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Milchsäure-Allergie statt Laktose-Intoleranz
ОглавлениеAm letzten Tag des Jahres überreicht mir der Paketbote einen ersten Ausrüstungsgegenstand, den ich mir extra für mein großes Vorhaben bestellt habe: Thrombosestrümpfe für Läufer. Erfolgreich konnte mir die Werbung suggerieren, dass derlei Strickware Ermüdung und Verletzungen vorbeuge, namentlich den von mir gefürchteten »Shin Splints«, Reizungen an der vorm Schienbein verlaufenden Sehne »Tibialis Anterior«.
Als ich die Hochleistungsstrümpfe am frühen Neujahrsmorgen anlegen möchte, erlebe ich mein blaues Wunder, und zwar nicht nur, weil das Wadenkleid in eben dieser Farbe gestaltet ist. Nein, es gelingt mir nur unter größten Mühen, die Dinger über die Füße zu stülpen – gar zu eng ist das Gewirk. Und zudem hindert mich mein Bäuchlein an der notwendigen Rumpfbeuge. Minute um Minute vergeht, mein Kaffee wird kalt, meine Fingerkraft erlahmt und mein Puls erreicht bereits ohne Lauferei trainingstypische Werte.
Wer partout nicht laufen will oder kann, so zische ich wütend, sollte sich einfach die Haxenhüllen an- und ausziehen, für Herz und Kreislauf ist das eventuell sogar intensiver, und das Stretching ist bereits integriert. Schließlich gelingt es mir doch noch, die Socken bis zu den Knien hinaufzuzwingen – und ich mache mich auf dieselben zur eigentlichen Premiere, Marathon Nummer eins von 52.
Dehnübungen für Fortgeschrittene
An diesem Neujahrsmorgen starte ich erst relativ spät, um 6:42 Uhr. Zum einen wegen des erwähnten Strümpfe-Workouts, zum anderen, weil ich am Silvesterabend mit meinen Lieben angestoßen habe.
Beflügelt von der gelungenen Generalprobe und nach knapp auskuriertem Muskelkater lege ich sogar noch einen Zahn zu und stürme bei knackigem Frost nach 4:41 Stunden ins Ziel.
Um diese Zahlen richtig einordnen zu können: Meine beste Zeit in einem Wettbewerb lief ich beim Bienwald-Marathon Kandel: 3:21 Stunden. Aber das ist lange her, müsste etwa 2003 gewesen sein. Ich wog ein paar Pfund weniger und trainierte Intervalle, d. h.: Schnelle Abschnitte wechseln sich mit langsamen Trabpausen ab. Ich kann mich sogar daran erinnern, dass ich damals, Anfang des Jahrtausends, auf 400-Meter-Bahnen geübt habe, um Schnelligkeit und Tempohärte zu verbessern – ein Gedanke, der mir nun schon lange nicht mehr gekommen ist.
Im Gegenteil, mit den Jahren hat sich bei mir eine gewisse Abneigung gegen schnelle Läufe ausgeprägt. Andere werden im Alter laktoseintolerant, ich hingegen habe eine Milchsäure-Allergie entwickelt – eine Allergie also gegen jenen Stoff, der sich im Blut nachweisen lässt, wenn man länger als nur ein paar Sekunden ordentlich auf die Tube drückt.
Eigentlich weiß ich, dass es kaum etwas Irrelevanteres gibt als Laufzeiten. Der eine läuft ohne Training blitzschnell, der andere muss täglich Kilometer bolzen, und der dritte hat überhaupt keine Beine.
Ich arbeitete mal gemeinsam mit einem Cutter aus Kenia, der aus einer berühmten Läufer-Gegend kommt. Er erzählte, unlängst habe es bei ihm zu Hause eine Initiative gegeben, den Kindern der abgelegenen Dörfer mithilfe eines Schulbusses den Schulweg zu erleichtern, aber die Regierung sei beherzt dazwischen gegrätscht: Nichts da, wer holt denn dann die Medaillen?
Nun komme ich weder aus Kenia, noch verfüge ich über medaillenträchtige Talente auf irgendeinem Gebiet. Namentlich mein Tempo war in jeder Lebensphase kaum der Rede wert, was allerdings sowieso völlig egal ist, denn auch dem allerschnellsten Homo Sapiens sei gesagt: Der Gepard ist schneller, ach, was sage ich, jeder Hase, jedes Känguru, ja, die meisten Esel und Nilpferde laufen euch mühelos übern Haufen, von D-Zug und Mondrakete mal ganz abgesehen.
Ja, eigentlich sind Laufzeiten irrelevant, und doch: Jahre der Erziehung hin zur Wettbewerbstauglichkeit, ein Dutzend Bundesjugendspiele und prägende Jahre in Oldenburger Sportvereinen haben in mir einen heimlichen Hunger wenigstens nach persönlichen Bestleistungen hinterlassen, wenn es denn zum Sieg über andere nur allzu selten reichte.
Darum ist dieser Neujahrstag mit seiner deutlichen Verbesserung ein guter: Es kann, es wird nicht lange dauern, bis ich an meine besten Zeiten anschließe und auf Rekordkurs komme – daran glaube ich fest.