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Schweinehunde schlafen lang

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So, daheim und ausgeruht. Warum fing ich überhaupt mit dem »Streak-Running« an? Ich hätte ja auch dreimal die Woche laufen können, oder viermal, oder – verblüffend simpel – einfach immer dann, wenn mir danach ist? Welchen Vorteil hat es, jeden Tag zu laufen?

Gut möglich, dass mir am »Streak«-Konzept die unkomplizierte Struktur gefiel – da ist schon mal ein Tagesordnungspunkt, auf den man sich verlassen kann, gerade in der Pandemie.

Für fahrendes Volk, Musiker, »Freunde des Humors und aller umliegenden Ortschaften« (Schnack meines Vaters) bietet eine Pandemie mit ihrem Absagehagel nicht eben die festesten Lebensfundamente. Der darbende Artist kommt ins Grübeln, und mit kleinen Kindern gesellt sich ein weiterer Unsicherheitsfaktor hinzu.

Gewisse Korsettstangen im Alltag geben mir womöglich das traute Gefühl, alles unter Kontrolle zu haben. Beispiel: Ich liebe es, den Tag mit meiner 70 Jahre alten, hölzernen Kaffeemühle einzuläuten. Für drei Minuten gilt: Ich mahle, also bin ich. Solange ich mahle, weiß ich mich in völliger Sicherheit, und der Kaffee, den ich anschließend genieße, ist wenigstens teilweise mein Werk – kein Starbucks, kein Vollautomat kann dieses beruhigende Gefühl des Schöpferstolzes vermitteln.

Das ist das Geheimnis der Kaffeemühle: Es gibt nichts, was einen Menschen zufriedener macht als ein selbst erarbeiteter Erfolg. Auf der Bühne zum Beispiel kann ich noch so viel ackern, mich penibel vorbereiten, mir Mühe geben – wenn das Publikum irgendeinem Zeitgeschmack folgend lieber, sagen wir mal, normalsichtige, großgewachsene Halbkamele mit Bienenkorbfrisur die »Internationale« schmettern hören möchte, habe ich halt Pech gehabt.

Ganz anders ist die Sache beim Kaffeemahlen – und beim Sport.

Zweifelsohne erfordert regelmäßiges Ausdauertraining eine gewisse Disziplin – von jedem. Glauben Sie nicht, dass der berühmte innere Schweinehund ein seltenes Tier ist, es gehört zu uns Menschen wie die Darmflora – so wie wir alle innerlich von Kleinstlebewesen bewohnt sind, so steckt auch in uns allen der berühmte Schweinehund, sogar in mir.

Ich lebe mit meinem Exemplar in grundsätzlicher Eintracht, lasse mich gerne von ihm aufs Sofa zwingen, allerdings habe ich seine charakterliche Schwachstelle identifiziert: Am sehr frühen Morgen, wenn alle Welt noch schläft, pennt auch er.


Überraschung: Meine Kaffeemühle lässt sich nicht per App steuern.

Diese offene Flanke heißt es listig zu nutzen; leise schleiche ich mich zu meiner Kaffeemühle und kurbele mich in Schwung, brühe mir eine Tasse Kaffee, schlüpfe in den Sportdress und stehle mich hinaus an den Busen der Natur. Und wenn der Schweinehund wach wird, bin ich normalerweise bereits über alle Berge.

Diese Morgenroutine klappt umso besser, je fester sie in meinem Gesamt-Tagesablauf verankert ist, und sportfreie Tage, womöglich sogar mehrere hintereinander, sind für diese Verankerung Gift. Bei meiner sportlichen Alltagsplanung orientiere ich mich am von mir so getauften Zahnpflegemodell: Wir alle (äh, will sagen: die meisten von uns) putzen täglich unsere Zähne und denken nicht vor jeder Bürstung lange über deren Notwendigkeit nach. Und so, wie ich mir die Beißerchen pflege, so widme ich mich auch meinem Restkörper: am besten täglich und gedankenlos.

Der längste Streak wurde übrigens von Ron Hill aus England gelaufen, vom 21. Dezember 1964 bis zum 29. Januar 2017, also satte 52 Jahre und 39 Tage. Keine Sorge; ich habe nicht vor, in diesen Bereich vorzustoßen, wäre auch vor dem Hintergrund meiner restlichen Lebenserwartung ein recht anspruchsvolles Vorhaben.

Und warum überhaupt laufen? Fahrradfahren macht mir genauso viel Spaß wie Laufen. Ein Nachteil des Radelns ist vielleicht die Tatsache, dass ein Rad hierfür unverzichtbar ist, was in meinem reisereichen Job mitunter erhöhten logistischen Aufwand nach sich zieht. Aber ich bin darin geübt, allzeit ein Faltrad im Gepäck zu haben, kenne alle Radwege zwischen Hotels, Studios und Flughäfen in Deutschland aus dem Effeff. Dass ich mich fürs Laufen entscheide, hat vor allem mit dem zeitlichen Aufwand zu tun. Um den Körper in vergleichbarer Weise zu strapazieren, müsste ich in der Ebene etwa die dreifachen Umfänge auf dem Rad absolvieren. Und so viel Freizeit gibt mein Kontingent derzeit nicht her. Am liebsten komme ich vom Sporteln heim, wenn die restliche Familie noch schläft, also etwa gegen acht Uhr. Schwimmen wäre auch denkbar, aber bis auf Weiteres haben die Hallenbäder eh zu. Also ist Laufen Trumpf.

Und so streake ich mich durch den Herbst. Die Corona-Inzidenzen steigen, ein neuer Lockdown zeichnet sich ab und in mir wächst das Bedürfnis, der vermaledeiten Pandemie etwas Einmaliges, etwas Großes entgegenzusetzen – irgendetwas, was mich später, bei Kaminabenden im Altersheim etwa, positiv an das werte Virus erinnern wird.

So ’n Streak ist ja schön und gut, aber mir schwebt etwas weit Kühneres vor, tollkühn gar, vielleicht sogar ein echter Grenzgang – so nennt Reinhold Messner jene Unternehmungen, bei denen man im Vorhinein nicht weiß, ob man sie überhaupt zu Ende führen kann. Wirkliche Abenteuer halt.

Aber wie könnte ein solches Abenteuer im Coronäum beschaffen sein? Sportwettbewerbe jibbet einstweilen nicht, weite Reisen scheiden bis auf Weiteres aus, und wie streng die gegen das Virus ergriffenen Maßnahmen ausfallen, lässt sich Ende 2020 kaum sagen. Womöglich, so sage ich mir mit einem Stoßseufzer, gibt es sogar bundesweite Ausgangssperren. Das Abenteuer muss zur Not also im eigenen Garten, auf der Terrasse, in den eigenen vier Wänden durchführbar sein, ich muss Herr über die entscheidenden Parameter sein, unabhängig von Söder und Söhnen, und: Ich werde das Abenteuer allein durchleben müssen, um auch bei striktesten Kontaktbeschränkungen handlungsfähig zu bleiben.

Lauf, Wigald, lauf

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