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In den ersten Sekunden hatte Werner Stahmer die Empfindung, daß die Hand, die sich gegen sein Opfer hob, mit der Peitsche niedergeschlagen wurde. Er hatte instinktiv erfaßt, daß Formis gewarnt worden war, er warf sich zur Seite. Hinter ihm knallte es. Zweimal. Dreimal. Georg hatte nicht gezögert. Schießen, das war nach seinem Geschmack. Treffen, das hatte er gelernt. Beim Röhm-Putsch zum Beispiel.

Formis fiel mit schwerem Aufschlag zu Boden. Stahmer fuhr aus der Deckung hoch.

»Idiot!« fluchte er.

Dann reagierte er schnell, stieß dem Mörder in die Rippen, flitzte über den Gang, nahm die Stufen satzweise. Georg hinter ihm, die rauchende Pistole in der Hand.

Erdgeschoß. Ein Mann stand im Flur. Der Wirt, mit aufgerissenen, entsetzten Augen. Neben ihm, an die Wand gelehnt, blaß, zitternd vor Angst, Ira.

»Komm!« rief ihr Stahmer zu.

Die junge Frau zögerte.

Georg drosch mit dem Pistolenknauf den Hotelier zusammen. Dreimal, viermal. Die Kellnerin kam schreiend aus der Tür. Der Mörder richtete sich gemächlich auf. Sein Fußtritt wuchtete lässig. Er traf das Mädchen in den Leib. Wie gehabt. Wie gelernt.

Stahmer riß die willenlose Ira an der Hand nach draußen. Georg folgte.

Bange Sekunden. Die Batterie orgelte leer. Motor lief. Endlich. Langsam rollte der Wagen über die ausgeschaufelte Fläche vor dem Haus, erreichte die Straße. Stahmer müßte nach links einbiegen. Er fuhr rechts. Instinkt. Nichts weiter. Nach ein paar hundert Metern schaltete der Agent das Licht ein. Kein Verkehr auf der Straße. Die Tachometernadel zitterte bei neunzig.

Stahmer preßte die schmalen Lippen aufeinander. Sie waren blutleer. Blut klebte am Steuerrad. Formis hatte die Hand des Agenten getroffen. Jetzt biß der Schmerz. Keine Zeit zum Verbinden. Vorwärts! Weiter! Gleich müßten sie kommen, die Verfolger Gleich belebte sich die Nacht, wimmelte vor Gefahr und Polizisten.

Alles schiefgegangen, überlegte Stahmer bitter. Der Skandal! Wenn das der Gruppenführer erfährt! Wenn sie uns fassen! Wenn sie uns einen Prozeß machen! Wenn das ganze Ausland erfährt, wie Heydrich mit seinen Feinden abzurechnen pflegte! Wenn Ira spricht! Und sie wird es tun. Sie hat keine Ahnung, keine Erfahrung …

Der Motor heulte wie ein hungriger Wolf. Hundert Sachen. Aufgelegter Selbstmord.

»Fahr doch langsam!« knurrte der Mann namens Georg. »Halten Sie den Mund«, zischte Stahmer.

Seine linke Hand steckte in kochendem Öl. Sein Verstand arbeitete wieder ruhig. Formis war gewarnt worden … Wodurch? War ich unvorsichtig? Nein! Georg? Keiner hatte ihn gesehen! Stahmers Augen suchten eine Sekunde lang wie von selbst die neben ihm kauernde Ira …

Sie fing den Blick auf. Er weiß es, sagte sie sich. Aus und vergeblich …

»Was … was war los?« fragte sie.

»Nichts«, erwiderte der Agent barsch.

»Wer … wer hat geschossen?«

»Mal keene Bange … Frollein …«, sagte der Mann auf dem Hintersitz selbstbewußt, » … der redet nicht mehr …«

Einen Moment möchte Stahmer mit der unverwundeten Hand auf die junge Frau einschlagen, sinnlos vor Zorn und Angst. Diese Idee, Heydrich, denkt er! Dein glorreicher Gedanke, mir eine Anfängerin mitzugeben, deren Nerven der Sache nicht gewachsen sind. Eine Verräterin! Eine …

Die erste Ortschaft flog vorbei. Stahmer brauchte nicht auf die Karte zu sehen. Jetzt nach rechts; zwei, drei Stunden vielleicht noch konnte er den Wagen benutzen. Dann mußte er ihn stehenlassen, zu Fuß gehen. Wenn sie Georg fassen? Er wird schweigen. Ich auch. Aber Ira muß weg. Sofort. Sie dürfen sie nicht greifen. Er bohrte die Zähne in die Unterlippe. Ich werde mit ihr abrechnen, dachte er. Aber nicht hier, drüben, in Deutschland. Wir werden ihr zeigen, was es heißt, uns in den Rücken zu fallen …

Die junge Frau schreckte hoch. Sie war so verstört, daß sie sprechen wollte. »Ich habe …«, begann sie zögernd, »mit ihm …«

»Halten Sie den Mund!« brüllte Stahmer Ira an.

»Ich meine … Formis …«

»Sie sollen Ihre Schnauze halten!« fuhr der Agent sie brutal an. Dann zwang er sich zur Ruhe. »Hören Sie …«, sagte er, »es ist nichts geschehen … Sie sprechen mit niemandem … mit keinem Menschen darüber …« Seine kalten Augen stachen in ihre Gesichtshaut. Er langte in die Brieftasche, zog ein Kuvert heraus.

»Ich setze Sie gleich ab«, wandte er sich an Ira. »Sie fahren mit dem Zug bis Prag … Morgen früh um acht Uhr sind Sie am Flugplatz … die Maschine der Lufthansa startet um acht Uhr dreizehn. Sie heißen wieder Ira Puch … In dem Kuvert ist Ihr Paß, Flugkarte, Geld … Verstanden?«

Auf einmal weinte die junge Frau. Der Krampf schüttelte sie. Erleichternd. Fest. Zuckend.

»Das hat uns noch gefehlt«, sagte Georg grinsend.

Stahmer starrte durch die Windschutzscheibe. Noch rührte sich nichts. Er passierte die nächste Ortschaft, die übernächste. Die Dörfer waren längst schlafen gegangen. Der kalte Schneewind trieb die Bewohner vorzeitig in die Betten.

Der Agent griff mit der rechten Hand nach Iras Arm. »Für Sie ist ja alles gleich vorbei …«, sagte er. »Was sollen Sie tun?«

»Von Prag aus nach Berlin fliegen«, entgegnete Ira.

»Und dort haben Sie mit niemandem zu sprechen … sonst …«

Der Wagen erreichte das Kreisstädtchen. Im Bahnhof war noch Licht. Stahmer hatte den Fahrplan im Kopf. Zwanzig Uhr zweiunddreißig. Geschafft, überlegte er. In vier Minuten fuhr der letzte Zug ab in die Goldene Stadt.

»Los, schnell!« herrschte er das Mädchen an.

Ira stieg aus. Stahmer sah ihr nach. Sie kann nicht gemerkt haben, daß ich ihren Verrat durchschaut habe, dachte er.

Wenn sie erst in Berlin ist …

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