Читать книгу Prinz Albrecht Straße - Will Berthold - Страница 16
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ОглавлениеNeunzehn Uhr fünfundvierzig. Die dunkle Wanduhr hatte die Viertelstunde angezeigt. Ihr schwerer Messingpendel zerhackte die Zeit. Links, rechts, links, rechts, rhythmisch, exakt, monoton, stumpfsinnig. Der Zeiger wanderte. Über Sekunden, Minuten und Stunden. Er fragte nicht danach, ob er die ersten Herzschläge eines Kindes oder die letzten Atemzüge eines Greises verkündete. Uhren fragen nicht nach Zeit. Sie zeigen sie nur an.
Rudolf Formis betrachtete das runde Zifferblatt. Er verglich mechanisch mit seiner Armbanduhr. Stimmte. Seine Stunde schlug um zwanzig Uhr. In fünfzehn Minuten. Wie jeden Abend. Heute abend zum letztenmal?
Er redete der jungen Frau an seinem Tisch zu. Mehr konnte er nicht tun. Er spürte, daß etwas nicht stimmte. Er brachte es richtig mit Werner Stahmer zusammen. Aber da brach seine Überlegung ab. Sein Leben wollte es, daß er jedem mißtraute, der aus Deutschland kam.
Aber der Hotelier, nicht er, hatte die Kriminalpolizei alarmiert. Formis erfuhr das Ergebnis der Überprüfung. Die beiden jungen Menschen waren einwandfrei. Wenn das schon die Polizei feststellte, hatte der Emigrant, der weit mehr ein Gelehrter war als ein Polizist, erst recht keinen Grund, vor dem Ehepaar Stahmer auf der Hut zu sein.
Er gab sich noch fünf Minuten. Wenn Ira wegsah, betrachtete er sie. Sie schleppt etwas mit sich herum, stellte er mechanisch fest. Sie möchte mir etwas sagen. Aber ich muß warten. Seine feinnervigen Hände glätteten die Zeitung. Er zündete sich eine letzte Zigarette an. Er blies den Rauch aus. Er war ein sensibler Mann mit einem ausgeprägten Gefühl für Stimmungen. Er spürte die Unruhe, die im Haus knisterte. Aber die ständige Gefahr, in der er lebte, hatte ihn abgehärtet.
Gleich steht er auf, dachte Ira … und dann …
Rudolf Formis drückte die angerauchte Zigarette im Aschenbecher aus. »Ich habe etwas zu erledigen«, sagte er, »ich muß Sie eine Weile allein lassen …« Er sah betroffen die bettelnden Augen der jungen Frau.
»Bitte«, sagte sie, »bleiben Sie, bitte … bitte …«
»Es geht nicht«, erwiderte er härter, als er wollte.
Er stand auf, zögerte eine Sekunde.
Ira beugte sich über den Tisch. »Ich muß Ihnen etwas sagen …«, raunte sie hastig. »Ich bin nicht mit Stahmer verheiratet.«
Formis schüttelte verwirrt den Kopf. Dann kam Leben in seine guten Augen. Ach so, dachte er, das bedrückt sie. Er lächelte warm und taktvoll.
»Hören Sie«, sagte Ira, »er ist … hören Sie doch …«, setzte sie ein zweites Mal an, als sie merkte, daß Formis lächelnd weitergehen wollte, »er ist … ein Agent … aus Deutschland …«
Formis stand wie angeschraubt. Jetzt begriff er alles. Zuerst war er erschrocken. Dann müde. Dann enttäuscht. Zuletzt wußte er, was es für diese junge Frau bedeutete, ihn zu warnen. »Bleiben Sie hier«, sagte er. Eine Sekunde streichelten sie seine Augen. »Danke«, setzte er leise hinzu.
Dann handelte er. Er trat an den Hotelier heran, zog ihn auf die Seite, sprach ein paar Sätze in schnellem, zischendem Tschechisch.
»Wie lange dauert es, bis die Polizei hier ist?« fragte er.
»Normalerweise zehn Minuten … Ist was los?«
»Alarmieren Sie sofort die nächste Station!« Formis machte eine vage Bewegung mit der Schulter. »Ich habe das Empfinden, daß heute auf mich … ein Anschlag verübt wird …«
»Von wem?« fragte der Wirt.
»Telefonieren Sie«, antwortete Formis fest.
Der Hotelier ging an den Wandapparat und rief die Ortschaft Zahorski an. Dann drehte er sich um und sagte zu Formis: »Bleiben Sie hier!«
»Nein«, erwiderte der Mann ruhig.
Zehn Minuten, überlegte er. Ich werde nicht feige sein. Mein Leben war immer ein Kampf. Daß dieser Kampf jetzt auf eine andere Ebene geschoben wird, ist nicht meine Schuld. Aber ich werde nicht ausweichen. Ich werde diese sechshundert Sekunden durchstehen …
Er langte in die Tasche. Die Pistole war geladen, gespannt und entsichert. Sein Oberkörper straffte sich. In seinen Augen war ein harter Glanz. Gut, dachte er, komm nur, Werner Stahmer … ich werde dich empfangen.
Ira sah ihm mit entsetzten Augen nach. Warum blieb er bloß nicht hier? überlegte sie. Er weiß ja gar nicht, daß ihm zwei Männer auflauern. Sie wollte ihm nachstürzen, aber sie wagte es nicht. Die Angst nagelte sie auf den Stuhl, und dabei dachte sie noch nicht einmal an ihr eigenes Schicksal.
Bevor der Hotelier ein zweites Mal Rudolf Formis zurückhalten konnte, ging der Emigrant nach oben, in seinen Senderaum, in dem die Höllenmaschine unhörbar tickte …