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ОглавлениеZu dieser Stunde saß Formis in seinem Zimmer, dem Senderaum.
Zwanzig Uhr. Er sprach in das Mikrophon. Seine Worte drangen wie ein dünner Ruf in die Nacht. Und auch er würde bald verstummen. Das wußte der Mann.
Zunächst hatte sich die deutsche Regierung wiederholt über den Sender beschwert. Die Tschechen redeten sich darauf hinaus, daß sie ihn nicht finden könnten. Dabei wußte Rudolf Formis genau, daß er angepeilt wurde, daß er jedesmal, wenn er seinen flammenden Aufruf in den Äther sprach, sich selbst verriet. Und eines Tages würden sie kommen. Heute oder morgen, und die Mittel benutzen, gegen die er auf verlorenem Posten kämpfte.
Er stand auf, räumte sein bescheidenes Gerät zur Seite, sperrte die Tür sorgfältig ab, ging nach unten. Die Gaststube war fast leer. Die plötzliche Kältewelle hatte die meisten Gäste zur Abreise gezwungen.
Die junge Frau aus Berlin war noch da. Allein. Formis begrüßte sie. Etwas zog ihn zu ihr hin. Vielleicht nur die Sehnsucht nach seiner Muttersprache. Oder die Einsamkeit.
»Langweilig hier, nicht?«
»Ja«, erwiderte Ira. »Mein Mann mußte nach Prag.«
»Das ist sehr ungalant von ihm …«Formis lächelte hilflos. »Sind Sie schon lange verheiratet?« fragte er.
»Nein … wir sind fast noch in den Flitterwochen«, antwortete Ira lachend.
Ich lüge schon wie selbstverständlich, überlegte sie. Dabei ist der Mann so freundlich. Das Licht flackerte. Draußen heulte eisiger Schneewind.
»Ich bin ein schlechter Unterhalter«, sagte Formis zögernd. »Ich weiß nicht, was ich für Sie tun kann …« Sein Blick streifte ein japanisches Tischchen in der Ecke mit einem Schachbrett.
»Spielen Sie Schach?«
»Ja«, versetzte Ira.
»Gut?«
»Gut … für eine Frau.«
Der Mann, der in ständiger Gefahr lebte, stand auf, ging auf die Ecke zu. Seine Hand griff nachdenklich nach einem Turm. Er bewegte die Figur. Sie hinterließ einen runden, sauberen Fleck auf dem dunklen Feld. Ira bemerkte, daß das Spiel verstaubt war. Formis drehte sich um.
»Fernschach …«, erklärte er. »Ich habe einen Partner in Australien. Wir spielen schon seit zwei Jahren an dieser Partie …« Sein Lächeln wirkte müde.
»Sind Sie schon lange hier?« fragte die junge Frau.
»Ja.« Der Mann nickte. Um seinen Mund stand auf einmal eine tiefe, bittere Linie. Wie eingemeißelt.
»Ist es nicht langweilig?« fragte Ira im Konversationston weiter.
»Langweilig?« antwortete er. Seine grauen Augen musterten sie eine Sekunde mißtrauisch. »Warum?«
»Ich meine … zwei Jahre in diesem kleinen Ort …«
»Die Luft ist besser«, versetzte Formis, »besser als in Berlin … viel sauberer.« Sein Mund versuchte zu lächeln, aber seine Augen glänzten hart. »Merken Sie das nicht?«
»Doch, natürlich …« Die junge Frau war auf einmal verwirrt. »Ich hatte eine kleine Erkältung, als ich ankam«, sprudelte sie heraus, »jetzt ist sie weg.« Es klang nicht echt. Es stimmte auch nicht.
Formis nickte. »Mir ging es genauso«, stellte er fest. »Kaum war ich hier, konnte ich wieder frei atmen …« Er lachte trokken.
Ira betrachtete ihn aufmerksam. Auf einmal hatte er rote Flekken auf den Wangen, und sein Blick wirkte fern und verloren. Sie setzte sich ihm gegenüber, ordnete mechanisch die Figuren. Ihr Spiel war zerfahren. Sie konnte sich nicht konzentrieren. Sie achtete nicht auf Felder und Züge, sondern ihre Augen fanden sich immer wieder auf dem Gesicht des Partners.
Er paßte sich ihr an. Er hätte sie ein paarmal schachmatt setzen können. Aber er beging absichtlich Fehler. Daß er unfreiwillig den schlimmsten Fehler seines Lebens begangen hatte, als er seinem Verfolger hier Quartier verschaffte, ahnte er nicht.
Wieder fing er einen Blick der jungen Frau auf. »Warum sehen Sie mich denn so an?« fragte er mit gezwungenem Lächeln.
»Entschuldigen Sie …«, entgegnete Ira schnell, »ich spiele heute wirklich schlecht …«
»Ich gebe Ihnen meine Dame vor«, bot Formis an.
Seine Wärme, seine Hilfsbereitschaft trieben wie eine Woge auf sie zu. Ira ahnte, was dieser Mensch mitmachte, wie er litt, wie einsam er war, welche unglaubliche Energie dazu gehörte, sich selbst in ein solches Nest zu verbannen und das Spiel seines Lebens zu wagen.
Das Gesicht des blonden Mädchens wurde fahl, sie sah diesen ernsten Kopf mit den feinen Zügen blutig, wachsgelb, starr. Tot. In dieser Sekunde erkannte sie, welchen Befehl Werner Stahmer aus Berlin mitbringen würde. Das Grauen schüttelte sie. Und ich, überlegte sie, bin der Lockvogel, ich werde mitschuldig sein …
»Was haben Sie nur?« fragte Formis ruhig.
»Nichts«, entgegnete Ira verstört.
Sie stand langsam auf, ging ein paar unsichere Schritte, drehte ihm ihr blasses Gesicht noch einmal zu.
»Mir ist … sehr übel …«, sagte sie. Die Worte verdämmerten langsam im Raum.
Formis schüttelte den Kopf. Dann war seine Überlegung bei der Fernpartie.
Dem Spiel mit Australien – dem Kampf gegen Berlin.