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Lauf-Apps: Gorbi ist schuld!

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Kurz vor Weihnachten kommt mir die entscheidende Idee: Jede Woche ein Marathon. Der Gedanke ist mir nicht ganz neu. Ich hegte ihn schon einmal, vor 20 Jahren, ließ die Sache dann aber doch bleiben, weil mir das Unterfangen zu anspruchsvoll und der Reiseaufwand zu groß erschien – damals dachte ich an Wettbewerbe, Stadt-, Land- und Bergmarathons zwischen Karlsruhe und Kalkutta, Flensburg und den Fidschi-Inseln.

Aber, von Corona mal ganz abgesehen: Erstens sind derlei Kerosinverschwendungen heutzutage eh nicht mehr vertretbar, zweitens passen solch wilde Weltreisen nicht wirklich zur Lebensrealität mit kleinen Kindern, und drittens gibt es inzwischen Apps, mit denen man sich und einem interessierten Publikum beweisen kann, dass man’s ins Ziel geschafft hat, wo auch immer sich dieses befindet. Um Marathons nachprüfbar einzulaufen, braucht man jedenfalls nicht mehr zu reisen. Früher bekam man im Ziel eine Finisher-Medaille um den Hals gehängt, heute postet man die absolvierte Heldentat einfach bei »Strava«, und alle wissen Bescheid.

Es gibt natürlich noch einige andere, nicht weniger taugliche Apps wie zum Beispiel »Runtastic« oder »Komoot«, aber ich nenne nicht ohne Grund Strava zuerst, da ich in deren Community die ambitioniertesten Sportsfreunde vermute, die, aus welchen Gründen auch immer, den Satz geprägt haben: »Ist es nicht auf Strava, ist es nicht passiert.«

So sieht sie aus, die totale Transparenz.

Das hat sich Gorbatschow sicher ganz anders vorgestellt, als er »Glasnost« predigte.

Ich bin beileibe nicht der erste Mensch, der sich vornimmt, einen Marathon nach dem anderen zu laufen. Weithin bekannt ist etwa der Hamburger Arzt Christian Hottas, einer der weltführenden Marathonsammler, der eine eigene Wettkampfreihe ins Leben gerufen hat. Die »Teichwiesen-Marathons« sind sogar beim Deutschen Leichtathletik-Verband angemeldet und werden auf einer Laufstrecke bei ihm hinterm Haus absolviert (oder so ähnlich – teilgenommen habe ich da noch nie).

Butter bei die Fische? Der Weg vom Wälzen der Idee bis zum Beschluss geht rasend schnell, umgekehrt proportional zum Zögern der Ministerpräsidentenkonferenz, die in diesen vorweihnachtlichen Tagen 2020 eher betulich auf die steigenden Corona-Inzidenzzahlen reagiert.

Ein wenig bang blicke ich auf meinen Trainingszustand: Zwar bin ich seit dem 12. August ausnahmslos jeden Tag gelaufen, aber die Zahl meiner Läufe über mehr als 20 Kilometer lässt sich an einer Hand abzählen. Eigentlich, so steht es in jedem anständigen Fachbuch zum Thema Lauftraining, sollte ein Marathon mit längeren Läufen vorbereitet werden, also mit solchen jenseits der 30 Kilometer. Aber, so sinniere ich, ist der Unterschied zwischen, sagen-wir-mal, 35 und 42 Kilometer wirklich entscheidend? Kann man nicht gleich von null auf 100, äh, von 25 auf 42 gehen?

Als erstes erzähle ich meiner Gattin Teresa von der Idee.

»Schatz, was hältst du davon, wenn ich ab sofort jeden Freitag einen Marathon laufe?«

»Du meinst einen ganzen? Zweiundvierzigkommairgendwas Kilometer? Warum?«

»...« (Schulterzucken)

»Na, dann viel Glück!«

Sicherheitshalber plane ich eine Generalprobe: Zwischen den Jahren, am Tag nach dem Weihnachtsfest, das ich zusammen mit all meinen Kindern, meiner Frau und meinen Eltern bei Grünkohl und Pinkel in München verbringe, will ich das – innerlich bereits beschlossene – Vorhaben testen.

Unterm Weihnachtsbaum mache ich alle Anwesenden mit meiner Idee vertraut. Meine großen Söhne, die 23-jährigen Zwillinge Leander und Cyprian, nicken respektvoll.

Cyprian ist begeisterter Alpinist, studiert in Innsbruck Sporttourismus, er ist quasi vom Fach. Leander studiert in Amberg Medientechnik und Produktion, auch er hat im Lockdown den Laufsport für sich entdeckt. Beide können meiner Idee sogleich einiges abgewinnen.

Im Gesicht meiner Mutter meine ich eine gewisse Sorge zu erahnen, aber vielleicht überinterpretiere ich ihren Blick. Lediglich mein 84-jähriger Vater lässt sich zu einem kornklaren Kommentar hinreißen: »Völliger Quatsch, diese übertriebene Lauferei. Wozu gibt es Autos!?«

Mit vollem Bauch und einem Aquavit in der Hand genieße ich das langsam in mir ansteigende Lampenfieber. Weiß ich, worauf ich mich einlasse? Weiß meine Frau, was sie tut, wenn sie beteuert, mich nach Kräften unterstützen zu wollen? Momentan ist mein Arbeitskalender pandemiebedingt leer, aber was soll werden, wenn sich die Lage normalisiert und ich wochenlang in irgendeinem Studio schuften darf? Was tun, wenn ich umknicke, mir die Haxen breche, mich mit Corona infiziere? Okay, bei einem milden Verlauf, so antworte ich mir sogleich voller Optimismus, würde ich einfach in der Quarantäne von der Schrankwand zum Sofa und zurückwandern, so lange, bis ich 42 Kilometer auf der Uhr habe. »Du liebe Güte, wie naiv«, schilt mich meine innere Stimme der Vernunft, und ich nicke einsichtig. Besser wäre es, sich gar nicht erst zu infizieren, und ich beschließe, die AHA-Regeln zukünftig noch ein wenig ernster zu nehmen als bisher.

Ein anderes Problem ist unsere Wohnsituation: Erst kürzlich haben wir unsere Wohnung gekündigt (die hohe Miete erschien uns in Anbetracht unserer beschränkten Auftrittstätigkeit nicht mehr vertretbar), und die Suche nach einer neuen Bleibe gestaltet sich im Großraum München, oh Wunder, schwierig. Eines Tages jedoch werden wir ein Heim gefunden haben (müssen), und dann heißt es, viel Zeit in Umzug und Co zu stecken. Nehme ich mir zu viel vor?

Und schließlich: Bin ich überhaupt orthopädisch zum geplanten Exzess in der Lage? Knie- und Hüftschmerzen als Überlastungssymptome sind mir nicht unbekannt, und bereits als junger Marathonläufer (also vor 20 Jahren) zwang mich eine Sehnenreizung am Schienbein (Insider sprechen von »Shin Splints«) zu einer zweiwöchigen Laufpause.

Lauter Unwägbarkeiten, in denen sich einer der großen Reize meines Projekts offenbart: Ein ganzes Jahr ist ein unerhört langer Zeitraum. Niemand kann seriöse Prognosen über eine komplette Sonnenumrundung der Erde abgeben – ich persönlich würde es nicht einmal ausschließen wollen, dass die Erde auf ihrem Weg irgendwann sagt: »Pustekuchen, mir ist fad, ich kehre um, fliege wieder zurück Richtung Januar.« Oder dass die Sonne einfach aufhört zu leuchten, was womöglich den Weiterflug der Erde gar nicht verhindern würde, aber wir Lebewesen könnten ihn nur noch kurze Zeit genießen.

Kaum weniger wage ich, mein persönliches Schicksal vorherzusagen. Die Erfahrung lehrt, dass jede Treppe, jede Haushaltsleiter gleichsam vom Tod miterklommen wird, dass der Sensenmann nicht nur zu Hause, sondern genauso bei jeder Reise mit auf der Droschke sitzt, und auch bei Fußreisen ist er zugegen, er läuft allzeit hinter mir her – manchmal meine ich sogar zu spüren, wie seine Sense mein Haupthaar touchiert. Und wenn man sich meinen Hinterkopf genau anschaut, kann man die Stelle sogar sehen!

Auch in meinem Innern, unter dem Resthaar, lauern womöglich Risiken: Vor einem Jahrzehnt habe ich mich mal einem 24-Stunden-EKG unterzogen, um der Ursache meiner unregelmäßigen Asthma-Anfälle auf die Spur zu kommen. Die Ursache konnte nie ermittelt werden, aber weil mein Ruhepuls im Schlaf unterhalb der Schwelle dessen fiel, was vom EKG messbar war, reagierte mein damaliger Hausarzt ernsthaft geschockt und wollte mich umgehend zum Kardiologen schicken.

Noch heute pumpt mein Herz in Ruhe weniger als 40-mal pro Minute, und ich bilde mir ein, mit diesem Wert ein völlig unbesiegbarer, unzerstörbarer, ja unsterblicher Halbgott zu sein, so was wie Zeus’ Kuckuckskind Minotaurus, halb Stier, halb Mensch – das käme von der Herzfrequenz her ungefähr hin. Was, wenn meine Unbesiegbarkeit blanke Autosuggestion ist und ich tatsächlich wegen eines schwerwiegenden Defekts in ärztliche Obhut gehöre?

Eine heimliche Myokarditis, ein Aneurysma, der Puls ist zu hoch, und – zack! – läge ich im Rinnstein und würgte ein letztes Dankeschön heraus.

Jenseits des Jenseits: Wer sagt mir, dass ich nicht irgendwann die Lust verliere und stantepede stehenbleibe, etwa weil mich die Leidenschaft für etwas völlig anderes ergriffen hat, Tischtennis, Landschaftsmalerei in Öl, Vogelbeobachtung auf den Färöern oder ganz schlicht: Sitzen? Es wäre nicht das erste Mal, dass ich mich von einer Passion abwende, um mich nahezu gleichzeitig in ein neues Abenteuer zu stürzen.

Wenn ich also mir selber verspreche, ein Jahr lang zäh bei der Sache zu bleiben, unterwerfe ich mich eventuell einem Zwang, der mir noch böse auf die Füße fallen kann.

Als ich meine sportlichen Jahresvorsätze spätabends bei Facebook poste, werde ich zudem von so manchem Kommentator auf mein fortgeschrittenes Alter hingewiesen, was mir allerdings reichlich uncharmant vorkommt.

Lauf, Wigald, lauf

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