Читать книгу Was gilt - Wilhelm Vossenkuhl - Страница 7

EINLEITUNG

Оглавление

Die Frage, was gilt, stelle ich unvermittelt, und mit der Antwort falle ich in gewisser Weise mit der Tür ins Haus. Meine Antwort ist, dass das, was gilt, einen Zusammenhang herstellt zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll. Das, was gilt, hebt die Trennung von Sein und Sollen auf. Die Antwort auf die Frage, was gilt, begründe ich im ersten und im zweiten Kapitel dieses Buches. Mein Anspruch dabei ist allgemein, weil es mir um alle Arten theoretischer und praktischer Geltung geht. Diesen Anspruch zu stellen, ist nur möglich, wenn der Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, tatsächlich allen Arten der Geltung zugrunde liegt.

Die Frage, was gilt, beschäftigte mich schon in meinem Buch Die Möglichkeit des Guten (2006). Dort beschränkte ich mich darauf, das Verhältnis zwischen Geltung, Rechtfertigung und Anerkennung zu analysieren. Das Gute verstand ich dabei unabhängig vom Konzept der Geltung als Leitidee und als Maßstab für die Integration der Güter in einer Gesellschaft. Danach erst wurde mir klar, dass der Zusammenhang zwischen der Geltung und dem Guten sehr viel enger ist, als ich in dem Buch annahm. Wir können das eine vom anderen nicht trennen, weil das, was gut ist, und das, was gilt, zusammen ein menschliches Grundbedürfnis bilden. Wir wollen uns auf das, was gilt, verlassen können, und dies sollte immer etwas Gutes sein. Es sollte nicht irgendetwas sein und vor allem nichts, was schlecht ist und uns schadet. Nur das, was gut ist, sollte gelten, und zwar möglichst dauerhaft und zuverlässig. Dann können wir uns darauf verlassen. Dem Guten können wir vertrauen.

Dieses Bedürfnis ist so sehr mit unserem Dasein und unserer Natur verbunden, dass ich es ein ›ontologisches Bedürfnis‹ nenne (Kap. 1.1). Außerdem nenne ich es so, weil es nicht ausgedacht und erfunden ist, sondern weil wir es in unserem Leben erfahren und finden. Es ist ein Gegenstand und kein Konstrukt unseres Denkens, deswegen nenne ich es ›nicht-reflexiv‹. Weil es kein Konstrukt unserer Reflexion ist, ist es auch nicht wegzudenken, was immer wir für ›gut‹ halten. Die Wörter ›gut‹ und ›das Gute‹ bezeichnen nun aber nichts, was wir definieren und mit Gewissheit wissen können. Außerdem versteht jeder etwas anderes darunter. Aus diesen Gründen habe ich mich in dem eben erwähnten Buch noch auf die Möglichkeit des Guten und auf das Gute als Leitidee beschränkt, ohne dafür zu argumentieren, dass es das Gute gibt.

Nunmehr behaupte ich aber, dass es das Gute gibt. Dafür argumentiere ich, was angesichts des eben erwähnten Risikos, dass wir nicht genau wissen, was es ist, waghalsig erscheinen mag. Der Hinweis darauf, dass Platon Ähnliches versucht, ersetzt keine Argumente. Ich will zeigen, dass es das Gute gibt, obwohl wir nicht genau wissen, was es ist. Für das Wissen, dass es etwas gibt, wovon wir nicht wissen, was es ist, ist das Gute ein besonderes Beispiel, aber nicht das einzige. Freiheit und Leben sind andere Beispiele, auch die Gravitation ist eins. Wir wissen von alledem und von vielem anderem nicht, was es ist, zweifeln aber nicht daran, dass es existiert.6 Für manches in der Natur, wie die Gravitation, gibt es einen messbaren Nachweis und damit ein Kriterium der Identität. Für anderes, wie das Gute, gibt es nur den Begriff, aber keinen messbaren Nachweis und auch kein Kriterium der Identität seiner Bedeutung. Ähnliches trifft für die Freiheit zu.

Für das Leben in seinen vielfältigen Formen gibt es wie für die Gravitation zuverlässige Nachweise. Wir können verstehen, wie und seit wann Leben auf der Erde möglich ist. Wir wissen auch, dass z. B. die Homöostase ein klares biologisches Kriterium des Lebens ist. Dieses Kriterium erklärt, dass alles, was lebt, Energie aufwenden muss, um sich gegen die Umwelt abzugrenzen. Homöostase ist ein Kriterium für den Erhalt des Lebens.7 Es erklärt, warum das, was lebt, lebt. Damit können wir das, was lebt, identifizieren. Es erklärt aber nicht, was ›Leben‹ bedeutet.

Der Umgang mit Begriffen ist nicht von Kriterien ihrer Identität abhängig. Ich argumentiere sprachphilosophisch dafür, dass es für die Identität mancher – nicht aller – Bedeutungen keine Kriterien ihrer Identität gibt. Dies trifft vor allem auf die Bedeutung von Prinzipien zu. Wir können dennoch sicher sein, dass es sie gibt und dass sie eine Bedeutung haben. Wir gebrauchen viele Bedeutungen, ohne dass uns ein Kriterium ihrer Identität zur Verfügung steht. Dies fällt uns gewöhnlich nicht auf. Wenn es uns dann, wie beim Prinzip der ›Menschenwürde‹, auffällt, sind wir ratlos, wenn wir nach einem Kriterium der Identität dieses Prinzips suchen, aber keines finden. Die Suche nach einem Kriterium der Identität von Prinzipien ist aussichtslos und deshalb verfehlt. Die Bedeutung von Prinzipien ist offen (Kap. 1.10). Ich bezweifle mit dem eben erwähnten Argument die allgemeine Brauchbarkeit des Kriteriums der Analytizität von Bedeutungen, das in der analytischen Philosophie von Rudolf Carnap und anderen für die Identität von Begriffen beansprucht wird (Kap. 1.9).

Wenn es keine Identitätskriterien für bestimmte Begriffe gibt, kann das Risiko des Irrtums beim Nachdenken über ihre Bedeutungen nicht ausgeschlossen werden. Umso wichtiger ist es, sich darüber im Klaren zu werden, dass es das, was die Begriffe bezeichnen, tatsächlich gibt. Wenn es dies gibt, können wir die Frage nach dem, was ›Geltung‹ bedeutet, in den ontologischen Rahmen unseres Daseins stellen. Es wird möglich zu sagen, dass es das, was gilt, tatsächlich für uns gibt. Das ist der Anspruch, mit dem das ontologische Bedürfnis nach dauerhaft und vertrauenswürdig Gutem befriedigt werden kann. Unsere These ist: Was gilt, existiert. Es ist nicht einfach erfunden oder aus funktionalen Gründen konstruiert oder fiktiv oder ein Irrtum oder eine nützliche Illusion. Weil es nicht konstruiert ist, sollte das, was gilt, auch nicht relativistisch verstanden werden. Meine Ablehnung des Relativismus hat nicht zuletzt rechtsphilosophische Folgen, die in meiner Diskussion von Hans Kelsens Geltungstheorie im dritten Kapitel des Buches (Kap. 3.1) deutlich werden.

Unterstützt wird der eben erhobene Anspruch, dass das, was gilt, existiert, von Argumenten, die Saul Kripke in seinen John Locke Lectures (1972) entwickelt (Kap. 1.6). Er entwirft mit logischen Argumenten eine Ontologie, die auch auf abstrakte Gegenstände und auf den Bereich des Fiktionalen anwendbar ist. Es wird damit möglich zu sagen, dass Hamlet, Sherlock Holmes und Moses existieren, so abwegig dies auf den ersten Blick erscheinen mag. Wir können über diese literarischen Personen Wahres und Unwahres sagen. Ganz und gar nicht abwegig ist seine Argumentation, dass auch abstrakte Gegenstände wie ›Nation‹ existieren, wenn sie bestimmte Wirkungen haben. Natürlich will ich das Gute mit Kripkes Argumenten nicht fiktionalisieren. Vielmehr sind auch das Gute, die Freiheit und Prinzipien wie die Menschenwürde oder die Widerspruchsfreiheit abstrakte Gegenstände, die über das menschliche Denken real wirksam werden können. Kant hält ›Existenz‹ für kein ›reales Prädikat‹. Wir werden seine Argumente prüfen. Wenn sie zutreffen, können wir nicht behaupten, dass das, was gilt, existiert.

Die Behauptungen, dass es das Gute gibt und dass das, was gilt, existiert, ließen sich oberflächlich gesehen damit begründen, dass das Gute ein idealer Maßstab der Geltung ist. Diese Begründung ist aus mehreren Gründen aber nicht möglich (Kap. 1.5). Außerdem kann das Gute kein Maßstab für das, was gilt, sein, wenn wir nicht wissen, was es ist. Da wir kein Wissen davon haben, haben wir auch kein wahres Wissen davon. Nicht nur das Gute, auch die Wahrheit scheiden bei näherer Prüfung als Maßstäbe der Geltung aus. Damit wird allerdings auch fraglich, was Wissen ist und was als Wissen gelten kann.8 Das Risiko, von etwas zu behaupten, dass es gilt und existiert, ohne zu wissen, was es ist, stellt den kognitiven Anspruch dieser Untersuchung in Frage. Es sieht so aus, als würde ich über etwas nachdenken, wovon ich nichts weiß. Das ist Grund genug, es gerade deswegen zu tun.9

Das eben erwähnte Risiko führt notgedrungen zu der Frage, was überhaupt gewiss ist. Es gibt, wie ich denke, zwei Arten der Gewissheit, die nicht-reflexive und die reflexive (Kap. 1.3). Eine nicht-reflexive ist z. B. die Gewissheit des Todes. Sie ist kein Konstrukt unseres selbstbewussten Nachdenkens, sondern selbst im Zeitalter scheinbar beliebiger Lebensverlängerung unabweisbar. Wir erfahren den Tod anderer Menschen. Diese Erfahrung gehört zu unserem Dasein und zu unserer endlichen Natur. Die reflexive Gewissheit ist diejenige Descartes’, dass ich denkend existiere. Beide Gewissheiten verbinden wir reflexiv und subjektiv. So kann das, was als ›Wissen‹ gelten kann, im subjektiven Denken entstehen, aber dennoch objektiv gelten kann (Kap. 2.3). Das reflexive und subjektive Wissen ist der einzige Zugang zum Nicht-Reflexiven. Jenseits dessen, was wir reflexiv mit Hilfe von Begriffen denken können, gibt es nichts, was wir wirklich denken und wissen können.

Diese Grenze hat Auswirkungen auf das, was gilt. Wenn das, was gilt, existiert, und wir wissen, dass es existiert, aber nicht wissen, was es ist, können wir dessen Geltung nur reflexiv erfassen. Was dies bedeutet, ist ein Thema des zweiten Kapitels (Kap. 2.4-2.7). Die Grenze des Wissens wird mit den Geltungstheorien von Immanuel Kant (Kap. 2.1) und Gottlob Frege (Kap. 2.2) erkennbar. Kant entwirft als Erster mit seiner »transzendentalen Deduktion« in der Kritik der reinen Vernunft eine anspruchsvolle Geltungstheorie. Er erkennt den subjektiven Charakter des reflexiven Erfassens der erfahrbaren Wirklichkeit und glaubt nachweisen zu können, dass die Begriffe, mit denen wir dies tun, a priori gelten. Dieser Nachweis könnte aber nur gelingen, wenn die nicht-reflexiven Grundlagen seines Nachweises reflexiv und a priori vollständig erfassbar wären. Nicht-reflexive Grundlagen der Deduktion sind die Urteilstafel, die Einbildungskraft, die Apperzeption, das ›Ich denke‹, die Spontaneität und die Synthesis des Verstandes, alles, was er ›synthetischapriori‹ nennt. Kant versteht diese von ihm reflexiv aufgefundenen Grundlagen so, als ob sie Ergebnisse seiner Deduktion wären. Sie sind aber deren unabgeleitet geltende Voraussetzungen. Da die Grundlagen der Deduktion aber nicht gleichzeitig nicht-reflexiv und reflexiv sein können, steht Kants Nachweis in Frage. In Frage steht damit auch sein Versuch, eine transzendentale Geltungstheorie ohne Ontologie und die Geltung von Begriffen frei von Erfahrung, aber für die Bildung objektiven Wissens zu entwerfen.10 Auch die Geltung von Begriffen stellt einen Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was erkannt werden soll, her. Das Ergebnis ist wahres Wissen von dem, was ist.

Frege erkennt und akzeptiert anders als Kant die nicht-reflexiven Voraussetzungen seiner logischen Analyse. Es geht ihm um die Geltung wahrer Sätze, genauer gesagt um die Grundlagen der Berechtigung des Fürwahrhaltens wissenschaftlicher Erkenntnisse. Die Wahrheit dieser Erkenntnis ist das normative Ziel seiner Logik. Sie stellt den Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, her. Frege erkennt, dass es nicht möglich ist zu definieren, was ›ist wahr‹ bedeutet. Dessen ungeachtet geht es ihm um die Gesetze des Wahrseins. Er spricht ausdrücklich davon, dass es ihm dabei um »ein Sein« gehe. Dieses Sein könne nur gefasst und erfasst, aber nicht deduziert oder begründet werden. Freges Beispiele für dieses Erfassen sind das, was er »Gedanken« nennt, also z. B. Naturgesetze. Sie sind nicht-reflexiv, nicht-subjektiv, gelten als wahr und sind »unzeitlich«. Frege ist überzeugt, dass alles das, was als wahr gilt, also Gedanken, auch existiert und deswegen nur erfasst, aber nicht konstruiert werden kann. Gedanken existieren und gelten als wahr, ohne dass sie eine psychische oder eine quantifizierbare raumzeitliche Präsenz hätten. Sie gelten unzeitlich und physisch nicht quantifiziert.

Frege schärft damit den Unterschied zwischen der zeitlichen Genese des Erfassens von Gedanken, etwa von Naturgesetzen und ihrer unzeitlichen Geltung. Er entwirft die Grundlagen einer Theorie objektiver Geltung. Das Manko seiner Geltungstheorie ist, dass er nicht erklärt, wie die nicht-reflexiven Gedanken reflexiv und subjektiv und individuell erfasst werden können. Er erklärt nicht, wie wir mit Hilfe der Logik den Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, herstellen. Da es eine begrifflich nicht überbrückbare Asymmetrie zwischen dem Nicht-Reflexiven und Reflexiven gibt (Kap. 2.42.6), kann dieses Manko theoretisch nicht vollständig behoben werden. Wir müssen einsehen, dass keine Theorie der Geltung dieses Manko beheben kann, weil das Nicht-Reflexive reflexiv nicht vollständig erfasst werden kann.

Man könnte nun vorschnell vermuten, dass nichts objektiv gelten kann. Dies ist nicht der Fall, wie die Theorien von Tyler Burge und Wolfgang Spohn zeigen (Kap. 2.3). Burge rekonstruiert die nicht-reflexiven Grundlagen der Objektivität wahrnehmungspsychologisch und baut darauf die Wahrheitsansprüche objektiver Erkenntnis auf. Spohn geht angelehnt an Hume von den nicht-reflexiven, zunächst nur scheinbar geltenden Wahrnehmungen aus und entwickelt dann eine probabilistische Theorie der Bildung von Überzeugungen, die unterschiedlich hohe Ansprüche auf Wahrheit erheben können. Beide Autoren zeigen, dass der theoretische Anspruch auf Geltung sehr weit reicht, obwohl der Anspruch selbst nicht vollständig begründet werden kann. Das, was der theoretischen Geltung zugrunde liegt, zeigt sich in beiden Theorien und ist selbst nicht konstruiert oder deduziert. Erst in der Forschungspraxis zeigt sich das, was theoretisch gilt.

Der Gedanke, dass erst die Praxis zeigt, was gilt, ist für diese Untersuchung grundlegend. Der Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, ist ein praktischer. Ludwig Wittgenstein hat den Gedanken, dass die Praxis zeigt, was gilt, geprägt und zunächst mit der Unterscheidung zwischen Sagen und Zeigen im Tractatus erläutert. Dieser Gedanke bleibt über den Tractatus hinaus ein integraler Bestandteil seines Denkens. In seinen Philosophischen Untersuchungen verbindet er den Unterschied zwischen Sagen und Zeigen mit der Praxis des Sprachgebrauchs. In dieser Praxis zeigt sich das, was als richtig und falsch gilt, und dies gilt nicht nur für die sprachliche Praxis. Die Praxis des Sprachgebrauchs kann als Modell jeder Praxis, einschließlich der Forschungs- und der politischen Praxis, verstanden werden. Dies ist ein sehr weit reichender Anspruch, der in meiner Untersuchung allerdings nicht im Einzelnen geprüft und begründet wird.

Die sprachliche Praxis hat selbst einen nicht-reflexiven Charakter. Deswegen zeigt sich das, was als richtiger und falscher Sprachgebrauch gelten kann, in der Praxis, ohne dass es für die Richtigkeit Argumente oder Kriterien gibt. Wittgenstein ist überzeugt, dass es keine Theorie des richtigen und falschen Sprachgebrauchs geben kann.11 Wittgensteins Überlegungen zur Praxis des Sprachgebrauchs haben eine gewisse Ähnlichkeit mit der These des frühen Carl Schmitt, dass sich die Richtigkeit eines Urteils in der Praxis richterlicher Entscheidungen zeigt (Kap. 3.1.3).

Hinter die Praxis des Sprach- und Begriffsgebrauchs können wir nicht zurückgehen. Dies haben aber ernst zu nehmende Denker versucht. Sie haben das Vor-Sprachliche und das Vor-Begriffliche zum Thema gemacht. Martin Heidegger ist einer dieser Denker (Kap. 2.5). Er deutet den Satz von Leibniz ›Nichts ist ohne Grund‹ so, als wäre das Grundlose, das in diesem Satz, wie er meint, zum Ausdruck kommt, nicht das letzte Wort. Er glaubt, dass der Satz darauf hinweist, wie das ›Sagen vom Sein‹ möglich ist. Heidegger unterscheidet nicht zwischen Sagen und Zeigen. Er spricht zwar auch davon, dass sich das Sein zeigt, glaubt aber, dass er ›das Sein‹ auch sagen kann. Er glaubt sogar, dass dies die Aufgabe seines Denkens ist. Wenn das, was existiert, aber nicht-reflexiver Natur ist, kann es reflexiv nicht gesagt werden. Das Vor-Sprachliche kann nicht sprachlich repräsentiert und deswegen auch nicht gedacht und begrifflich repräsentiert werden. Aus dem gleichen Grund scheitert auch der Solipsismus, den Wittgenstein noch im Tractatus vertritt.

Damit ist der theoretische Teil dieser Untersuchung abgeschlossen. Ich konzentriere mich dann auf moral- und rechtsphilosophi sche Ansätze. Mit Ausnahme des Naturrechts stellt keiner dieser Ansätze die Frage, was ›Geltung‹ bedeutet, in einen Zusammenhang mit dem, was ist. Sie setzen den Dualismus von Sein und Sollen voraus, als ob er selbstverständlich wäre. Einige Vertreter dieses Dualismus berufen sich auf Kant, ohne dies begründen zu können. Die Geltung des Moralgesetzes will Kant nicht mit einer transzendentalen Deduktion nachweisen, sondern mit Argumenten, die auf dem Zusammenhang zwischen diesem Gesetz und der Freiheit beruhen. Wenn dieser Zusammenhang so unauflöslich ist, wie Kant glaubt, gelingt der Geltungsnachweis ohne Ontologie. Die entscheidende Voraussetzung dieses Zusammenhangs ist Kants Überzeugung, dass das Moralgesetz ein ›Faktum der Vernunft‹ ist, etwas Unabweisbares und Nicht-Reflexives. Wir prüfen diese Überzeugung und versuchen, die Bedeutung der Freiheit in diesem Zusammenhang zu klären. Kant will auch nachweisen, dass Moral und Recht im Prinzip der Freiheit eine gemeinsame Grundlage haben, dass beide als Gesetze der Freiheit gelten. Die Diskurstheorie von Jürgen Habermas enthält geltungstheoretische Ansprüche, die auf Kant zurückgehen. Habermas meidet aber Kants Apriorismus und dessen transzendentalphilosophische Voraussetzungen (Kap. 2.12).

Trotz der geltungstheoretischen Defizite der erwähnten Ansätze ist die Auseinandersetzung mit ihnen lohnend. Sie vermitteln im Ergebnis die Einsicht, dass der Anspruch auf Geltung reflexiv und rein begrifflich ebenso wenig gesichert werden kann wie kommunikativ und argumentativ. Das Naturrecht geht anders als die Moraltheorien davon aus, dass das, was gilt, einen Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, herstellt. Diesem Zusammenhang liegen im Naturrecht aber theologische Prämissen zugrunde, die Gott eine Garantenstellung für den Zusammenhang einräumen. Damit kann der Zusammenhang nur in theologischer Hinsicht gelten. Die theologischen Prämissen werden in der Ontologie von Thomas von Aquin erkennbar. Sie zeigt, welche direkte und indirekte Bedeutung die theologischen Grundlagen seiner Ontologie für einige neuere naturrechtliche Ansätze hat (Kap. 2.12).

Die Diskussion der unterschiedlichen geltungstheoretischen Ansätze zeigt, dass die Ansprüche auf Geltung jeweils unabgeleitete Voraussetzungen haben. Ich spreche deswegen von ›unabgeleiteter Geltung‹ im Unterschied zu allem, was daraus argumentativ und in Verfahren abgeleitet und begründet werden kann. ›Unabgeleitet‹ bedeutet, dass es keine weiteren, allgemeineren Grundlagen für den Anspruch gibt, dass etwas gilt. Alle theoretischen und praktischen Prinzipien gelten unabgeleitet. Als Beispiele dafür dienen mir an vielen Stellen der Untersuchung, stellvertretend für theoretische und praktische Kontexte, das Widerspruchsprinzip und die Menschenwürde. Normen gelten dagegen nicht unabgeleitet. Sie können aus Prinzipien abgeleitet und mit ihrer Hilfe argumentativ begründet werden. Sie gelten deswegen nicht so wie Prinzipien (Kap. 2.8). Der Anspruch der Normativität ist nicht identisch mit dem Anspruch auf Geltung, sondern diesem untergeordnet.

Mit den Beispielen des Widerspruchsprinzips und der Menschenwürde will ich die geltungstheoretischen Gemeinsamkeiten von Theorie und Praxis betonen. Es gibt aber auch Unterschiede. Ich argumentiere, wie erwähnt, dafür, dass es für Prinzipien keine Identitätskriterien gibt und sie deswegen offene Bedeutungen haben. Wir haben zu dieser Offenheit aber ein unterschiedliches reflexives Verhältnis. Aristoteles macht in der Nikomachischen Ethik12 mit einem Bild diesen Unterschied verständlich. Es kommt, wie er bemerkt, darauf an, ob wir von Prinzipien ausgehen oder zu ihnen aufsteigen. Im Fall des Widerspruchsprinzips gehen wir von einer der Bedeutungen des Prinzips aus. Im Fall der Menschenwürde steigen wir zu den unterschiedlichen Bedeutungen des Prinzips auf. Dies ändert allerdings nichts daran, dass beide Prinzipien offene Bedeutungen haben. Wir erkennen sie nur aus verschiedenen Perspektiven.

Für den weiteren Gang der Untersuchung kommt es darauf an, die begrenzte Tragfähigkeit des Gedankens, dass die Praxis zeigt, was gilt, zu erkennen. Wenn sich das, was gilt, in einer Praxis zeigt, wissen wir lediglich, dass das, was sich zeigt, nicht Ergebnis einer Theorie oder begrifflichen Erklärung ist. Damit erkennen wir die Qualität dessen, was sich zeigt, noch nicht. Es kann etwas sein, was nicht gut oder gar schädlich ist. Das Bedürfnis nach dauerhaft Gutem befriedigt keine Praxis schon allein deswegen, weil sich in ihr zeigt, was gilt. Es gab und gibt auch die verwerfliche Praxis des Unrechts und auch in ihr zeigt sich, was ihren schlechten oder gar unmenschlichen Maßstäben nach gilt. Wenn das, was gilt, tatsächlich einen Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, herstellt, sollte in dem Rahmen, den die menschliche Praxis dafür bietet, nicht gelten, was beliebig und schlecht ist.

In liberalen, rechtsstaatlich verfassten Demokratien ist es die Aufgabe des Rechts, eine Praxis des Unrechts zu verhindern. Die Geltung des Rechts soll dafür sorgen.

Im dritten Kapitel geht es um die Frage, was ›Geltung des Rechts‹ bedeutet. Hans Kelsen beantwortet diese Frage mit seiner Reinen Rechtslehre. Er vertritt einen Dualismus von Sein und Sollen und argumentiert dafür, dass die Geltung des Rechts nicht nur unabhängig ist von allem, was es gibt, sondern eine eigene, in sich geschlossene und kohärente Begründung hat. Kelsen glaubt nicht, dass das Recht selbst unabhängig von der Moral ist.13 Er glaubt aber, dass die Rechtsgeltung unabhängig von Sein und moralischem Sollen ist.14 Das Recht generiert seine eigene Positivität. Kelsens Rechtspositivismus diskutiere ich im Vergleich mit zwei anderen, aber anders argumentierenden Vertretern dieser rechtsphilosophischen Tradition, nämlich Herbert Hart und Joseph Raz (Kap. 3.1). Das Ergebnis meiner Überlegungen, die da und dort von Ronald Dworkins Argumenten (Kap. 3.1.4) unterstützt werden, ist, dass es keine rein rechtliche Geltung geben und dass der Rechtspositivismus keine argumentativ geschlossene Geltungstheorie sein kann.

Das Scheitern der Argumente für eine reine Rechtsgeltung macht aber nicht alle Einsichten Kelsens obsolet. Rechtstheoretisch überzeugend sind seine klare Unterscheidung zwischen der Genese und der Geltung des Rechts und seine Einsicht in die sich selbst generierenden Kräfte der Rechtsordnung. Den Unterschied zwischen Genese und Geltung diskutiere ich ausführlich am Beispiel zweier Kommentare zum ersten Satz des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland. Der Satz sagt, dass die Menschenwürde unantastbar ist. Die Kommentare stammen von Horst Dreier und Matthias Herdegen (Kap. 3.2.2). An deren Beispiel versuche ich zu zeigen, welche Folgen die These hat, dass es keine Identitätskriterien für Prinzipien gibt. Das Ergebnis meiner Überlegungen ist, dass das Prinzip der Menschenwürde reflexiv uneinholbar ist und deswegen in einer Art ständigem Aufstieg zur Bedeutung dieses Prinzips immer wieder neu bestimmt werden muss, wenn seine Geltung in Gefahr gerät. Der Vergleich der beiden Kommentare zeigt dies. Es wird auch deutlich, dass das, was gilt, in eine fortdauernde Genese eingebettet ist und dass die Geltung nicht das Ende einer Genese sein kann.

Die beiden eben erwähnten Kommentare zum ersten Satz des Grundgesetzes lassen offen, wie sich Kants Würde-Konzept zum Prinzip der Menschenwürde verhält. Es lohnt sich, dieser Frage nachzugehen, weil Kant die Würde weder als Prinzip noch als absoluten Wert versteht. Vor allem erlaubt es sein Würde-Konzept nicht, die Würde einem Träger physisch zuzuschreiben. Es ist möglich, auf der Grundlage seiner Überlegungen in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten der Würde sowohl einen inneren als auch einen äußeren Wert zu geben und sie argumentativ bei ethisch schwierigen Entscheidungen etwa in der Transplantationsmedizin oder in der Forschung mit embryonalen Stammzellen anzuwenden. Kants Würde-Konzept kann dazu beitragen, umstrittene verfassungsrechtliche Wertzuschreibungen zu korrigieren.

Die Ergebnisse der Untersuchung ergeben bis dahin noch kein Gesamtbild. Wir haben dafür argumentiert, dass die Praxis zeigt, was gilt, und dies auch für die Praxis der Rechtsprechung angenommen. Wenn die Praxis aber nicht garantieren kann, dass das, was gilt, gut und menschenwürdig ist, müssen wir fragen, wovon dieser Anspruch abhängig ist. Es geht um den Zusammenhang zwischen dem, was in der Praxis der Fall ist, und dem, was der Fall sein soll, zumindest aber nicht der Fall sein sollte. Es liegt nahe anzunehmen, dass es Argumente sind, die den Zusammenhang herstellen. Selbst wenn die Kompetenz derer, die entscheiden, und deren Integrität vorausgesetzt sind, bedarf es ihres Willens, den Zusammenhang in einer bestimmten Weise herzustellen. Argumente allein sind keine Akteure und richten von allein nichts aus, wenn sie niemand vertreten will.

Es liegt zwar auf der Hand, dass der Wille derer, die entscheiden, eine Bedeutung hat, es ist aber unklar, welche. Zum einen geht es darum zu verstehen, was mit ›Wille‹ gemeint ist, zum anderen, wie sich der Wille bildet (Kap. 3.3). Schopenhauer und Nietzsche argumentieren, dass der Wille grundlos und keine Ursache ist. Wäre er selbst eine Ursache, wäre er seinerseits verursacht; dann wäre er auch determiniert, wie viele meinen. Wenn der Wille grundlos ist, ist er wirklich frei und unbestimmt. Dann stellt sich die Frage, wie die Willensbildung zu verstehen ist. Einerseits soll der Wille orientieren, andererseits bedarf er der Orientierung, vorzugsweise durch die Vernunft.

Damit stehen wir vor einem Dilemma. Dieses Dilemma lässt sich mit Hilfe von Kants Konzept der Urteilskraft auflösen (Kap. 3.3.33.3.5). Sein Konzept ermöglicht ein Verständnis der Willensbildung, das weder voluntaristisch noch rationalistisch ist. Die Willensbildung ist eine Urteilsbildung, die einen Gemeinsinn voraussetzt, den wir – unabhängig von Kant – als Sympathie für die Anderen verstehen, aktives und nicht nur passives Mitfühlen mit der Freude und dem Leid der Anderen. Über die so verstandene Willensbildung kann das ontologische Bedürfnis, dass das, was gut ist, dauerhaft und vertrauenswürdig gelten soll, die menschliche Praxis bestimmen. Das, was gilt, kann, wenn wir Kants Konzept der Urteilskraft folgen, nur exemplarisch, aber nicht universal gelten. Obwohl sich das Dilemma der Willensbildung auflösen lässt, gibt es keine Garantie dafür, dass sich das, was gut ist, in der kollektiven Willensbildung durchsetzt und gilt. Ohne eine Willensbildung, die sich von den Idealen der Vorurteilsfreiheit, der Intersubjektivität und der Kohärenz leiten lässt, kann das, was gut ist, nicht dauerhaft gelten. Dann ist die Geltung der Menschenwürde und anderer Prinzipien der Moral und der Politik gefährdet.

Die Untersuchung folgt unterschiedlichen argumentativen Methoden. Einige Argumente sind sprachphilosophischer und analytischer, andere sind hermeneutischer und phänomenologischer Natur. Analyse, Erklärung und Interpretation sollen sich ergänzen. Die Methoden entsprechen der Sache, um die es geht, und nicht umgekehrt.

Was gilt

Подняться наверх