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6. Selbstunterscheidung im Unterscheiden: Distanz zum Gegenstand des Unterscheidens

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Entscheidungen über Unterscheidungen drängen die Frage auf, wer oder was da unterscheidet und entscheidet. Die indoeuropäischen Sprachen und die Tradition der europäischen Philosophie legen für Prozesse Akteure nahe, die sie betreiben. Aus dem Wehen des Windes wird der Wind, der weht, aus dem Bewusstseinsstrom das Bewusstsein, das sich etwas bewusst macht, aus dem Pronomen ›ich‹ ein Ich, das denkt und dabei über Unterscheidungen entscheidet.46 Im Prozess des Unterscheidens wird etwas unterschieden, an dem die Orientierung dauernden Halt finden soll, von Aristoteles noch eine Substanz, an der Eigenschaften wechseln oder die sie von sich aus austauscht; in der Moderne werden daraus Täter, die aus Geschehen Tätigkeiten machen, Kräfte, die bestimmte Bewegungen vorantreiben, Subjekte, die sich von alldem Vorstellungen bilden. Hinter oder über alldem kommt als Schöpfer und schlechthin Tätiger Gott zu stehen und als Form der Unterscheidung die Einheit des sich aus sich selbst entwickelnden Systems, wie es exemplarisch Hegel gedacht hat.47

Beobachtbar sind jedoch nur die Prozesse selbst, einschließlich der Prozesse des Beobachtens. Das hinzugedachte Subjekt dieser Prozesse kann, aufgrund seiner Unbeobachtbarkeit, im Fall der menschlichen Orientierung wieder in einem weiten Spielraum unterschieden werden, etwa als Mensch, Seele, Bewusstsein, Person, Vernunft, Geist oder auch als Gesellschaft mit ihren Unterscheidungen wie Wissenschaft, Medien, Politik usw. Das individuelle Subjekt kann man ausstatten mit einem Leib, der es am Leben erhält, einer Umgebung, von der sich der Leib nährt, mit einer Gesellschaft, die ihm seine Sprache beibringt und seine Funktionen zuteilt, usw. und es so mit Handgreiflichem vernetzen. Man kann es aber auch von alldem trennen und als völlig autonom, als allein vorstellendes und denkendes Subjekt etablieren, das mit freiem Willen Verantwortung für all seine Unterscheidungen und Entscheidungen übernimmt. Das ist von ausschlaggebender Bedeutung für Ethik, Recht und Politik. Und doch wird nach Nietzsche hier lediglich im »Bann bestimmter grammatischer Funktionen« ein Unterscheidendes vom Unterscheiden unterschieden.48 Schließt man an ihn und Wittgensteins radikaler Konsequenz daraus »Das denkende, vorstellende, Subjekt gibt es nicht« an,49 bleibt nur der Rückgang auf das Unterscheiden selbst. Und ihn hat wiederum Luhmann versucht.50

Luhmann setzt beim Begriff der Beobachtung als Einheit von Unterscheiden und Entscheiden an. Auch die Beobachtung ist Prozess und Produkt zugleich; Luhmann denkt sie als Prozess des Gebrauchs einer Unterscheidung (distinction) zur Bezeichnung (indication) von etwas als Gegenstand; dieser Gegenstand ist der dann bestimmte Unterschied als Produkt der Unterscheidung. Um aber etwas als etwas zu beobachten, muss die Beobachtung sich selbst vom Beobachteten unterscheiden (sonst bleibt es bei bloßen Vorstellungen, Fiktionen oder Träumen). Diese Unterscheidung kann das Beobachtende, was immer es sei, an seinem Beobachten nicht unmittelbar beobachten; dazu bedarf es weiterer und nun vermittelter Beobachtungen. Sie verlaufen in einem Netzwerk von vergleichenden Beobachtungen früherer eigener Beobachtungen und der Beobachtungen von anderen. Dabei zeigt sich, dass etwas immer auch anders beobachtet (wahrgenommen, vorgestellt oder gedacht) werden kann, als man es selbst beobachtet. So erscheint die eigene Beobachtung als besondere und eigentümliche Beobachtung, und ›hinter‹ dieser wird dann nach der grammatischen Konvention ein besonderer und eigentümlicher Beobachter als Akteur vermutet. Zwischen der eigenen Beobachtung und dem, was sie beobachtet, tut sich eine Distanz auf, und diese Distanz wird von der menschlichen Orientierung als Spielraum genutzt, sich nur vorläufig an Anhaltspunkte zu halten: die Distanz des ›Sich-Orientierensan …‹. Luhmann spricht selbst vom »Orientierungswert« von Anhaltspunkten für die Unterscheidung von Fremdbeobachtung und Selbstbeobachtung51, und im Spielraum von Fremdbeobachtung und Selbstbeobachtung wird das ›Subjekt‹ oder ›Selbst‹ der Beobachtung geortet und bestimmt. Es ist zunächst einmal das ›Selbst‹ der Orientierung: Das Subjekt der Orientierung, des Beobachtens, des Unterscheidens und des Entscheidens zwischen Unterscheidungen, das so unterschiedlich identifiziert wird, ist nichts anderes als die Orientierung selbst, die auf diese Weise ihrerseits als Subjekt behandelt wird.52 Schon Nietzsche hat es in der berühmten Rede seines Zarathustra »Von den Verächtern des Leibes« schlicht »das Selbst« genannt und gezeigt, wie es, als bloßer Selbstbezug des Unterscheidens, wechselnd als »Leib«, »Seele«, »Ich«, »Sinn«, »Vernunft« und »Geist« bezeichnet wird.53

Luhmann fasst dieses Selbst der menschlichen Orientierung im Rahmen seiner soziologischen Systemtheorie als Beobachtungssystem, das sich in Differenz zu seiner (jeweiligen) Umwelt setzt, und führt so die Differenz von System und Umwelt, seine eigene Leitunterscheidung, ein. Die Differenz von System und Umwelt spezifiziert die Differenz von Orientierung und Situation; wie die jeweilige Orientierung jeweils auf ihre Situation, so reagiert das jeweilige Beobachtungssystem auf seine Umwelt.54 Da nun Leib und Bewusstsein, die am Menschen unterschieden werden, ihre Umwelt jeweils anders beobachten, der Leib über Reize, das Bewusstsein über Vorstellungen, müssen sie nach Luhmann als besondere Beobachtungssysteme verstanden werden. Sie sind dann auch ihrerseits füreinander Umwelt bzw. beobachten einander als solche: Das Bewusstsein ist rundum Einflüssen des Körpers ausgesetzt, nimmt aber nur selektiv, d. h. in seiner spezifischen Beobachtungsweise, dessen Informationen auf (z. B. als Schmerz, der schwer lokalisierbar sein kann); und es kann seinerseits das Verhalten des Leibes nur in engen Grenzen beeinflussen (z. B. die Motorik, aber nicht die Verdauung oder die Vernetzung der Gehirnzellen). So gehen Bewusstsein und Leib weder ineinander auf, noch sind sie voneinander getrennt. In Luhmanns Terminologie sind sie »strukturell gekoppelt«, d. h. sie kommunizieren nur in bestimmten Bahnen miteinander. Dasselbe gilt für »Funktionssysteme« der »Kommunikation der Gesellschaft« wie Wirtschaft, Politik, Recht, Wissenschaft, Kunst. Es wird jeweils anders beobachtet und unterschieden: vom Menschen nach den in ihm gekoppelten Beobachtungssystemen, von den Funktionssystemen der Kommunikation der Gesellschaft nach deren jeweiligen Leitunterscheidungen oder »Codes« wie wahr / falsch in der Wissenschaft oder recht / unrecht im Recht. So bilden sich unterschiedliche Orientierungswelten aus, zwischen denen Mensch und Gesellschaft oszillieren, ohne dass ›hinter‹ ihnen eine zentrale Steuerung zu finden wäre. Gott in diesem Sinn ist tot.

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