Читать книгу Lauf, Wigald, lauf - Wigald Boning - Страница 20

Laufen und laufen lassen

Оглавление

In diesen Tagen führe ich – nach Einfädelung durch meinen weiterhin höchst sportskeptischen Vater – ein sehr angenehmes Telefonat. Am anderen Ende der Leitung ist mein Leichtathletik-Trainer beim DSC Oldenburg und Sportlehrer in der Mittelstufe, Peter Maurer.

Er ist mittlerweile schon lange pensioniert und möchte sich bei mir bedanken, dass ich ihn wohl das ein oder andere Mal öffentlich lobend erwähnt habe. Tatsächlich habe ich ihm viel zu verdanken: Er hat mein Interesse am Laufsport geweckt, ist somit für meine Joggerei mitverantwortlich. Bei ihm im Wohnzimmer, so verrät er mir, stehe noch immer der Wanderpokal des Trainingsfleißigsten, den ich einmal gewonnen habe, und zwar 1981, zusammen mit Sportfreund Klaus Stingl – unter uns Nachwuchsathleten damals eine begehrte Trophäe!

Hatte ich fast vergessen, diesen Pokal – dabei ist er eine der ganz wenigen sportlichen Siegestrophäen, in deren Messing-Fassade mein Name eingraviert wurde. Ob ich in Sachen Fleißausdauer in diesem Jahr noch eins draufsetzen kann?

Peter jedenfalls wünscht mir für mein Marathonvorhaben gutes Gelingen. Danke schön und alles Gute!

Eine Woche später darf ich in Hamburg meine Brötchen verdienen, nämlich als Ratekandidat bei »Wer weiß denn sowas?«. Quizzen mit meinen bewährten Kollegen Kai Pflaume, Bernhard Hoëcker und Elton macht mir Spaß, natürlich, aber insgeheim freue ich mich über den Auswärtstermin auch wegen der Chance, neues Terrain zu Fuß zu erkunden.

In Hamburg habe ich einige Jahre gewohnt, noch bevor ich das Lauffeuer in mir zum Lodern brachte, und ich komme mir vor wie beim Treffen mit einer Verflossenen, einem Wiedersehen im Zeichen der Blutblase.

Wie komme ich auf Blutblase? Wahrscheinlich, weil meine Füße von Schwielen und Blasen in allen Stadien verziert sind. Seit Beginn meines Experiments gleichen meine Extremitäten einer Baustelle, befinden sich in einer Art Kernsanierung. Stadium eins: Abriss – das ist der derzeitige Arbeitsstand. Aber unter dem äußerlichen Desaster kann der Kenner mit sehr viel Fantasie bereits die Füße der Zukunft erahnen.

Alle paar Tage besichtige ich die Baustelle und benehme mich, wie sich Bauherren zu benehmen pflegen: Mit einer Mischung aus Erschütterung und Vorfreude nicken sie anerkennend und geben Kommentare ab, von denen sie hoffen, dass sie fachkundig wirken, Äußerungen à la »Oha!« oder »Rom wurde auch nicht an einem Tag erbaut!«. Etwas irritiert bin ich von der Farbe meiner Zehennägel: Manche sind gelblich-braun verfärbt. Muss das so? Ich würde gerne irgendjemanden fragen und darauf hinweisen, dass ich die Nägel eigentlich behalten möchte – aber da ist kein Arbeiter, kein Bauleiter weit und breit.

Nach kurzer Nacht im Etepetete-Hotel an der Außenalster schultere ich die Aktentasche (hat sich bewährt) und laufe hinunter zur Elbe. Da muss ich immer an Wolfgang Borchert denken, an »Draußen vor der Tür«, zumal morgens um viertel vor fünf, kalt umnebelt.

In Borcherts Nachkriegsdrama spricht die Elbe zum Heimkehrer und auch für mein Tun findet sie freundliche Worte, als ich sie im alten Elbtunnel unterquere. »Das wird schon wieder!«, beschwichtigt sie. Tausende, abertausende Ultra-Läufer und andere Tüftler, Fantasten und Ehrgeizlinge hat sie bereits an ihren Ufern begrüßt, deren hochtrabende Pläne amüsiert zur Kenntnis genommen und schließlich doch verbleichen sehen, während sie selbst einfach weiterfloss, dem Meer entgegen.

Der St. Pauli-Elbtunnel ist für Indoor-Läufe ein feines Pflaster und für Marathonis ein erprobtes, finden in ihm doch die legendären Elbtunnel-Marathons statt, 48 Runden durch die 870 Meter langen, dunkelgelb gekachelten Röhren. Wegen laufender Sanierungsarbeiten pausiert die Veranstaltung gegenwärtig, soll aber ab 2025 wieder aufgenommen werden.


Unter der Elbe schaut man in die Röhre.

Weiter geht’s durch den Hamburger Hafen. Trotz der stockdunklen Nacht herrscht viel Verkehr, und ich laufe zwischen Bahntrassen, Ozeanriesen und grell beleuchteten, einschüchternden Industrieanlagen südwärts. Bald erreiche ich die Kattwykbrücke, mit knappen 100 Metern Höhe die größte Hubbrücke Deutschlands, 1973, als sie gebaut wurde, sogar der ganzen Welt.

Ich muss meinen Nacken knackend überdehnen, um bis zu ihrer Oberkante zu blicken, die majestätisch an den schweren Wolken kratzt. Mir fehlt die Erfahrung mit Bauwerken dieser Dimension, mein Atem stockt und mir entfährt ein großäugiges »Uiuiui!«.

Nach diesem ungewöhnlich frühen Tageshöhepunkt laufe ich weiter Richtung Harburg, zum Naturpark Schwarze Berge. Weiterhin ist die Nacht schwarz, und mein Versuch, das stark profilierte Waldgebiet auf Wanderpfaden zu durchqueren, scheitert bereits nach 100 Metern jäh, weil ich keine Stirnlampe dabeihabe. Im nassen Unterholz fädele ich ein, stolpere, lande im Matsch und fluche.

Für meinen zweiten Versuch einer Trans-Schwarze-Berge bediene ich mich des Ehestorfer Heuwegs, der mich nach langer, stetiger Steigung durch die fahle Dämmerung führt, und als ich das Freilichtmuseum am Kiekeberg erreiche, ist es endlich hell.

Eine herrliche Methode, den Tag einzuläuten, schwärme ich und laufe durch die Ortschaft Tötensen weiter zum Harburger Bahnhof. Egal, wie sinnig oder unsinnig mein Vorhaben ansonsten sein mag: Ein Tag, der bereits vor seinem eigentlichen Anbruch so überquillt mit touristischen Monumental-Impressionen, kann mit einem Festtagshäkchen geadelt werden, egal, wie’s weitergeht.


Lauf, Wigald, lauf

Подняться наверх