Читать книгу Orientierung und Ander(s)heit - Werner Stegmaier - Страница 6

EINLEITUNG

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Womit auch immer wir in unseren Wahrnehmungen, Vorstellungen und Urteilen zu tun haben, unterscheiden wir oder ist schon unterschieden. Wo nichts unterschieden ist oder nichts sich unterscheidet, kann man sich dazu nicht verhalten. Dann tritt Orientierungslosigkeit ein, die zunächst Irritation, dann Verunsicherung, in bedrohlichen Situationen Angst und, wenn die Angst anhält, Verzweiflung und Depression auslöst. Kennt man sich nicht mehr aus, verstrickt man sich, so Wittgenstein, notorisch in philosophische Probleme.

Doch dahinter könnte selbst ein philosophisches Problem stecken, das auch Wittgenstein nicht mehr gestellt hat. Orientierungsschwierigkeiten werden, wenn sie nicht psychotischer Natur sind, meist rasch bewältigt. Aber wenn Sich-orientieren-Können zunächst einmal Unterscheiden-Können ist, beginnend mit Rechts und Links, Oben und Unten etc. und endend mit grundlegenden philosophischen Unterscheidungen, was heißt dann Unterscheiden? Wie funktioniert es und wodurch ist es möglich? Könnte es selbst ein, wenn nicht sogar das Problem sein? Worin und warum kann es versagen? Wenn wir durch Unterscheiden Wirklichkeit erschließen, wie verbürgt es die Wirklichkeit, die sich dadurch zeigt? Hat die Orientierung durch Unterscheiden Grenzen und wenn ja, wo? Darin, dass wir unvermeidlich individuell, von unseren jeweiligen Orientierungsstandpunkten aus unterscheiden und sich so überall Differenzen auftun? Oder an der Unbegreiflichkeit von Gegebenem schlechthin im Sinne von Hans Blumenberg? Wie gehen aus Unterscheidungen Begriffe hervor? Was sind und was veranlasst Begriffsbildungen? Was geschieht in Situationen, in denen die gewöhnlich gebrauchten Unterscheidungen und Begriffe nicht ausreichen? Wenn Unterscheidungen und Begriffe, um brauchbar zu sein, situationsgerecht sein müssen, gibt es da ein Maß der Situationsgerechtigkeit und der Feinheit des Unterscheidens? Wenn aber Menschen zuletzt unbegreiflich füreinander sind, wird dann jedes Unterscheiden und Begreifen Anderer nicht übergriffig?

Die Risiken des Unterscheidens durch Begriffe und des Übergriffig-Werdens des Begreifens kommen als theoretisches Problem in Sicht, wo es darum geht, ob man in schwer zu übersehenden Situationen ›die Sache trifft‹. In der herkömmlichen Erkenntnistheorie blieb das jedoch am Rande. Nichtsdestoweniger bekommt man es als praktisches Problem zu spüren in Kommunikationssituationen, in denen man mit seinen Unterscheidungen, die man arglos ›treffen‹ mag, andere ›treffen‹, nämlich ›verletzen‹ kann. Schon Platon hat das in einigen seiner Dialoge vorgeführt; voll bewusst wurde es im Zug der modernen Demokratisierung der westlichen Gesellschaften, als Einordnungen in vorgegebene Rangordnungen ihre Selbstverständlichkeit verloren. Seither ist die Aufmerksamkeit auf das Unterscheiden als solches gewachsen, wird immer mehr Unterscheidungssensibilität erwartet. Die aktuelle Gender-Debatte um Identitäten und Identifikationen könnte Ausdruck dieser fortschreitenden Sensibilisierung sein. Und gerade jetzt wappnet man sich wieder mit begrifflichen Festlegungen, die ihrerseits verletzen können.

Wenn zur Orientierung Unterscheidungen von unvermeidlich verschiedenen Orientierungsstandpunkten aus und in unterschiedlichen Perspektiven getroffen werden, man aber miteinander kooperieren will und kann, muss man sich beim Sich-Orientieren durch Unterscheiden immer auch an anderen orientieren; sonst bleibt man in seiner Orientierungswelt allein. Auch bei beiderseitigem Willen zur Kooperation können jedoch aus den Unterschieden der Orientierungsstandpunkte und -perspektiven, die oft erst im Zug der Kommunikation deutlich werden, ›Differenzen‹, Unstimmigkeiten entstehen, die beunruhigende Widersprüche aufbrechen lassen, das gemeinsame Handeln stören und manchmal zu ernsthaften und bedrohlichen Streitigkeiten zwischen Personen und Gruppen, wenn nicht zu Gewalt führen. Übereinstimmungen und Gemeinsamkeiten können nur scheinbar sein und zum Schein beruhigen. In der Orientierung an anderen Orientierungen, denen wir von Kind auf zu folgen gewohnt sind, erlahmt leicht die Sensibilität für die Situationsgerechtigkeit des Unterscheidens, und ›die Wirklichkeit‹, die dadurch verfehlt wird, kann dann ›zurückschlagen‹ – und nicht nur in der Kommunikation in Gestalt von mehr oder weniger heftigen Reaktionen des Anderen, sondern auch in dem, was wir ›Natur‹ nennen: Auch die ökologische Krise nach jahrhundertelangen schweren Eingriffen in sie ist ein schlagendes Beispiel für Fehlorientierungen an nicht hinreichend bekanntem Anderem. Möglicherweise haben die Gender-Debatte und die ökologische Krise, die wenig miteinander zu tun zu haben scheinen, beide im Problem der Orientierung durch Unterscheiden ihre Wurzel. Es könnte, obwohl es keineswegs neu ist, das aktuellste philosophische Problem sein.

Hier spätestens stellt sich das Problem der Alterität. ›Alterität‹ nennen wir heute die ›Andersheit‹ jenseits begrifflicher Unterscheidbarkeit oder, um sie von der Andersheit von begrifflich Unterschiedenem zu unterscheiden, die ›Anderheit‹. Sie wird unmittelbar und am stärksten unter Menschen erfahren. Jeder Mensch ist immer noch ›anders‹, als man ihn durch begriffliche Identifikationen, Registrierungen, Rubrizierungen, Einordnungen jeder Art unterscheiden kann. Die Anderheit aber, die man gerade bei solchen Identifizierungen erfährt, stellt philosophisch den Zugriff durch Unterscheidungen überhaupt in Frage. Sie verlangt in jedem Fall Differenzsensibilität, nicht nur generell als Sensibilität des Unterscheidens, sondern auch und vor allem als Sensibilität in Anbetracht der radikal fraglichen Unterscheidbarkeit und Bestimmbarkeit Anderer als solcher.

Der phänomenologische Befund ist deutlich: In persönlichen Kommunikationen wollen mündige Menschen nicht der subtilen Gewalt der Unterscheidungen anderer unterworfen werden; wird man von anderen auf die offenkundige oder subtile Gewalt seiner eigenen Unterscheidungen aufmerksam gemacht, kann das ebenso bedrücken. In kritischen Situationen wird man dann fragen, in welchen Grenzen Übereinstimmungen und Gemeinsamkeiten überhaupt notwendig sind und, wenn sie fraglos vorausgesetzt oder ausdrücklich eingefordert werden, ob man nicht daran arbeiten muss, jeweils die Anderheit des Anderen zu wahren. In modernen demokratischen Gesellschaften wird das sichtlich zu einem hohen Gut.

Aus potenziell destruktiven Streitigkeiten über einen nicht erreichbaren Konsens können konstruktive Kontroversen, Dialoge, Kompromisse und Kooperationen hervorgehen. In Kontroversen verteidigt man eigene Überzeugungen. Sie können zu Dialogen werden, in denen man bereit ist, auch Prinzipien zur Disposition zu stellen; das geschieht meist in Kompromissen, die dann Kooperationen auch jenseits von Konsensen ermöglichen. Kompromisse sind inzwischen so selbstverständlich geworden, dass sie jederzeit als ›zumutbar‹ empfunden werden; man erwartet, dass jede und jeder ›mit Kompromissen leben‹ kann. Dennoch kann man unter ihren Zumutungen leiden; die Übergriffigkeit der Unterscheidungen und Begriffe anderer, denen man sich unterworfen hat, bleibt als fortdauerndes Unbehagen an ihnen spürbar. ›Richtet‹ man sich mit ihnen ›ein‹, können daraus Dauerdiskrimierungen erwachsen: Die anhaltenden Diskriminierungen Andersfarbiger, Andersgläubiger und Andersdenkender sind hier die signifikantesten Beispiele.

Man hat uns beigebracht, hier Toleranz zu üben, mit Toleranz zu antworten. Toleranz kann jedoch auch so verstanden werden, dass sie sich auf ein bloßes Ertragen beschränkt. Dann mindert man wohl die Leiden an Diskriminierungen, geht ihnen aber nicht kritisch auf den Grund und macht sie nicht konstruktiv fruchtbar. Das Nachdenken über Alterität, das auch in der praktischen Philosophie lange am Rand blieb, muss hier weitergehen. Wir haben inzwischen vor allem von Philosophen wie Emmanuel Levinas, Jacques Derrida und Paul Ricœur, aber auch von Maurice Merleau-Ponty und Bernhard Waldenfels gelernt, dass der Anspruch Anderer ›unter die Haut geht‹, bevor man sich ihnen begrifflich unterscheidend und vergleichend zuwendet, und dass man in der Zuwendung zu ihnen gar nicht frei ist, sondern die Sensibilität des Unterscheidens als eine Verpflichtung erfährt, die rechtliche und staatliche Verpflichtungen überbieten oder auch unterlaufen kann. Die Erfahrung der Alterität kann eingespielte Orientierungen erschüttern, und manchmal, wie in Fällen massiver staatlicher Übermächtigungen, ist sie die letzte Instanz, um diese zu erschüttern. Unser Bestehen auf universalen Menschenrechten gibt uns wohl einen starken Halt in unserer zwischenmenschlichen Orientierung. Aber hinter allgemeinen Rechten stehen einzelne Menschen, denen die Gerechtigkeit letztlich gerecht werden muss. Sie darf in einer Orientierung an der Alterität kein Abstraktum sein.

Wir wollen das Problem der Alterität also produktiv wenden: Kann man sich an Alterität und mehr noch: durch sie orientieren? Oder geht sie unvermeidlich mit einem gewissen Desorientierungspotenzial einher? Diese Fragen entfalten sich in einem ganzen Fragenkatalog: Bietet Anderheit Anhaltspunkte für die eigene Orientierung, um ihr gerecht zu werden? Ermöglichen Orientierung und Alterität einander oder schränken sie einander ein? Oder sind sie sogar aufeinander angewiesen? Wo liegt die Verantwortung dafür und wie konstituiert sich diese Verantwortung? Wo, bei wem in der Geschichte und der Gegenwart der Philosophie, in anderen Wissenschaften oder in der Literatur kann man dafür weitere Anhaltspunkte finden? Kann eine Philosophie der Orientierung anschlussfähig auch für ein Denken der Alterität sein oder fordert die Alterität eine Umkehrung im Denken der Orientierung? Und wenn wir auf den bisherigen philosophischen Diskurs der Moderne blicken: Ist das für die ›Lebbarkeit‹ des Lebens unabdingbare Unterscheiden der Lebenssituationen, der Handelnden in ihnen, der Handlungsspielräume, die sie lassen, und der Handlungszwänge, die sie ausüben, noch zusammenzubringen mit mehr oder weniger souverän unterscheidenden und entscheidenden Subjekten? Wie unterscheiden sich solche Subjekte selbst in der menschlichen Orientierung und wie nehmen sie dabei Bezug auf andere Subjekte und Rücksicht auf sie? Kann man das mit den geläufigen philosophischen Positionierungen durch -ismen abmachen? Sind Selbstpositionierungen durch solche -ismen auf der einen und Identifizierungen Andersdenkender durch sie auf der andern Seite nicht schon Abschottungen gegen die Alterität oder bestenfalls Ausdruck ihrer Tolerierung?

Die beiden Autoren dieses Buches versuchen die schwierigen Spannungsverhältnisse auszuloten, die sich zwischen den noch weitgehend getrennt voneinander diskutierten Grundbegriffen Orientierung und Alterität auftun. Dabei schwebt uns keine Synthese heterogener ›Positionen‹ vor, sondern ein Diskurs, in dem wir in einander kreuzenden Beträgen einander zu denken gegeben haben, wie einerseits Alterität Orientierungsprobleme aufwirft oder auch zu lösen verspricht und wie andererseits die menschliche Orientierung auf Alterität antworten kann, es aber auch mit einer radikalen Alteritätsproblematik zu tun bekommt, die sich nicht in ihr aufheben lässt.

Wir – der eine mehr in einer Beobachterperspektive auf Orientierungen, der andere mehr teilnehmend an Verstrickungen in Alterität – wollen das durch die beiden Gravitationspunkte Alterität und Orientierung markierte hochkomplexe Themenfeld sondieren und vermessen. Dadurch sollen auch die gegenwärtigen Identitätsdiskurse einen philosophischen Rahmen bekommen. Als Zeugen werden wir immer wieder einerseits Friedrich Nietzsche, Ludwig Wittgenstein und Niklas Luhmann, andererseits Jacques Derrida, Emmanuel Levinas und Paul Ricœur aufrufen, deren heterogene Philosophien so im Lichte der jeweils anderen ihre Stärken, aber auch ihre Schwächen erkennen lassen.

Mit unserem Dialog, der manchmal zur Kontroverse wird (und umgekehrt), riskieren wir eine neue Form philosophischer Schriften: Zwei Autoren schreiben über ein sie gemeinsam berührendes Thema, aber jeder in differenten Perspektiven und auf seine Weise, jeder anders. Die Alterität bleibt auch hier gewahrt. Wir haben uns jedoch entschieden, die sachlichen Gesichtspunkte in den Vordergrund zu stellen; ein unmittelbarer persönlicher Austausch wie in einem sokratischen Dialog wäre wegen der grassierenden Corona-Pandemie zur Zeit der Entstehung des Buchs gar nicht möglich gewesen; künstlich inszenieren wollten wir ihn nicht. Wir legen sechs Kapitel vor, die, wechselnd vom einen und vom anderen verfasst, in drei Runden Schritt für Schritt aufeinander antworten, ohne ein vorgefasstes Programm abzuarbeiten: Die Gedanken sollten sich in der Auseinandersetzung selbst entwickeln, beide Ansätze aber auch ihre eigene Kohärenz zeigen. Die erste Runde wird eingeleitet durch einen Beitrag zur »Orientierung durch Unterscheiden« überhaupt. Auf ihn antwortet der Beitrag »Alterität jenseits des Unterscheidens«. Auf ihn folgen Vorschläge, das Denken der Alterität in das Denken der Orientierung einzubeziehen. Das lässt wiederum fragen, ob dann eine ihrerseits »unterscheidbare Alterität des Anderen« zum Surrogat der ursprünglich als »radikal« gedachten Alterität wird. In der dritten Runde werden Ergebnisse unserer Diskussion bedacht, in Gestalt wiederum zweier »Bilanzen« A und B, die einander ihrerseits die Waage halten: Danach sind Orientierung und Alterität wohl aufeinander angewiesen, wenn Menschen ihre Welt bewohnbar machen und erhalten wollen. Aber es ist offen, ob, wie und mit welchen Mitteln das bei aller jetzt denk- und erreichbaren Alteritätszugewandtheit der menschlichen Orientierung gelingen wird. Hier hätten weitere Forschungen anzuschließen.

Orientierung und Ander(s)heit

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