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12. Digitalisierung von Unterscheidungen: Technische Standardisierung globaler Orientierungsprozesse
ОглавлениеDurch die Digitalisierung der Kommunikation nimmt das Unterscheiden eine standardisierte und globalisierte Form an. Die Standardisierung ist im Prinzip einerseits formalwissenschaftlich-mathematischer, andererseits technischer Art: Man rekonstruiert aus der digitalen 0/1-Unterscheidung, mit der sich elektronische Schaltkreise ein- und ausschalten lassen, so weit wie möglich alle übrigen Unterscheidungen, die dadurch de-asymmetriert, wertfrei und kulturunabhängig werden. Die informationstechnische Vereinfachung ermöglicht durch geeignete Algorithmen standardisierte Ordnungen von wachsender Komplexität. Die menschliche Orientierung wird so in einem ungeahnten Maß zugleich entlastet und gesteigert: Rechner sind Unterscheidungsmaschinen mit wiedergabetreuen Gedächtnissen; sie machen nahezu jede gewünschte Information überall schnell auffindbar; sie können zahllose Orientierungsprozesse übernehmen und zuverlässiger ausführen als Menschen, etwa in Navigationsgeräten, in der Beobachtung des Kaufverhaltens von Kund(inn)en, im Börsenhandel, in der Steuerung von Maschinen, in der Logistik des Flugverkehrs bis hin zur Selbststeuerung von Drohnen und Automobilen. Mit hinreichendem Material aus bisherigen Orientierungen (Big Data) können sie ihre Orientierungsentscheidungen laufend optimieren.
Unterscheidungs- und Entscheidungsmaschinen schaffen jedoch zugleich neue Ungewissheiten und Risiken. Sie sind von technischen Bedingungen abhängig: Strom muss fließen, Geräte müssen funktionieren, Netze dürfen nicht zusammenbrechen, übertragene Daten müssen vor Missbrauch geschützt sein. Von Computern kennen gewöhnliche Nutzer*innen nur die Nutzeroberflächen, auf denen sie sich erst wieder zu orientieren lernen müssen.
Armin Nassehi, ein erklärter Luhmann-Schüler, will Luhmanns Unterscheidungen auch für das Verständnis der »digitalen Gesellschaft« fruchtbar machen. Er versucht »die Digitalisierung als eine gesellschaftliche Kulturerscheinung zu verstehen«.94 Damit stellt er sie unter einen Orientierungsgesichtspunkt: Es sei »sicher eine der grundlegenden Erfahrungen unser Zeit, dass sich Bedeutungen immer weniger auf eine ontologische Grundvoraussetzung zurückführen lassen« und man »nur noch Horizonte«, »kein Boden mehr« habe.95 Die errechneten Daten bildeten die Welt nicht ab, sondern verdoppelten sie und bauten sie dann in die Welt ein.96 Die Errechnung halte sich wie das menschliche Gehirn an »Muster«. Nassehis leitende, vielfach wiederholte These ist, dass mit der Digitalisierung der Kommunikation der Gesellschaft kein Bruch, keine »Disruption« eintrete: Sie sei durch die nach Luhmann binären Leitunterscheidungen der Funktionssysteme der Kommunikation der Gesellschaft (wie interessant / uninteressant in den Medien, zahlungsfähig / zahlungsunfähig in der Wirtschaft usw.) seit Jahrhunderten vorbereitet. Damit würde eine grundlegende Unterscheidungstechnik durch die Digitalisierung lediglich weiter bestärkt.
Das könnte jedoch kurzsichtig sein. Denn zum einen nimmt die digitale De-Asymmetrierung den menschlichen Orientierungsentscheidungen viel von ihrem Halt. Zum andern lässt die Binarisierung keine Spielräume für Nuancen, Mehrdeutigkeit und Anderheit mehr, sofern diese nicht ihrerseits binarisiert und dadurch vereindeutigt werden können. Einfälle im Denken und Zufälle im Leben, die Neuorientierungen hervorrufen können, lassen sich zwar ebenfalls durch maschinelle Randomisierung programmieren, verlieren dann aber ihren emotionalen und motivationalen Charakter. Wird dieser wiederum in likes und dislikes binarisiert, lässt er sich nur nachträglich angeben und wird dadurch de-funktionalisiert. Stattdessen hat man stets mathematisch definierte und strukturierte Identitäten und Entitäten vor sich.
So hat man auch Entscheidungen über die technische Standardisierung der Orientierung selbst bzw. über ihre Inanspruchnahme (z. B. in Gestalt von Navigationsgeräten oder Suchmaschinen) zu treffen. Sollen nicht nur die Bürokratie und technische Fertigungsprozesse, sondern auch die Pflege alter Menschen in Heimen durch Rechner und Roboter standardisiert werden? Bei welchen Anhaltspunkten soll die Digitalisierung ansetzen, was soll für ihre Zwecke vergleichbar gemacht werden? Dann das Zauberlehrling-Problem: Wird die künstliche Intelligenz, die im Rahmen der Digitalisierung der menschlichen Lebenswelt entwickelt wird, vom Menschen beherrschbar bleiben oder sich ihm gegenüber verselbständigen?97 Hier ist man neu auf die eigenen und individuellen und das heißt: je anderen Orientierungsfähigkeiten angewiesen.
Durch die Digitalisierung entsteht auch eine neue Gleichzeitigkeit: Zwar braucht jeder elektronische Prozessschritt ebenfalls Zeit, aber so verschwindend geringe und nicht erlebbare Zeit, dass sich eine Quasi-Gleichzeitigkeit ergibt. Das menschliche Leben wird in einem nie gekannten Maß übersichtlich: in Gestalt statistischer, nach unterschiedlichen Horizonten differenzierbarer Modellierungen. Aber damit wird das menschliche Leben noch nicht als Einheit fassbar. Stattdessen entsteht mit der fortschreitenden Differenzierung und Komplexierung eine neue Unübersichtlichkeit, die zu einem Leitbegriff unserer Zeit geworden ist. Eben das macht die übersichtliche Orientierung im Unterscheiden notwendiger denn je.