Читать книгу Lauf, Wigald, lauf - Wigald Boning - Страница 16

Das Bonbonpapier des Grauens

Оглавление

Hochmut kommt vor dem Fall.

Kaum habe ich, heimgekehrt von Marathon Nummer zwo, bei Facebook mit dem bisherigen Verlauf meines Experiments geprahlt, dickbackige Screenshots meiner aufgezeichneten GPS-Tracks gepostet und hungrig die Belobigungen meiner virtuellen Freunde entgegengenommen, als mir noch am Nachmittag desselben Tages am Gleis 23 des Münchener Hauptbahnhofs ein Bonbon-Papier aus der Hand gleitet.

Es landet seitlich neben meinen müden Hufen. Ich seufze kurz, biege mich asymmetrisch nach links unten, und noch bevor ich das Bonbonpapier ergreifen kann, fühle, ja höre ich dicht neben dem dritten Lendenwirbel von unten ein dezentes »Peng!«.

Ich halte inne, das Bonbonpapier fixierend, meine Augen weiten sich, mein Mund noch mehr, und mir ist, als hörte ich hinter mir, im Gleisabschnitt D wie »Das hast du nun davon!« ein höhnisches Hexenlachen. Als ich mich umdrehen will, um in Erfahrung zu bringen, ob ich mir die Hexe nur eingebildet habe und ob sie, falls nicht, auch vorschriftsmäßig einen Mund-Nasenschutz trägt, durchfährt mich eine gewaltige Woge stechenden Schmerzes. Ein Hexenschuss ins Schwarze. Potzblitz, was geht hier vor? Feierabend, Laufschuh am Nagel, Karriere am Ende?

Meine Rumpfdrehung endet auf halbem Wege, mir entfährt ein halblautes »Auwehzwick«, und dann lasse ich Bonbonpapier Bonbonpapier sein und schleppe mich gen Ausgang, krumm wie eine Chiquita-Banane. Jeder Schritt schmerzt, aber meine Augen werden nicht feucht vor Pein, sondern weil ich mein Projekt in Gefahr wähne. Adrenalin folgt auf die Schmerzwelle wie schaumige Gischt. Ich fühle mich wie eine angeschossene Bärenmutter, deren Junges in höchster Gefahr schwebt, und bin zum Äußersten bereit – auch, weil ich Dussel mich mit meiner Facebook-Angeberei völlig unnötig selbst unter Druck gesetzt habe.

Und so wuchte ich meinen bockenden Bärenleib zur nächsten Apotheke, versuche auf Schmerzenstremor und Tralala am Tresen zu verzichten und erwerbe einen Waschzuber voller ABC-Pflaster.

Und als ich den ersten der pfeffrigen Lappen über meine Pobacke platziere, denke ich an einen der skeptischen Kommentatoren bei Facebook, der mein Vorhaben für nicht sonderlich gesund hielt und auf mein Alter verwies: »Den Kopf kann man überlisten, nicht jedoch den Körper.« Hatte diese Spaßbremse etwa recht? Ist der Hexenschuss womöglich direkte Folge fortgeschrittener Unvernunft?

Aufmerksam studiere ich die Mimik meiner Gattin. Entdecke ich da irgendeinen versteckten Hinweis à la »Wegen mir musst du gar nicht laufen!« oder »So ’n Hexenschuss ist auch nur eine Männergrippe, allerdings ohne Taschentuchverbrauch«? – Nein, da ist keine Regung, die mir ihre Gedanken verraten könnte. Ihre wesentliche Reaktion ist ein konziliantes »Gute Besserung!«.

Theo und Mathilda spielen derweil mit einer Holzeisenbahn, einem Bonbonpapier und einem verdächtig korpulenten Teddybären mein Unglück nach.

Eindeutig ist die Reaktion meines Vaters, dem ich am Telefon von meinem Malheur berichte. »Wie sagte Churchill? No sports! Und? Hatte er Rücken? Habe ich noch nie drüber gelesen. Junge, komm zu dir. Halte ein!«

Und während die Hitze des Pflasters meine Lende grillt, geistern Zweifel durch mein Oberstübchen wie ungezogene Kobolde. He, ihr, raus aus meinem Kopf! Hier habe ich das Hausrecht!

Dies ist nicht mein erster Hexenschuss. Rücken hatte ich, alles zusammengerechnet, sicher schon ein Dutzend Mal. Es kann sich um eine sportunabhängige Koinzidenz handeln, wenngleich ich bei Wikipedia lese, dass eine schwache oder ermüdete Rückenmuskulatur das »lokale Lumbalsyndrom«, wie der hexenungläubige Mediziner sagt, durchaus begünstigen kann – und nach drei Marathonläufen in zehn Tagen, allerlei Stemm- und Trageübungen mit meinen kleinen Kindern sowie der Entsorgung eines klobigen Weihnachtsbaumes kann ich nicht völlig ausschließen, dass mein Rücken müde ist – und zwar völlig zu recht.

Ich schlafe schlecht, das Pflaster kommt mir gar zu heiß vor, zumal wenn ich drauf liege.

Am nächsten Morgen versuche ich ein kleines Läufchen, meinem Streak zuliebe, verbringe allerdings weniger Zeit mit unrundem, von verzweifeltem Gestöhne untermaltem Gehumpel als mit dem vorangehenden Schuheanziehen. Ich erreiche kaum mit der Hand Fuß und Schuh, geschweige denn beides zusammen, was bekanntermaßen unerlässlich ist, wenn man den einen in das andere einführen möchte (auf die blöden Thrombosestrümpfe verzichte ich sowieso).

Nach 1,6 Kilometern habe ich ein Einsehen und erkläre das Training für beendet, und auch in den darauffolgenden beiden Tagen belasse ich es bei dieser Notration. Düstere, latent miesepetrige Tage, an denen ich den Tathergang am Hauptbahnhof wieder und wieder rekonstruiere und zunehmend demütig werde.

Wie pflegt mein alter Freund Olli Dittrich zu sagen: »Der Anschiss lauert überall.«

Ich nehme mir vor, Überforderung als Gefahrenquell gewissenhafter zu vermeiden als bisher.

Um ein Ziel zu erreichen, laufe man »so viel wie nötig und so wenig wie möglich«, wie ich einst in der Fachpresse aufschnappte, und mein Generalproben-Marathon, noch im alten Jahr, war nach dieser Grundregel verzichtbar.

Nun denn.

Nach einigen Leidenstagen werde ich beweglicher, auch meine Mundwinkel verlieren ihren Drang, der Schwerkraft zu folgen, und ich traue mich wieder an längere Strecken heran: von zwei über sechs zu zehn Kilometern, um den 14. Januar zum Tage meines großen Comebacks zu erklären – sechs Tage nach dem vermeintlichen Karriereende.

Ist meine Rückkehr verfrüht? Wäre es nicht schlauer, spätestens jetzt den Ohrensessel aufzusuchen und der zwanghaften Kilometer-Sammelei endgültig Ade zu sagen?

Lauf, Wigald, lauf

Подняться наверх