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Trimm-Trab gegen Haarausfall

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Es ist noch vor vier Uhr, als ich mich aus dem Familienbett stehle. Friedlich schnurcheln meine Lieben weiter, bemerken mein Fortgehen nicht. Während der Kaffee zieht, fülle ich eine verdächtig preisgünstig im Internet erworbene Trinkblase mit Leitungswasser, stecke diese in einen alten Laufrucksack und packe mir außerdem als Proviant eine bibogelbe Banane ein. Ganz bewusst verlasse ich mich ansonsten auf jene Ausrüstung, mit der ich mich durch den Spätherbst bis zum heutigen 183. Streak-Tag gelaufen habe: eine ganz normale, dunkle Cord-Hose, nichts Sportspezifisches, ein Ski-Unterhemd, darüber eine Fahrrad-Regenjacke und an den Füßen über farbenfrohen Baumwollsocken meine bewährten Laufschuhe aus dem Hause Asics. Einstweilen keine Experimente. Ich will kein großes Ding aus meiner Generalprobe machen – wenn diese misslingt, und es liegt am Material, kann ich ja immer noch einkaufen gehen. Überhaupt glaube ich, dass es am schlauesten ist, den Ball flach zu halten, ja nicht zu viele Emotionen in den beabsichtigten langen Lauf zu legen. Denn eine Extraportion Adrenalin, die einen beim großen Jahreshöhepunkt, etwa im Endlauf der Olympischen Spiele, über sich hinauswachsen lassen kann, ist einerseits allwöchentlich sowieso kaum abrufbar, verführt andererseits jedoch zu übertriebenem Tempo, und »Hetzen und Wetzen werden dich verletzen«, wie meine innere Stimme reimt, während ich am Kaffee nippe. Auch für das dem Überpacen innewohnende immunologische Risiko finde ich trotz der frühen Stunde eine griffige Formel: »Hast ist der Vater von Hust.« Dichterisch bin ich schon mal recht gut in Form – mal sehen, wie’s um meine Beine steht.

Ich leere meine Kaffeetasse, verzichte ansonsten auf Frühstück, und öffne die Haustür. Es ist knapp unter null, der Himmel ist bedeckt. Fast laufe ich los, dann fällt mir ein, dass in Bayern neuerdings eine nächtliche Ausgangssperre bis fünf Uhr morgens gilt. Mit Blick auf die Uhr bleibe ich noch ein paar Minuten im Türrahmen stehen, ehe ich mich um zwei vor fünf in Bewegung setze. Sollte mich jetzt noch ein Polizist zur Rede stellen und mir 500 Euro Geldbuße abknöpfen wollen, könnte ich mich allein schon durch sehr langsames Antworten in die Legalität hinübermogeln.

Der Frühstücksverzicht ist übrigens in den letzten Monaten so eingeübt – Laufen am Morgen auf nüchternen Magen gilt als probate Methode, den Fettstoffwechsel in Schwung zu bringen, also einen größeren Anteil der benötigten Energien aus den – wenigstens bei mir – reichlich vorhandenen Speicherfetten bereitzustellen. Ein weiterer Aspekt ist, dass mich ein übervoller Magen prall und lethargisch macht – lieber laufe ich mit leerem Tank los und fülle später auf.

Unsere Wohnung befindet sich im Münchener Stadtteil Neuhausen-Nymphenburg; ich trabe hinüber zum Nymphenburger Kanal, erfreue mich am königlichen Schloss und wende mich dann ostwärts, zum Hubertusbrunnen und weiter zum Olympiapark.

Die Ausgangssperre zeigt Wirkung, keine Passanten außer mir und nur wenige Autos wagen sich durch die kalte Nacht. Normalerweise erklimme ich immer, wenn ich vorbeitrabe, den Olympiaberg, um mich am grandiosen Panoramablick auf das kühne Zeltdach des Olympiastadions und den Rest der großen Stadt zu erfreuen, aber vorsichtshalber spare ich mir die Höhenmeter. Bis auf Weiteres gilt: Einmal pro Woche Marathon wird happig genug. Ich werde mir die Aufgabe nicht zusätzlich erschweren, indem ich auf dem Weg Gipfelkreuze »mitnehme« – und sei es auch nur das Gipfelkreuz eines innerstädtischen Schuttberges.

Ein Kontrollblick aufs Handy: Die Strava-Dokumentation ist eingeschaltet. Vorsichtshalber lasse ich auch meine Laufuhr am Handgelenk mitlaufen, ein preisgünstiges Vorführmodell eines chinesischen Staatsbetriebes. Sollte mein Handy unterwegs ausfallen, kann ich immer noch auf die Daten meiner Uhr zurückgreifen. Zwei Beine, zwei Messsysteme – die wichtigsten Instrumente sind bei mir doppelt ausgelegt, wie in der Luftfahrt. Ich komme mir nachgerade professionell vor.

Mit ruhigem Puls, gleichmäßigem Tempo und innerem Frohlocken durchmesse ich den Stadtteil Milbertshofen. Von unzähligen Stadtwander-, Lauf- und Radtouren ist mir das Münchener Wege- und Trampelpfadenetz gut bekannt, und während des Laufens puzzle ich im Kopf eine schlaue Streckenführung zusammen. »Schlau« heißt dabei, möglichst wenig Autokontakt, möglichst kein Kilometer zu viel. Optimal wäre es, wenn ich genau bei Kilometer 42,2 wieder vor der Haustür stehe. Nachdem der Kurs einigermaßen ausgetüftelt ist, befasse ich mich locker trabend mit meiner familiären Situation.

Theo ist zweieinhalb Jahre, Mathilda 13 Monate alt. Was meine Lauferei auf keinen Fall bewirken darf, ist, dass die beiden oder ihre Mutter Teresa sich vernachlässigt fühlen, weil ihr Papa stundenlang seinen Marotten frönt. Am besten, ich laufe komplett nachts, während die Brut schläft – aber da ist ja Ministerpräsident Söder mit seinen Ausgangsbeschränkungen dagegen. Wenn ich seinen Jüngern erkläre, dass ich nachts sporteln will, zeigen die mir einen Vogel. Sei’s drum; ich muss das Ding mit mir selber ausbaldowern.

Meine Gattin Teresa weiß, dass ich ohne Bewegung durchhänge. Ich stiere dann mit vinylschwarzen Augenringen aus dem Fenster, gehe gebückt und seufze markant.

Teresa bevorzugt die sauerstoffgesättigte Version meiner selbst und hat mit mir vor einigen Jahren sogar schon gemeinsam die Alpen überquert: Sie per Mountainbike, ich aufm Tretroller nebenher, so dass wir à peu près in einem Tempo unterwegs waren.

Klingt jetzt etwas despektierlich, ist aber gar nicht so gemeint; ich kenne viele Paare, die nicht gemeinsam Sport treiben, weil ein Partner sich über- oder unterfordert fühlt, und das muss keineswegs immer die Frau sein! Diesen Paaren sei hiermit die Kombi Fahrrad/Tretroller ausdrücklich ans Herz gelegt. Wir jedenfalls sind von Garmisch nach Riva del Garda gerollt, in fünf Tagen auf der Via Claudia und mit dem Gampenpass hinter Meran als höchstem Punkt – das alles in blühender Eintracht. Am ersten Tag war ich noch skeptisch, ob die Idee wirklich gut sei, und zwar, als meine jegliches Training für überflüssig haltende Gattin die von mir bereit gestellten Fahrradhandschuhe verkehrt herum anzog, mit der Handinnenseite nach außen – aber das war auch schon der einzige irritierende Moment. Und als wir am Gardasee ankamen, war unser gemeinsames Schicksal endgültig besiegelt.


Die Kirche von Graun im Vinschgau hat schon bessere Tage gesehen.

Teresa ist nicht neu, dass ich gerne über mein früheres Leben als Shetland-Pony berichte: Schließe ich die Augen, sehe ich mich unter dicken blonden Zotten hinaus aufs Nordmeer linsen; ich stehe auf einer begrasten Klippe, hoch über der tosenden Brandung, kaue Seggen und Portulak, und in der Ferne sehe ich einen Schweinswal aus den Fluten springen. Ich wende den Kopf, und neben mir steht eine kurzbeinige Stute, die mir zärtlich zuwiehert – das ist Teresa, ganz klar.

Und weil sie mich kennt, weiß sie, dass ich raus muss, an die frische Luft, zum Traben, möglichst täglich. Ihre Zustimmung für mein Vorhaben kam jedenfalls prompt, und dafür schwelge ich in Dankbarkeit, während ich auf den Parkwegen nördlich des Münchener Rangierbahnhofes im Kegel meiner Stirnlampe auslüfte, westwärts bis zur Würm, der kleinen, introvertierten Schwester der Isar, und weiter zur Stadtgrenze, wo in einem überdimensionierten Schuhkarton die Paulaner-Brauerei ihre Kaltgetränke herstellt (oder lagert – das Gebäude ist fensterlos und verrät nicht seinen Zweck).

Bald nähere ich mich dem dreißigsten Kilometer, und mich überkommt ein erster Appetit. Blass verstaue ich meine Stirnlampe im Rucksack, klaube dafür meine Banane heraus und schäle sie zittrig. Zum Essen lege ich eine Gehpause ein, die ich mutwillig verlängere, als ich mir als Frühstücksergänzung noch einen kältebedingt kaum kaubaren Kohlehydratriegel einverleibe. Dann tippbitte ich die »Komoot«-App, mir einen Wanderweg nach Hause zu empfehlen, und ohne weitere besondere Vorkommnisse treffe ich wieder bei meinen Lieben ein, nach 4:47 Stunden, um viertel vor zehn am Vormittag.

»Wie war’s?«, fragt meine Frau. Ich nicke tonlos, vielleicht gar zu undramatisch, weil sie mir direkt danach einen Müllbeutel in die Hand drückt, den es nach draußen zu befördern gilt. Mache ich gerne – zwar bin ich rechtschaffen müde, aber keineswegs am Ende meiner Kräfte. Ich habe keine Schmerzen, jedenfalls keine speziellen jenseits des generellen Ganzkörper-Auas, der jedem Marathon »aus der kalten Hose« nahezu zwangsläufig folgt.

Marathon, so stelle ich mit einer gehörigen Portion Leichtsinn fest, »habe ich drauf«, und ich könnte schwören, dass meine Laufzeiten mit dem mir gleichsam automatisch bevorstehenden Trainingsprogramm ein völlig neues Niveau erklimmen werden. Nach einigen Monaten werde ich über einen Astralkörper verfügen, der mich Woche für Woche ohne erkennbare Anstrengung in runden vier Stunden, ach was sage ich, in weit unter vier Stunden ins Ziel fliegen lässt. Ein Flug schnurstracks in die vollkommene Athletik des Ultra-Runners, in dessen Kopf das olympische Feuer lodert und bei dem die Ringe des Barons Coubertin jene aus Bauchspeck ersetzt haben werden, ein Flug in die ewige Jugend.

Wer weiß, vielleicht wächst mir unterm Lorbeerkranz des Triumphators sogar wieder volles, grauschleierfreies Haar?

Auch freue ich mich auf die Segen spendenden Endorphine, die, so sagt man, zum »Runner’s High« führen. Bisher habe ich mit diesem Rausch höchstens in Ansätzen Bekanntschaft gemacht (oder war’s Einbildung?). Als geübter Endorphin-Junkie jedenfalls werde ich aus dem Dauergrinsen gar nicht mehr herausfinden. Oder?

Lauf, Wigald, lauf

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