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7. Unterscheiden durch Sprache: Spielräume für Eindeutigkeit und Mehrdeutigkeit

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Die diffizil sich einspielende und diffizil bleibende Distanz des Beobachtens zum Beobachteten oder des Unterscheidens zu den produzierten Unterschieden findet ihren Halt vor allem in der auf diese oder jene Weise Subjekte und Objekte unterscheidenden Sprache, die Sprache ihren Halt wiederum in der Kommunikation der Gesellschaft. Wir betreten damit das Feld der Sozialität des Unterscheidens.

Der Gebrauch der Sprache verlangt in der Orientierung besonders hohe Aufmerksamkeit. Sprachliche Zeichen werden zwar so gestaltet, dass sie sich auffällig von ihrer Umgebung unterscheiden; eben deshalb aber müssen ihre Unterscheidung voneinander und die Regeln ihrer Verknüpfung miteinander aufwendig eingeübt werden. Sprechen muss eigens gelernt werden, und die Beherrschung der Sprache zur Stiftung von gut verständlichem und überzeugendem Sinn in der Kommunikation erfordert hohe Bewusstheit auch noch in ihrem routinierten Gebrauch.

Nietzsche hat die Bewusstheit des Unterscheidens und die Bewusstwerdung überhaupt hypothetisch vom Bedarf nach leichter und schneller Verständigung in Notsituationen abgeleitet.55 Sprachliche Unterscheidungen dienen danach nicht so sehr der möglichst getreuen Wiedergabe von außersprachlich Gegebenem, sondern der Orientierung, wie man schwierige Situationen in Kooperation mit andern erfolgreich bewältigen kann. Nietzsche setzt darum auch nicht bei der wissenschaftlichen, sondern bei der alltäglichen Sprache und Kommunikation an, die Voraussetzung aller weiteren Kommunikation ist. Erst die wissenschaftliche Sprache und Kommunikation, die Gegebenes auf für alle gleich gültige Begriffe bringen will, drängt auf explizites und eindeutiges Unterscheiden.

Die europäische Philosophie in ihrem Hauptstrom und auch noch der frühe Wittgenstein setzte jedoch bei diesem spezifischen Sprachgebrauch an, als er in Anschluss an Gottlob Frege die Sprache dem Ideal der Klarheit der mathematischen Logik unterwarf und dadurch die Entwicklung der logischen Analyse der Sprache vorantrieb.56 Er sah jedoch bald, dass er mit dem theoretischen Ideal der eindeutigen Begriffe den Sinn der vielfältigen Unterscheidungspraxis der alltäglich gebrauchten Sprache überging: die jeweils hinreichende Eindeutigkeit der Verständigung in konkreten Situationen. Sie kommt durch die Orientierung an den Anhaltspunkten der Situation selbst zustande: Bietet die Situation für beide Seiten hinreichende Anhaltspunkte, kann ein einziges Wort genügen, um präzise ein erwünschtes Handeln auszulösen – in Wittgensteins Beispiel das Zureichen einer Platte unter Bauhandwerkern zu einem genauen Zeitpunkt an einem genauen Ort auf den bloßen Ausruf »Platte!« hin.57 Wird es in bestimmten Fällen nötig, klar zu machen, was mit ›Platte‹ (im Unterschied zu anderen Bausteinen) gemeint ist, zeigt man schlicht auf sie.58 Dabei rechnet man damit, dass miteinander Arbeitende ›sich auskennen‹. Reicht das Hinzeigen nicht aus, kann man weitere Wörter oder Gesten hinzufügen, so lange, bis in dieser Situation unter diesen Kommunizierenden die hinreichende Verständigung darüber erreicht ist, wohin die Platten kommen und wie sie abgelegt werden sollen. Die Spielräume der Bedeutungen der Zeichen werden weitgehend durch die Situationen eingegrenzt, in denen sie gebraucht werden.

Nichts anderes geschieht im Grundsatz auch bei wissenschaftlichen (einschließlich juristischer) Definitionen: Man grenzt die Bedeutungsspielräume von Begriffen so lange durch weitere Begriffe ein, bis sie für den Gebrauch der jeweiligen Wissenschaft hinreichend eindeutig sind und man auf sie hin kooperativ handeln kann. Im Ganzen entsteht hinreichende Orientierung auch in der Kommunikation durch jeweilige Entscheidungen für weitere Unterscheidungen. In der alltäglichen und weitgehend auch in der professionellen Unterscheidungspraxis wie der der Bauhandwerker besteht daher nur begrenzter Bedarf, nach definitiven Bedeutungen der gebrauchten Wörter zu suchen, wie ihn die auf die logische Analyse der Sprache setzende Philosophie generell unterstellt. Eindeutig definierte Bedeutungen, soweit sie außerhalb der Mathematik und Logik überhaupt möglich sind, wären für die alltägliche Verständigungspraxis sogar kontraproduktiv. Denn damit der Gebrauch der Zeichen sich unterschiedlichen Situationen anpassen kann (man kann Katzen, seine Arbeit, Partner*innen und die Menschheit lieben und doch nicht in derselben Weise), muss er Spielräume für Mehrdeutigkeit lassen, an denen Definitionsversuche dann verzweifeln können. Grund sind wiederum Kapazitätsgrenzen: Man kann nicht unbegrenzt viele Worte für die sprachliche Orientierung in unbegrenzt vielen Situationen lernen.

Durch den auf situative Eignung ausgerichteten Sprachgebrauch kann man Eindeutigkeit auch gezielt vermeiden. Das ist oft dann angezeigt, wenn es in Kommunikationen um die Personen der Kommunizierenden selbst geht. Man macht sie nur in besonderen Fällen, meist im Lauf von Streitigkeiten, direkt zum Gegenstand von Unterscheidungen (›mit dir kann man nicht reden, du willst immer nur recht haben‹). Denn entschiedene Bestimmungen anderer Personen können diese leicht in ihrer Selbstbestimmung verletzen, wenn nicht sogar demütigen (›wie kannst du so etwas sagen?‹); solche Direktheit bedarf eines besonderen Rahmens wie der Erteilung von Zeugnissen, Verkündung von Diagnosen oder Urteilen oder Fest- und Trauerreden.59 Im Unterscheiden anderer Menschen zieht man ansonsten den indirekten Modus vor: Man fragt andere nicht direkt über sie aus, sondern befragt, wenn nötig, Dritte und auch das nur mit Vorsicht. Das Unterscheiden wird dadurch komplexer: Man muss nun auch die Aussagen Dritter und Vierter voneinander unterscheiden und ihre Glaubwürdigkeit gegeneinander abwägen. So setzt man, um Konflikte zu vermeiden und weitere Kooperation zu ermöglichen, nicht nur in der professionellen, sondern auch in der Alltagsdiplomatie bewusst auf Mehrdeutigkeit.

Orientierung und Ander(s)heit

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