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11. Agonale Ordnung von Orientierungen: Positionierung auf einer Seite von Unterscheidungen
ОглавлениеIn schwer entscheidbaren und darum meist strittigen Fällen der alltäglichen, wissenschaftlichen und philosophischen Orientierung bezieht man ›Position‹. Man ›vertritt‹ sie im Bewusstsein, dass auch andere Positionen vertretbar sind. In der Philosophie werden daraus Grundorientierungen wie Empirismus und Rationalismus, Materialismus und Idealismus, Realismus und Antirealismus, Kognitivismus und Nonkognitivismus usw. Von solchen Positionen aus werden dann weitere Orientierungsentscheidungen getroffen. Nach Kant wird die Vernunft auf diese Weise dogmatisch und polemisch gebraucht90, gegen »fremde Vernunft« gerichtet.91 Sie wird kämpferisch, agonal. Sofern die gegnerischen Seiten dennoch eine »allgemeine Menschenvernunft« anerkennen, »worin ein jeder seine Stimme hat«, müsste der Streit, so Kant, durch »eine reife Kritik« aufzuheben sein92; lassen sie die Argumente der anderen Seite nicht gelten, bleibt es bei Positionen, von denen ›Schulen‹ ausgehen können, die sich über Jahrzehnte und Jahrhunderte halten. Philosophische Positionen können sich so stark unterscheiden, dass die Orientierungen füreinander nicht nur unplausibel, sondern auch unverständlich werden.
Mit der ›Position‹ oder der ›eigenen Stimme‹ ist der Standpunkt einer Orientierung bezeichnet, metaphorisch der Ort, an dem man steht und von dem aus man beobachtet, unterscheidet und spricht. Er ist allen durch ihre individuellen Lebensumstände und Bildungsgeschichten mitgegeben; man kann ihn weiterbilden und verändern, hat dann aber immer noch einen Standpunkt. Zu ihm ist alle Orientierung relativ, von ihm aus setzt man sich mit anderen Orientierungen auseinander. ›Relativismus‹ in diesem Sinn ist grundlegend und unvermeidlich. Je nach der Weite oder Enge, Beweglichkeit oder Starrheit seiner Orientierungshorizonte kann man genötigt sein, sich, wo Alternativen sich auftun, mit seinem Orientierungsstandpunkt auf der einen Seite der jeweiligen Unterscheidung zu positionieren, in Dingen des alltäglichen Lebens ebenso wie in der Nutzung von Medien, in der Moral, in der Religion, in der Erziehung, in der Ökonomie, in der Politik, in der Kunst und, wenn man in die Wissenschaft oder in die Philosophie geht, auch in ihnen.
Durch Positionierungen entscheidet man, woran man mit seinen eigenen Unterscheidungen anschließen will, und wird damit seinerseits für andere leicht unterscheidbar. Unter dem Namen von ›-ismen‹ bilden sich im wissenschaftlichen Streit mehr oder weniger scharf gezogene ›Frontlinien‹, an denen man ›kämpfen‹, und ›Lager‹, in denen man sich versammeln kann; indem man sich mit verbreiteten Forschungsmeinungen identifiziert oder mit ihnen identifiziert wird, gewinnt man Profil; der wissenschaftliche Wettbewerb wird gut überschaubar. ›Positionen‹ gibt es in übersichtlichen topologischen Ordnungen verschiedener Spielarten wie Koordinatensystemen, Reihenfolgen, Katalogen, Bilanzen, Stufenleitern, Hierarchien usw. Hier ist stets ein Ordnungsrahmen vorausgesetzt oder mitgedacht, der seinerseits von anderen unterschieden und ihnen in einem weiteren Ordnungsrahmen zugeordnet werden kann. Eine solche Übersicht scheint so befriedigend, dass kaum gefragt wird, wie es jeweils zu einer Positionierung gekommen ist, warum sich der eine hier, die andere dort positioniert. Man schätzt es im Gegenteil, wenn jemand an seinen Positionen festhält; man kann sich dann auf sie oder ihn verlassen.
Aber Positionierungen sind auch Orientierungshindernisse: Indem man sich zu einer Position ›bekennt‹, bleibt man auf der einen Seite einer Unterscheidung stehen, bricht den Orientierungsprozess hier ab. Man macht Halt im Orientierungsprozess, um in seiner Orientierung Halt zu finden. Der Halt wird bestärkt durch die Überzeugungsgemeinschaften, die sich hinter ›-ismen‹ versammeln: Sie können sich leichter ›durchsetzen‹ und ›halten sich‹ länger als ›Einzelmeinungen‹. Nietzsche hat dies schon zu seiner Zeit scharf kritisiert: »Wer nicht durch verschiedene Ueberzeugungen hindurchgegangen ist, sondern in dem Glauben hängen bleibt, in dessen Netz er sich zuerst verfieng, ist unter allen Umständen eben wegen dieser Unwandelbarkeit ein Vertreter zurückgebliebener Culturen; er ist gemäss diesem Mangel an Bildung (welche immer Bildbarkeit voraussetzt) hart, unverständig, unbelehrbar, ohne Milde, ein ewiger Verdächtiger, ein Unbedenklicher, der zu allen Mitteln greift, seine Meinung durchzusetzen, weil er gar nicht begreifen kann, dass es andere Meinungen geben müsse«. Durch eine Positionierung sperrt man sich gegen andere Meinungen und Andersdenkende, zuletzt gegen Alterität überhaupt.
Dennoch blieb Nietzsche zuversichtlich. Er fährt fort: Der sich Positionierende »ist, in solchem Betracht, vielleicht eine Kraftquelle und in allzu frei und schlaff gewordenen Culturen sogar heilsam, aber doch nur, weil er kräftig anreizt, ihm Widerpart zu halten: denn dabei wird das zartere Gebilde der neuen Cultur, welche zum Kampf mit ihm gezwungen ist, selber stark.«93