Form, z. B. eine schlichte Linie im Sand oder auf Papier, lediglich zwei Seiten voneinander ab. Sie kann verwehen, durchgestrichen, ergänzt oder ersetzt werden. So wird sie zur bloßen Unterscheidung zweier Seiten und die Formung zum bloßen Unterscheiden. Obwohl die Form so nur noch abgrenzt, nicht mehr einen Inhalt umgrenzt, sprechen Spencer Brown und Luhmann weiterhin von ihrer Innen- und Außenseite. Die Innenseite soll nun die sein, um die es bei der Unterscheidung vorläufig geht, auf der etwas markiert, bestimmt und bezeichnet wird, die Außenseite das, wovon vorläufig abgesehen wird. Die Unterscheidung durch eine Form steht so nicht mehr für die Wahrheit eines Seins, sondern für die Gewichtung einer Orientierung.

Im phänomenologischen Sinn zeigt sich durch eine bloße Abgrenzung etwas als etwas (z. B. ein ›Mann im Mond‹ durch Kontraste von helleren und dunkleren Flächen auf der unebenen Mondoberfläche). Vor Aristoteles hatte Anaximander bei der bloßen Grenze (péras) angesetzt, die er vom Unbegrenzten (ápeiron) unterschied.13 Nach dem einzig von ihm erhaltenen Spruch, wortnah übersetzt: »Woraus den Seienden ihr Entstehen ist, in dasselbe entsteht auch das Vergehen, wie es sich gehört; denn sie geben einander Recht und leisten Buße für das Unrecht nach der Ordnung der Zeit«, ist Veränderung so zu verstehen, dass Grenzen in einem prinzipiell Unbegrenzten wechseln. Anaximander sieht darin noch, in rechtlich-ethischer Metaphorik, eine ausgleichende Gerechtigkeit.

Eine Grenze kann eine natürliche Grenze wie zwischen Land und Meer oder eine künstliche, eigens gezogene wie zwischen Besitztümern sein; man kann sie einerseits hinnehmen und andererseits eigens schaffen (im Beispiel eines Grenzflusses beides zugleich). Man kann die Grenzen, wiederum metaphorisch, auch von Raum und Zeit lösen und unter Verwendung der Unterscheidung von Wahrnehmen (in Raum und Zeit) und Denken (über Raum und Zeit hinaus) die Grenzziehung dem Denken zuschreiben. Denken ist für die griechische Antike eine natürliche Tätigkeit, so dass seine Abgrenzungen ihrerseits im Wesentlichen natürliche, schlicht hinzunehmende sind; das Denken weist die natürlichen Abgrenzungen lediglich auf und bringt sie in Begriffen zum sprachlichen Ausdruck.14 In letzter Konsequenz hat Parmenides so das bloße Sein gedacht – als von einem Denken gedachtes, das seinerseits dazu gedacht ist, das Sein zu denken. In diesem Sinn sind Denken und Sein, wie er sagt, dasselbe, die Unterschiede des Denkens also auch die Unterschiede des Seins, beide aber jeder Veränderung und Wahrnehmung entzogen, schlechthin beständig, schlechthin allgemein und damit schlechthinniger Halt der menschlichen Orientierung.15

Als Mathematiker und Formwissenschaftler sieht Spencer Brown ebenfalls von allen Inhalten ab. Er gibt nun einfach die Anweisung »Draw a distinction!«16 Vom Anlass der Anweisung spricht er nur andeutungsweise als von ihrem Motiv (motive) und Wert (value), später von einem Verlangen zu unterscheiden (desire to distinguish).17 Das Verlangen oder Bedürfnis zu unterscheiden ist das Bedürfnis der menschlichen Orientierung in einer Situation, in der man sich nicht auskennt und die man zu meistern hat; es war Kant, der das Sich-Orientieren in diesem Sinn als »Bedürfniß« der Vernunft in die Philosophie eingeführt hat.18 Ob und wie weit das Orientierungsbedürfnis durch eine Unterscheidung erfüllt wird, lässt sich nicht vorab bestimmen; es stellt sich erst im Fortgang des Orientierungsprozesses heraus.19 Mit anderen Worten: Die Relevanz einer Unterscheidung zeigt sich daran, dass man, wie man alltagssprachlich sagt, ›etwas mit ihr anfangen‹, das heißt die gegebene Situation so erschließen kann, dass sie dadurch erfolgreich ›bewältigt‹ wird, kurz: dass sie so orientiert, dass man ›weiterkommt‹.

Unterscheidungen werden dann zu Anhaltspunkten der Orientierung in einer unübersichtlichen Situation; auch diesen Begriff bietet schon die Alltagssprache an. Die Orientierung ›hält sich‹ an Anhaltspunkte und erfährt an ihnen zugleich die Widerständigkeit der Wirklichkeit gegen willkürliche Konstruktionen. Sie können für jede Orientierung in jeder Situation andere sein und je nach dem Orientierungsbedürfnis anders und dennoch nicht beliebig verstanden werden. Man kann sie ihrerseits unterscheiden, braucht dafür dann aber wieder Anhaltspunkte. So kommt man hinter die Anhaltspunkte einer Situation nicht zurück. Sie fallen auf (z. B. ein Kirchturm einem Wanderer, der den Weg zum nächsten Dorf sucht), werden vertrauenswürdiger, wenn weitere hinzukommen (ein Wegzeiger in der eingeschlagenen Richtung, Eintragungen auf der Landkarte). Passen sie zueinander, ergeben sie für die Orientierung Suchenden Sinn in Mustern, die wiederum zu Mustern in früheren Orientierungssituationen passen können.20

Wie Hirn- und Intelligenzforschung heute bestätigen, ist erfolgreiches Unterscheiden zunächst Erkennen von Mustern aus vorläufigen Anhaltspunkten. Neben oder hinter den entdeckten Mustern tritt anderes zurück, wird unauffällig, erscheint als nicht orientierungsrelevant. So entstehen durch Muster Grenzen im Unbegrenzten, von denen sich die Orientierung vorläufig leiten lässt. Erweisen sie sich als haltbar, glaubt man sie entdeckt zu haben, hält sie für real, an sich bestehend; wenn nicht, bleibt man vorsichtig und stuft sie als möglicherweise nur konstruiert oder fiktiv ein.

Orientierung und Ander(s)heit

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