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Ist er verrückt geworden?
ОглавлениеUff. Vor mir liegt eine endlose Gerade, ein grob geschotterter Waldweg, dessen Ende in der flirrenden Hitze eines zentnerschwer drückenden Sommertages verschwimmt. Schweiß rinnt mir ins Auge. Ich schnaufe wie eine verrostete Kleinbahn-Lokomotive, doch während auch die mickrigste Lokomotive den vor mir liegenden Anstieg wacker bewältigen würde, setze ich zaghafte Schrittchen, scheine auf der Stelle zu trippeln.
Durst! Gierig stecke ich mir den Schlauch meines Trinkrucksackes in den Mund, beiße auf das Mundstück und sauge. Ich zwinge einige wenige Resttropfen aus der Blase, dann ist Ebbe.
Das hat mir gerade noch gefehlt! Jetzt würde ich sie alle gerne verfluchen: den leeren, nichtsdestotrotz beschwerlichen Rucksack, den öden Weg, die unbarmherzige Hitze, mich und mein bescheuertes Unterfangen – aber zum herzhaften Fluchen bin ich zu schwach.
Stattdessen stelle ich mir bange Fragen: Was laufe, ach was, stolpere ich hier so buchstäblich halbgar durch die Gegend? Welcher Teufel ritt mich, als ich mir vornahm, im Jahr 2021 meinen sportlichen Lebenshöhepunkt zu, nun ja, zu feiern, und ausnahmslos jede Woche einen Marathon zu absolvieren? Am Stück natürlich, komme, was wolle? Geltungsbedürfnis, blanke Angeberei? Bittere Frucht einer späten Midlife-Crisis? So eine Art asexueller Masochismus, Flucht vor Was-weiß-ich oder ganz schlicht: Blödheit?
Nein, natürlich weiß ich noch genau, wie es dazu kam: Am Anfang war Corona.
Meine Frau Teresa und ich kümmerten uns in unserer Münchener Wohnung um unsere Kinder Theodor (2) und Mathilda (1), nachdem die meisten unserer Auftritte abgesagt worden waren. Teresa ist von Beruf Opernsängerin, Koloratursopran, allerdings nicht mit Festanstellung, sondern freiberuflich – in der Pandemie nicht eben von Vorteil.
Ich schrieb nebenbei eine Art Corona-Tagebuch und stellte es ins Internet, was Tag für Tag kontroverse Diskussionen auslöste. Mal brachte ich Hygiene-Jakobiner, mal Querdenker gegen mich auf. Ansonsten drehte ich ab und an eine Runde auf dem Rennrad, hielt mich emsig an alle AHA-Regeln und schnabulierte nicht weniger emsig – eine Pandemiebewältigungstaktik, der ich mich in jenen Tagen nicht ganz allein zu bedienen schien.
Natürlich weiß ich nur zu gut, dass es sich bei der melonenhaften Wölbung, die meine Körpermitte ziert, nicht ausschließlich um Corona-Speck handelt. Und auch nicht um Muskelmasse oder um einen Blähbauch, wie ich mir schon manches Mal einzureden versuchte.
Die Wölbung entstand im Laufe der letzten zehn Jahre. Sie mag mit der Verlangsamung der Stoffwechselprozesse bei Herren in ihren besten Jahren zusammenhängen, lässt sich aber wesentlich einfacher mit einem einzigen Wort erklären: Happa-Happa.
Ich esse einfach furchtbar gerne, ob mit Lockdown oder ohne, und ich bin nicht sonderlich wählerisch bei der Auswahl meiner Lebensmittel. Ja, ich genieße es, hochwertige Kraftstoffe zu tanken, gerne auch vegan. Aber wenn nichts anderes da ist, pfeife ich mir auch schon mal ein Paket Nürnberger Bratwürste rein, um anschließend den Abend mit einer Familienpackung Speiseeis zu krönen.
Im Frühsommer 2020 jedenfalls stand ich bestens im Futter, und ich hielt eine Extraportion Leibesübung für angezeigt. Im Sommer gesellte sich zur Suche nach einem geeigneten sportlichen Ziel eine gewisse Unlust, mich weiterhin nahezu ausschließlich mit dem leidigen Covid-19-Thema zu beschäftigen, zumal mir als tendenziell eher harmoniebedürftigem Zeitgenossen das Remmidemmi der sozialen Netzwerke regelmäßig die Laune verhagelt.
Klarer Fall: Ein sportliches Vorhaben musste her, wenigstens ein großer Vorsatz, der mich eine Weile beflügeln könnte. Über Sinn und Unsinn körperlicher Betätigung an der frischen Luft gibt es nichts zu streiten, nicht einmal bei Facebook und Co – dachte ich jedenfalls damals.
Mitte August 2020, ich zeichnete gerade für Sat.1 mit Hugo Egon Balder und Hella von Sinnen die letzten »Genial daneben«-Folgen in Köln auf, begann ich einen sogenannten »Streak«.
»Streak« kommt aus dem Englischen, heißt »Strähne« und bezeichnet eine spezielle Form des Dauerlaufs, nämlich: Man läuft ausnahmslos jeden Tag, wobei die Länge der Laufstrecke nicht entscheidend ist. Nach dem Reglement der »United States Running Streak Association« reicht eine einzige gelaufene Meile pro Tag aus, um einen Streak fortzuführen, also schlappe 1,61 Kilometer.
Klingt machbar, ist jedoch in der Realität gar nicht ohne – doch dazu später mehr.
In diesem Sommer jedenfalls lief ich morgens die acht Kilometer vom Savoy Hotel am Kölner Hauptbahnhof zum Fernsehstudio in Köln-Ossendorf, manchmal auch wieder abends zurück. Einmal pro Woche verlängerte ich die Strecke, und an manchen Tagen beließ ich es bei drei, vier Erholungskilometern. Hella und Hugo, meine alten Weggefährten, konnte ich mit meinem Steckenpferd nicht schocken, sie wissen um meine Sport-Obsession. Anstecken konnte ich sie mit meinem Fimmel nie. Wenn das Thema aufs Laufen kommt, kramt Hugo immer gerne seinen liebsten Jogging-Witz hervor, und der geht so: »Marathon? Bin ich auch schon gelaufen. In Frankfurt. Mit zwei Übernachtungen.«