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8. Grenzen des Unterscheidens: Paradoxie und Anderheit
ОглавлениеDas durch Definitionen vereindeutigte Abgrenzen, so wichtig und unabdingbar es in den Wissenschaften und im Recht ist, stößt auch an inhärente Grenzen, die man ebenfalls nicht gerne wahrhaben will. Zum einen können Unterscheidungen, die mit ihrem negativen Wert auf sich selbst bezogen werden, zu Paradoxien führen wie im berühmten Beispiel dessen, der sagt, er lüge mit dem, was er sagt: Nach der Unterscheidung von Wahrheit und Lüge sagt er die Wahrheit, wenn er sagt, dass er lügt, und zugleich nicht die Wahrheit, wenn es wahr ist, dass er lügt. So wird auch die Unterscheidung von Recht und Unrecht paradox, wenn man sie auf sich selbst anwendet: Es kann dann zum Unrecht werden, überhaupt Recht und Unrecht zu unterscheiden. Von den Paradoxien der Zeit war oben schon die Rede. Bei solchen Selbstbezügen (wird die Unterscheidung mit dem positiven Wert auf sich selbst angewendet, entsteht eine bloße Tautologie) blockiert das Unterscheiden, kommt nicht weiter, und man muss dann Wege suchen, die Blockade aufzulösen oder mit Luhmann die Paradoxien zu entparadoxieren. Das geschieht mit weiteren Unterscheidungen entweder auf defensive Art, indem man die Paradoxien durch weitere Definitionen logisch entschärft (z. B. durch ein Verbot des Selbstbezugs)60, oder auf pragmatische, indem man sie durch andere Unterscheidungen verdeckt oder invisibilisiert (z. B. die Paradoxien der unanschaulichen Zeit durch den Begriff der anschaulichen Bewegung). Man kann aber auch auf kreative Art mit beiden Seiten der Unterscheidung weiterarbeiten (z. B. mit Gleichzeitigkeit und Ungleichzeitigkeit, um dadurch einen neuen Begriff der Zeit zu gewinnen, oder mit Wahrheit und Lüge, um in der alltäglichen und politischen Kommunikation friedliche Diplomatie statt aggressiver Rechthaberei zu ermöglichen). Im letzten Fall werden aus einschränkenden Denkhindernissen, wie Luhmann es vorgeführt hat61, weiterführende Denkmittel: Die Grenzen des theoretischen Unterscheidens werden erweitert und irritierende Paradoxien halten sie bewusst.
Ethisch gerät das definitive Begreifen-Wollen, wie angedeutet, in der inter-individuellen Kommunikation, besonders im face-à-face, an Grenzen. Was im wissenschaftlichen Zugriff auf die Natur zur Routine geworden ist, das Eingreifen in sie mit eigenen Begriffen, wird im face-à-face als Übergriffigkeit spürbar: daran, dass man andere mit seinen Unterscheidungen aufbringen, verärgern, verletzen kann, sei es bei Identifikationen ihrer selbst, sei es bei der Beschreibung von Dritten und Drittem. Nicht erst persönliche Charakterisierungen (›ich sage dir das auf den Kopf zu‹), auch schon gängige Bewertungen (›du bist nun einmal ein Beamter‹) und schlichte Einordnungen (›ja, wenn man aus Afrika stammt‹) können hier irritieren, die einen mehr, die andern weniger.62 In der Kommunikation unter Anwesenden bedarf es darum noch erhöhter Aufmerksamkeit auf den Zeichengebrauch und besonderer Orientierungstugenden wie Umsicht, Rücksicht, Weitsicht, Vorsicht, Voraussicht und Nachsicht. Philosophen wie Emmanuel Levinas, Jacques Derrida, Bernhard Waldenfels und Burkhard Liebsch setzen die Analyse des Unterscheidens hier an.63 Danach erscheinen andere immer noch anders, als man sie mit sprachlichen Unterscheidungen unterscheiden kann, oder ›ganz anders‹ (tout autrement), inkommensurabel; für die Unterschiedenheit vom Unterschieden-Werden selbst ist ›Anderheit‹ zum ethischen Terminus geworden. Mit der Rücksicht auf die Anderheit gibt man die eigene und unvermeidlich egozentrische Unterscheidungs-, Entscheidungs- und Wertungshoheit auf oder mit einem Wort die Deutungshoheit des Unterscheidenden in der traditionellen Subjektphilosophie. Man öffnet sich für inkommensurable Orientierungen anderer – auf die Erfahrungen eben ihrer Inkommensurabilität hin.
Nietzsche hat die Identifikationsmacht schon der alltäglichen Sprache, das Angleichen der Anderheit Anderer zum »Ähnlichen, Gewöhnlichen, Durchschnittlichen, Heerdenhaften« oder dem »Gemeinen« im Sinn des Allgemeinen und Aggressiven als »Gewalt« erlebt und beschrieben, als die »gewaltigste«, »welche über den Menschen bisher verfügt« hat. Umso mehr forderte er Rücksicht auf die »Ausgesuchteren, Feineren, Seltsameren, schwerer Verständlichen« ein.64 In hochdifferenzierten modernen demokratischen Gesellschaften sind sie mehr als eine Minderheit. Aber auch sie müssen weitgehend die eingespielte Sprache gebrauchen, um sich im Alltag zu verständigen, auch, wenn sie über sich selbst sprechen. So können sie auch ihre eigenen Selbstdeutungen als Selbstdiskriminierungen wahrnehmen: »Unsre Handlungen sind im Grunde allesammt auf eine unvergleichliche Weise persönlich, einzig, unbegrenzt-individuell, es ist kein Zweifel; aber sobald wir sie in’s Bewusstsein übersetzen, scheinen sie es nicht mehr …«65 Je feiner Menschen zu unterscheiden lernen, desto mehr leiden sie an der Unfeinheit von Unterscheidungen.