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1.2 Ob wir glauben, was wir wissen

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Jeder einzelne Mensch hat das Bedürfnis nach dauerhaft Gutem als Lebender, aber nicht jedes Leben ist gut. Wenn es schlecht ist, soll es gut werden. Wenn es immer schlechter wird, wissen viele nicht, wie es weitergeht. Sie verzweifeln dann vielleicht und verabscheuen ihr Leben, vor allem dann, wenn es anderen offensichtlich besser geht. Viele halten ihr Leben für gut, obwohl sie behindert sind oder an einer schweren Krankheit leiden. Andere schätzen ihr Leben nicht und verachten es, obwohl es ihnen gut geht. Sie verachten vielleicht auch das Leben der anderen. Sie können sich nicht vorstellen, was in ihrem Leben dauerhaft gut sein könnte, selbst wenn es ihnen nicht schlecht geht. Wer das Leben verachtet, kümmert sich weder um das, was ist, noch um das, was sein soll, und am allerwenigsten um das, was gilt.

Offenbar ist das bloße biologische Leben nicht selbst schon gut oder schlecht. Es ist eine notwendige Voraussetzung für das eine wie das andere, mehr nicht. Die Biologie hat einen wesentlichen Anteil am menschlichen Leben, legt aber nicht unverrückbar fest, wie gut oder schlecht es ist. Sie ermöglicht Leben. Sie ist notwendig dafür, dass Menschen – gut oder schlecht – leben können, und sie begleitet das Leben vom Anfang bis zum Ende. Sie ist ein Teil der menschlichen Natur, aber nicht die ganze.

Seit einiger Zeit verfügt die Medizin über das nötige Wissen, um den Zeitpunkt von Geburt und Tod beeinflussen zu können. Wir sind von diesem Wissen unmittelbar betroffen und überzeugt, dass jenes Wissen immer dann gut ist, wenn damit Leben ermöglicht oder gerettet wird. Davon sind wir überzeugt, wenn wir glauben, dass das Leben gut und der Tod schlecht ist. Wir wissen zwar nicht, warum wir das glauben können. Dennoch hat jeder auf die Warum-Frage seine eigene Antwort. Viele glauben, dass der Tod eine Bedingung des Lebens und deswegen für die Natur im Ganzen gut ist. Für den Tod jedes Einzelnen ist dies kein Trost, und nur begrenzt für denjenigen, der an ein Leben nach dem Tod glaubt. Manche glauben, dass der Tod derer gut ist, die anders denken und etwas anderes glauben als sie selbst. Fragen dazu können sie keine haben, sonst würden sie das nicht glauben. Letztlich verachten sie das Leben.

Wer sich fragt, ob das Leben gut und der Tod schlecht ist, wird einsehen, dass keine Antwort das Fragen beendet. Wenn ich sage, dass das Leben gut ist, weil es mir Freude macht, kann ich mich fragen, warum es mir Freude macht. Auf jede Antwort ist wieder eine Warum-Frage möglich. Jedem Einzelnen von uns genügen seine eigenen Antworten, auch wenn keine Antwort für andere verbindlich ist. Natürlich glaube ich nur so lange, dass das Leben gut ist, solange es mir Freude macht. Wenn es mir keine Freude mehr macht, hoffe ich einen anderen Grund dafür zu finden.

Der Grund für den Zwiespalt des Bedürfnisses nach dauerhaft Gutem liegt nicht im Egoismus, sondern darin, dass wir nicht klar zwischen dem, was gut, und dem, was schlecht für unser Leben ist, unterscheiden können. Unser Unwissen in diesen Fragen mag uns nicht weiter auffallen. Wir sollten aber erkennen, dass es keinen allgemein verbindlichen Grund gibt zu glauben, dass das Leben gut und der Tod schlecht ist. Wir wissen nicht, warum das eine gut und das andere schlecht ist und ob es überhaupt so ist. Wir wissen nicht einmal, was Leben ist und was es bedeutet, wie sollen wir dann wissen, ob es wirklich gut ist? Wenn wir dies nicht wissen, wie sollen wir dann wissen, was gut für uns selbst ist? Dieses Unwissen über Fragen des Lebens ist enttäuschend und irritierend.

Der Zwiespalt des Bedürfnisses nach dauerhaft Gutem setzt sich im Zwiespalt zwischen dem eben beschriebenen Unwissen und dem, was wir sonst alles wissen und nicht wissen, fort. Wir wissen zwar nicht, was ›Leben‹ bedeutet, wir wissen aber sehr viel über Gesundheit und Krankheit. Dieses Wissen ist groß und wächst. Es sagt uns nicht, warum das Leben gut und der Tod schlecht ist. Es sagt uns aber, dass Gesundheit gut und Krankheit schlecht für uns ist. Das medizinische Wissen dient der menschlichen Gesundheit und hilft Krankheiten zu heilen. Eine Voraussetzung dieses Dienstes am Leben ist der Glaube, dass das Leben gut und der Tod schlecht ist. So können wir das Unwissen über Leben und Tod durch medizinisches Wissen vergessen. Das Leben ist aber für viele eine Qual und der Tod kann eine Erlösung sein. Spätestens dann macht sich das Unwissen bemerkbar, wenn das medizinische Wissen an seine Grenzen stößt.

Der kognitive Zwiespalt zwischen dem Unwissen über Leben und Tod und dem Wissen über Gesundheit und Krankheit fällt uns nicht weiter auf, solange wir gesund und unsere Krankheiten heilbar sind. Wir dürfen deswegen daran glauben, dass es gut ist, dem Leben, wo immer dies möglich ist, den Vorzug zu geben, auch mit biomedizinischer Hilfe. Die Biomedizin kann helfen, den Wunsch nach einem Kind zu erfüllen, wenn er auf herkömmliche Weise nicht erfüllt werden kann. Wir sind auch überzeugt, dass die Wahl des Zeitpunkts einer Geburt gut ist, wenn dadurch das Leben der Mutter oder des Kindes gerettet wird. Wer würde es nicht für gut halten, das Leben eines kranken oder lebensgefährlich verletzten Menschen zu retten, wenn dies möglich ist? Wenn dies nicht möglich ist, wollen viele den Wunsch eines Sterbenden respektieren, das Leiden mit ärztlicher Hilfe oder selbst zu beenden. Viele halten dies für gut und das Gegenteil für schlecht, obwohl niemand weiß, warum das Leben gut und der Tod schlecht ist.

Wir lassen uns von diesem Unwissen offenbar nicht beirren. Ähnlich lassen wir uns auch nicht vom Mangel an Wissen über das, was für uns alle gut ist, beirren. Der doppelte Zwiespalt der Bedürfnisse und des Wissens fällt uns meistens nicht auf. Wir wollen dennoch, dass das Bedürfnis nach dauerhaft Gutem erfüllt wird. Dass wir nicht wissen, was gut für uns ist, stellt das Bedürfnis nicht in Frage. Den Zwiespalt zwischen Unwissen und Wissen versuchen wir durch ein starkes Bedürfnis nach Wissen unwirksam zu machen. Wir glauben, dass uns Wissen hilft, überall zwischen dem, was gut, und dem, was schlecht ist, zu unterscheiden und unsere zwiespältigen Bedürfnisse zu korrigieren. Wir glauben auch, dass Wissen uns hilft, den Zwiespalt zwischen dem, was gut für uns und schlecht für andere ist, zu überwinden. Wir glauben schließlich, dass Wissen uns hilft, das, was gut für uns alle ist, wählen zu können.20 Wenn es so ist, kann es dem, was gilt, zugrunde liegen. Dann stellt das Wissen den Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, her.

Der Glaube an die Kraft des Wissens gipfelt in dem Glauben, dass wir uns nur dessen gewiss sein können, was wir wirklich und zuverlässig wissen. Wir glauben, dass wir dieses Wissen benötigen, wenn wir lebenswichtige Entscheidungen als gut rechtfertigen oder als schlecht verwerfen wollen. Damit glauben wir, dass das Bedürfnis nach dauerhaft und verlässlich Gutem mehr voraussetzt als diesen Wunsch, nämlich wirklich zu wissen, dass es gut ist, dies zu wünschen. Glauben und Wissen hängen enger zusammen als gedacht. Der Glaube an das Wissen soll das Unwissen des bloßen Glaubens vergessen machen. Wir glauben deswegen an die Macht des Wissens und hoffen auf sie.

Die Suche nach Wissen dient dem Bedürfnis nach dauerhaft Gutem, auch wenn wir daran, fasziniert von den Möglichkeiten des Wissens, nicht mehr denken. Das Wissen soll den doppelten Zwiespalt dieses Bedürfnisses selbst und das Unwissen über Leben und Tod unwirksam machen. Daran müssen wir uns erinnern, wenn wir der Suche nach Wissen einen Sinn geben wollen. Am Ende sieht man dem Wissen nicht mehr an, dass es ursprünglich um das Bedürfnis nach dauerhaft Gutem geht. Das Wissen wird zum Bedürfnis seiner selbst, und wir vergessen unser Bedürfnis nach dauerhaft Gutem. Wir wollen vor allem die Welt verstehen und wissen, was es gibt. Es geht nicht mehr um das, was gut ist, sondern um das, was ist, was tatsächlich existiert. Dies wollen wir wissen, und dieses Wissen dient in besonderer Weise dem Bedürfnis nach Sicherheit und Gewissheit. Wir glauben sogar, dass wir ohne dieses Wissen auch nicht sagen können, was dauerhaft gut für alle ist und gelten sollte.

Dieses reflexive Wissens-Bedürfnis von der Welt ist mit dem nicht-reflexiven Bedürfnis nach verlässlich Gutem eng verbunden. Es folgt nicht unmittelbar aus dem nicht-reflexiven Bedürfnis, sonst gäbe es den Zwiespalt dieses Bedürfnisses nicht, ergänzt es aber reflexiv, wenn wir darüber nachdenken, wie der Zwiespalt überwunden werden kann. Die Frage, ob das, was wir selbst für gut halten, wirklich gut für alle ist, können wir nur entscheiden, wenn wir etwas über die Welt und uns selbst wissen. Wir müssen unsere Welt verstehen, um uns sicher in ihr bewegen zu können. Es gibt also zwei sich ergänzende Bedürfnisse nach Gewissheit, ein nichtreflexives und ein reflexives. Beim einen geht es um das, was gut ist und sein soll, beim anderen um das, was überhaupt ist. Der Erwerb von Wissen soll helfen, dem ersten Bedürfnis in einer Weise gerecht zu werden, die dessen Zwiespältigkeit überwinden kann. Es sieht so aus, als könnten wir den Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, nur auf der Grundlage von Wissen herstellen, dessen wir uns gewiss sind. Dann wäre das Wissen das, was gilt.

Was gilt

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