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Philosophiegeschichtlicher Exkurs

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Ich habe bereits gesagt, dass wir uns bei der Interpretation des menschlichen „Geistes“ primär auf unsere eigenen Erfahrungen und Konzepte stützen, weil es anders keinen verlässlichen Zugang zu ihm gibt. Indes muss eingeräumt werden, dass Erfahrungen insbesondere, wenn sie von einem Einzelnen gemacht werden, wegen ihres subjektiven „Anstrichs“ u.U. Irrungen nicht ausschließen. Deswegen erscheint es ratsam, sich zur Absicherung, aber auch zur Klärung der eigenen Auffassung zum einen nach Gewährsleuten umzuschauen, die ähnliche Erfahrungen gemacht und dementsprechende Entwürfe entwickelt haben. Zum anderen sollen auch Gegner zu Wort kommen, die sich gleichsam stellvertretend für die abgelehnten Positionen einsetzen – dies auch deswegen, weil sich eigene Konzeptionen in einer Kontrastierung zu konträren überzeugender darstellen lassen. Aber abgesehen von diesen mir zugute kommenden „Hilfsmaßnahmen“ möchte ich gerade in unserer weithin materialistischen Epoche auf das uns von jenen erstgenannten Philosophen überlassene, unschätzbare Erbe aufmerksam machen, das nicht verloren gehen darf.

Vermutlich wird es überraschen, dass ich in meinem philosophiegeschichtlichen Überblick mit Ansichten des römischen Politikers und Philosophen Marcus Tullius Cicero (106–43 v.Chr.) beginne. Aber dieser hat in einer kleinen Schrift mit dem Titel Cato maior de senectute (dt. Über das Alter, Stuttgart, 1998) bemerkenswerte Gedanken entwickelt. Insbesondere der dem Tod geltende, vierte Abschnitt hat mein Interesse geweckt. Darin präsentiert er den menschlichen „Animus“ (ein lateinisches Wort, das nicht nur mit Seele, sondern auch mit „Geist“ zu übersetzen ist) als eine immer bewegliche Wirklichkeit, die keinen vom Menschen feststellbaren Anfang hat, und für die es, weil sie sich selbst bewegt und niemals verlässt (100), auch kein Ende der Bewegung geben wird. Den Animus haben, wie er meint, die unsterblichen Götter in einen menschlichen Körper eingepflanzt. Als vom Himmel stammend ist er vom höchsten Wohnsitz vertrieben worden und gleichsam auf die Erde herabgesunken, auf einen der göttlichen Natur und Ewigkeit entgegengesetzten Ort, wo die Menschen, im „Gehäuse“ ihrer Körper eingeschlossen, eine notwendige Aufgabe zu erfüllen und ein schweres Werk zu leisten haben (98). Diese Unterkunft ist den Menschen daher nur zum vorübergehenden Verweilen verliehen. Deshalb wird der Tag nach Cicero herrlich sein, an dem sich der Animus zu der göttlichen Versammlung und Gemeinschaft der anderen „Geister “ (animorum) aufmachen kann (106).

Aus meiner Sicht ist der von Cicero vertretene, polytheistische Glaube heutzutage nicht mehr vertretbar, wie ich später im Endteil meiner Arbeit im Zusammenhang mit der religiösen Problematik zeigen werde. Ebenso wenig kann ich seiner Aufforderung nach einer dezidierten Todesverachtung bzw. Todesignorierung im Alter beipflichten, weil, wie ich behaupte, ein zwar mit Entsetzen gepaartes und deswegen nicht loslassendes Todesbewusstsein die Menschen doch in die entgegengesetzte Richtung weisen soll: nämlich nach einem „Überleben“ Ausschau zu halten.

Im Fortgang der Übersicht mache ich nun einen weiten Satz bis zur Schwelle der Neuzeit, wo man bezüglich der menschlichen Willensfreiheit zwei sich erheblich befehdenden Geistern begegnen kann: Erasmus von Rotterdam (1467–1536) und Martin Luther (1483–1546). Erasmus legte seine Auffassung in dem 1524 verfassten Gespräch (Diatribe) Vom freien Willen nieder (Göttingen, 1940), in dem er sich gegen die besonders von Luther vertretene Ansicht vom unfreien Willen des Menschen wandte.

Erasmus beginnt damit, Beweisstellen für die Willensfreiheit aus dem Alten Testament aufzuführen (24ff. u. 33ff.). Im Anschluss benennt er solche aus dem Neuen Testament (39ff.). Für ihn steht außer Zweifel, dass auch der religiöse Glaube ein Phänomen ist, für das der freie Wille des Menschen die Grundlage bildet (40). Dagegen stellen für ihn biblische „Gegendarstellungen“ keine grundsätzliche Widerlegung dar (51), zumal ohne die Freiheit kein Raum für Verdienst und Schuld sowie für Lohn und Strafe gegeben wäre (58). So kommt Erasmus zu dem Resultat, dass Gott und unser Wille in uns zusammenwirken (68), oder anders formuliert, dass der Mensch alles vermag, wenn Gottes Gnade ihm hilft, so dass die Werke des Menschen gut sein können (74). Erasmus lehnt also Luthers Position ab, da sie „den freien Willen erdrosselt und beseitigt“, und plädiert für diejenige Auffassung, die einiges dem freien Willen, doch das meiste der Gnade zuschreibt (87).

Gegen Erasmus ’ Diatribe verfasste Luther ein Jahr später (1525) seine Schrift De servo arbitrio (M. Luther, Ausgewählte Werke, Ergänzungsreihe, 1. Bd., München, 1940). In ihr geht es ihm kurz gesagt um die göttliche All- und Alleinwirksamkeit dem Menschen gegenüber. Diese Sichtweise veranlasste ihn, den „freien Willen als lauter Menschenfund und Lüge“ (6) bzw. „als ein bloßes Wort und nichts“ anzusprechen und dagegen alles, was geschieht, also auch die Sünde und das Böse, als aus göttlicher Vorsehung kommend zu betrachten (105).

Zur Klärung dieses schwierigen Problems stellt Luther unterschiedliche Gottesvorstellungen einander gegenüber: So unterscheidet er den Deus revelatus, den gepredigten Gott, vom Deus absconditus, dem verborgenen Gott. Diese Unterscheidung ist die „zwischen dem Wort Gottes und Gott selbst“ (108). Der Mensch muss „das Wort anschauen “, die unerforschlichen Willen Gottes aber darf er „nicht erforschen (…) sich darum kümmern oder berühren, sondern nur fürchten und anbeten“ (109). Für Luther ist der Mensch ein in jeder Hinsicht vom allmächtigen und allwissenden Gott gemachtes wie dirigiertes Wesen, was diesem im Glauben bewusst werden soll. Aus seiner Sicht widerruft die Diatribe ihre eigenen Worte, wenn sie sagt, „daß der freie Wille ohne Gnade nichts Gutes zu wollen vermöge“ (110).

David Hume (1711–1776) hat die sich aus der „Geist“-Problematik ergebenden Schwierigkeiten dadurch zu lösen versucht, dass er – getragen von einer skeptischen Grundeinstellung – eine Ich-(Geist-)Instanz bzw. eine Ich-Substanz leugnete und einen (psychologischen) Determinismus favorisierte. Die Vorstellung einer persönlichen Identität (einem Selbst oder Ich oder Geist oder einer Seele) lehnte er ab. Dazu schreibt er: „Es gibt gewiß in der Philosophie keine abstrusere Frage als die nach der persönlichen Identität oder der Natur des Faktors, der die Einheit der Persönlichkeit konstituiert“ (D. Hume, A Treatise of Human Nature, 1. Buch, dt., Hamburg, 1989, 253).

Zum Verständnis dieser Ansicht ist davon auszugehen, dass für Hume alle Bewusstseinsinhalte, die er als Perzeptionen deklariert, auf (Sinnes-)Eindrücke (Impressionen) oder Vorstellungen (Gedanken, Ideen) zurückgehen, wobei es keine geistigen Vorgänge gibt, ohne dass es Eindrücke der Sinneswahrnehmungen gibt oder gab. Seiner Ansicht nach ist „das, was wir Geist nennen, nichts (…) als ein Haufen oder eine Ansammlung verschiedener Perzeptionen, die durch verschiedene Relationen untereinander verbunden sind; und fälschlicherweise wird angenommen, dem Geist komme vollkommene Einfachheit und Identität zu“ (207). Für den Skeptiker Hume ist ausschlaggebend, dass sich die Perzeptionen von sich aus in vollkommener Klarheit darbieten und sich allein deswegen ein Rückgriff auf einen substanziellen Träger verbietet (327 u. 305). Er führt weiter aus, dass, selbst wenn man zur weiteren Klärung das Wort Tätigkeit (action) einführte, auch dieses keine adäquate Bezeichnung für eine mögliche Abhängigkeitsbeziehung zwischen Perzeption und Träger lieferte. Denn da wir vom Letzteren keine Vorstellung besitzen, lässt sich niemals sagen, in welchem Sinne Perzeptionen Tätigkeiten jener Substanz sein sollten (318f.).

Was Humes deterministische Optionen, vor allem seine Leugnung der menschlichen Willensfreiheit betrifft, so hängt sie eng mit seiner Verwerfung einer eigenen Ich-Instanz im Menschen zusammen. Denn wo ein Selbstsein bzw. eine Selbsttätigkeit in Abrede gestellt wird, kann es auch keine Anerkennung der (Willens-)Freiheit geben. Da aber seiner Meinung nach nichts ohne Ursache existiert, vermag sich auch der Wille nicht „ursachelos “ in Szene zu setzen. So folgert er, dass die (menschlichen) Willenshandlungen denselben Gesetzen der Notwendigkeit unterliegen wie alle materiellen Vorgänge. Er sieht eine fortlaufende Kette notwendiger Ursachen, die von der ersten Ursache aller Dinge (nämlich Gott) herabreicht bis zu den Willensregungen eines jeden menschlichen Geschöpfes (D. Hume, An Enquiry Concerning Human Understanding, dt., Hamburg, 1993, 113 u. 117).

Als Komponenten dieser kausalen Kette des menschlichen Verhaltens benennt Hume die Erziehung, den durch die Macht der Gewohnheit geformten, wenn auch unbeständigen Charakter sowie andere äußere Umstände, die zusammengenommen die notwendigen Beweggründe darstellen. Wie sehr wir uns auch eine innere Freiheitsempfindung einbilden mögen, „ein Zuschauer kann gewöhnlich unsere Handlungen aus unseren Beweggründen und Charakterzügen ableiten; und selbst wo er das nicht kann, schließt er im allgemeinen, er würde es können, wäre er vollständig vertraut mit jedem Umstand unserer Lage und Gemütsart, wie den geheimsten Quellen unserer Seelenverfassung“ (112). Kurz gesagt: Es gibt für Hume nirgendwo in der Welt Zufall, Unbestimmtheit oder Freiheit (102ff.).

Gegenüber diesen Ansichten Humes wartet der englische Psychiater J. R. Smythies mit bemerkenswerten Erwiderungen auf. Zunächst ironisiert Smythies Hume, indem er in dessen misslungenem Versuch, ein Ich „aufzuspüren“, gerade eine Möglichkeit zu seiner Entdeckung sieht. Denn es ist ja unverwechselbar Humes Ich selbst, das die Suche danach unternimmt. „Wer denn sonst?“, fragt Smythies. Er fasst in seiner Konzeption alle Perzeptionen zusammen und ordnet sie einem „zentralen Ich“ zu, das sich zudem seiner Existenz bewusst ist – allerdings in einer Weise, die sich, wie Smythies meint, kaum beschreiben, aber erleben lässt. Er hebt verschiedene Charakteristika des Ich (-Bewusstseins) zusammenfassend hervor: seine einheitsstiftende Kontinuität, seine Reflexivität (Bewusstheit), seine Eigenheit (Selbstheit) und seine Realität (Existenzialität). (J. R. Smythies, Aspekte des Bewußtseins, in: „Das neue Menschenbild“, hrsg. von A. Koestler und J. R. Smythies, dt., Wien, 1970, 230ff.)

Was Humes Behauptung anbelangt, das menschliche Verhalten sei durch auf äußeren und inneren Faktoren basierende Beweggründe (Motive) vorherbestimmt (determiniert) und darum könne von einer Willensfreiheit keine Rede sein, so erscheint sie mir sehr kurzsichtig. Denn beim Menschen sind die Motive seines Handelns keineswegs primäre, „automatische Taktgeber“, sondern sind häufig in einer Art „Motiv-Mix“ gegeben, aus dem dann eine Auswahl getroffen werden muss, bevor eines seine „Motiv-Kraft“ entwickeln kann. Ohne eine über eine Wahl vermittelte Einwilligung des Menschen können Motive ihre Wirksamkeit nicht entfalten. Weder stellen sie, wie man oft fälschlicherweise annimmt, eine spontane „vis a tergo“ (Kraft von hinten), noch eine direkte „vis a fronte“ (Kraft von vorn) dar, sondern sie geben allenfalls die ungefähre Richtung eines möglichen Handelns an, die aber wiederum vom Menschen kraft einer von ihm frei getroffenen Entscheidung genau bestimmt und operational eingeschlagen wird. Nur aufgrund dieser seiner Freiheit trägt er die Verantwortung bzw. kann diese ihm zugeschrieben und auch zugleich aufgebürdet werden – Zusammenhänge, die für die menschliche Ethik und die Justiz (Rechtsprechung) von grundlegender Relevanz sind.

Für Immanuel Kant (1724–1804), dem ich mich nun zuwenden will, war das Problem der menschlichen Freiheit, das für ihn die Frage nach dem Menschsein maßgeblich leitete, ein zentrales Anliegen seiner denkerischen Bemühungen. Ich beziehe mich in meinen Ausführungen besonders auf seine Logik, die Kritik der reinen Vernunft und die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (I. Kant, Logik, GW, Bd. III, abgek. L, Kritik der reinen Vernunft, Bd. II, abgek. KrV und Grundlegung der Metaphysik der Sitten, Bd. IV, abgek. MS, Darmstadt, 1959 u. 1956).

Das Problem der Freiheit und damit die Frage des Menschseins können nach Kant indes erst in Angriff genommen werden, wenn drei elementare Grundfragen des Lebens erörtert und beantwortet sind, die er in seiner Logik (L, 446ff.) und der Kritik der reinen Vernunft (RV, 833) formuliert:

1 Was kann ich wissen?

2 Was soll ich tun?

3 Was darf ich hoffen?

Die erste Frage behandelt Kant in der Kritik der reinen Vernunft. In dieser Kritik geht es um die menschliche Rationalität selbst, die vor allem sich auf Erfahrung stützendem Wissen und Erkennen der primäre Bezugspunkt ist. Aus ihr sind die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis abzuleiten, sie öffnet den Horizont für das, was wir überhaupt wissen können, und begrenzt ihn zugleich.

Für die zweite Frage ist nach Kant die Moral zuständig, die den Menschen seine innere Freiheit und seine sittliche Verantwortung bewusst werden lässt. Aber auch Moralität und Sittlichkeit finden ihre Grundlage in der menschlichen Rationalität, wie er in der Kritik der praktischen Vernunft aufzeigt. Überdies spricht er die Moralität bzw. den sittlichen Willen direkt als praktische Vernunft an (MS, 41).

Auch bezüglich der dritten Frage wird die menschliche Rationalität zum entscheidenden Bezugspunkt, wie man Kants Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft entnehmen kann. Was nach Kant das eigentliche Menschsein ausmacht, das visiert er in der vierten, zusammenfassenden Grundfrage: Was ist der Mensch? an, die er in seiner Anthropologie (die Wissenschaft vom Menschen!) behandelt. Der Mensch ist ein reflektierendes Wesen, das seine Endlichkeit und Begrenztheit mitreflektiert, wenn es sich fragt, was es wissen, tun und hoffen darf. Es ist die menschliche Vernunft (Rationalität), die dem Menschen eine Art „vernünftige Erhabenheit“ vermittelt. Diese Vernunft bildet den Angelpunkt in Kants Philosophie und Menschenverständnis: „Der wahre Philosoph muß als Selbstdenker einen freien und selbsteigenen, keinen sklavisch nachahmenden Gebrauch von seiner Vernunft machen“ (L, 449). Selbstdenker? Ein solcher ist der Mensch als Vernunftwesen, das alle seine Lebensnotwendigkeiten, insbesondere Wissenschaft, Ethik, Religion wie sein Selbstverständnis kraft seiner Vernunft erkundet und „reguliert“.

In der Kritik der reinen Vernunft geht Kant von der Frage aus, wie Erfahrung und Erkenntnis möglich sind, und thematisiert sowohl die Potenzen des Denkens als auch dessen Grenzen, die durch Verstand und Vernunft festgelegt sind. Denn die Vernunft ist es, die die Erfahrung formt und überhaupt erst ermöglicht, und zwar mittels transzendental-apriorischer „Formalien“ – durch die Anschauungsformen Raum und Zeit sowie die Verstandesformen, die sogenannten Kategorien: Quantität, Qualität, Relation und Modalität. Diese werden zusammen mit den Anschauungsformen wiederum in der transzendentalen Apperzeption, dem „logischen Ich“, in einer Synthesis zusammengefasst (KrV, B 134 ff.). Durch diese Vernunft-Operationen wird der Erfahrung bzw. der Erkenntnis, wie gesagt, lediglich die Form gegeben, weswegen sich Kants Standpunkt als „formaler Idealismus“ ansprechen lässt (KrV, B 520).

Dieser Formalismus schließt noch etwas Wichtiges ein, das zu berücksichtigen ist. Nach Kant begegnet man in der Erfahrung lediglich Erscheinungen, die er mit dem Wort „Phänomena“ kennzeichnet (KrV, B 306 ff.). Aber der Begriff „Erscheinungen“ beinhaltet zugleich, dass „etwas“ erscheint, dem, in Kant’schen Worten, sein unzugängliches „An-sich-Sein“ zugrunde liegt. Daher spricht er auch von intelligiblen oder Verstandeswesen, die er als „Noumena“ bezeichnet. Weil diese aber den Erscheinungen lediglich „hinzugedacht“ werden, ohne dadurch irgendeinen Erkenntnis-Zuwachs zu verbürgen, stellt der Begriff „Noumenon“ bloß einen Grenzbegriff dar, der sich deswegen nur zu einem negativen Gebrauch eignet (KrV, B 249ff. u. B 309ff.). Kant unterstreicht dies, wenn er das transzendentale Objekt, welches den äußeren Erscheinungen (der Natur) wie der inneren Anschauung (der Seele) zugrunde liegt, weder als Materie noch als ein denkendes Wesen an sich bezeichnet, sondern als einen unbekannten Grund der Erscheinungen (KrV, B 382 u. B 277ff.).

In der auch die menschliche Seele mit einschließenden Erscheinungs-Welt waltet nach Kant durchgängig die Kategorie der Kausalität, demzufolge ist die Welt der Erscheinungen eine determinierte Welt (KrV, B 226f.). Da aber der Mensch auch Teil der intelligiblen Welt ist, ist eine Ich-Freiheit möglich. Konkret bekundet sie sich im menschlichen Willen bzw. im von ihm initiierten, praktischen Handeln. Gegenüber der ubiquitären Naturgesetzlichkeit bedeutet dies: Eigengesetzlichkeit, Autonomie. Diese darf aber nicht im Sinne von Willkür gedeutet werden, sondern meint eine allgemein verbindliche, dem moralischen Gesetz unterstehende Freiheit. Diese erwächst nach Kant aus dem kategorischen Imperativ – das ist das Gesetz in uns. Danach soll der Mensch so handeln, dass die Maxime (das subjektive Prinzip) seines Handelns zu einem allgemeinen Gesetz (Gebot) werde könne, oder spezieller: Er solle so handeln, dass er die Menschheit in seiner Person wie in der Person eines Anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel gebrauche (MS, 51 u. 61). In der sich als Pflichtbewusstsein erweisenden Autonomie bzw. in der über den Naturnotwendigkeiten stehenden Moralität und Sittlichkeit erblickt Kant die Würde des Menschen (MS, 68f.).

Mit diesen wenigen Hinweisen auf Kants Verständnis des Menschseins, dem er neben einer Ich-Bewusstheit vor allem Vernünftigkeit nicht nur in theoretischer, sondern auch in praktischer, ja religiöser Hinsicht attestiert, begnüge ich mich, jedoch nicht ohne noch einige Einwände zu formulieren. Aus Kants transzendental-apriorischer Sicht ist die Erfahrung, wie hervorgehoben, als zweitrangig einzustufen. Denn sie wird vorgängig und souverän von der menschlichen Vernunft und ihren Regeln bestimmt. Was wiederum einem Determinismus gleichkommt – dem der Vernunft. Für Kant ist auch keineswegs das Ich, resp. das Selbstbewusstsein, in der Erfahrung verankert. Vielmehr ist es von ihm rein intellektuell gefasst und gehört überhaupt zum Denken – eben in Gestalt der transzendentalen Apperzeption (KrV, 355f.). Einer derartigen rationalistischen Ich-Auslegung kann ich jedoch meine Zustimmung nicht geben. Überdies besteht ein erhebliches Manko der kantischen Philosophie darin, dass er der menschlichen Sprache und der damit verbundenen menschlichen Sozialität wenig Beachtung schenkt, Letzterer allenfalls eine aus dem rationalen Sittengesetz erwachsende, nachgeordnete Wichtigkeit zuerkennt (MS, 61).

An dieser Stelle wende ich mich dem Philosophen Johann Gottlieb Fichte (1762 – 1814) zu. Im Zentrum seines spekulativ-metaphysischen und subjektiv-idealistischen Denkens steht das menschliche Ich. Bei meinen Betrachtungen beziehe ich mich nicht auf sein umfassendes wie schwer verständliches Hauptwerk, die Wissenschaftslehre, sondern auf die populäre philosophische Schrift Die Bestimmung des Menschen (Hamburg, 2000, abgek. BM) sowie auf das spätere Werk Anweisung zum seligen Leben (Hamburg, 1954, abgek. SL). Vorweg muss ich darauf hinweisen, dass er in diesen Werken den von ihm anfänglich vertretenen, rein subjektiven, sehr „Ich-lastigen“ Idealismus religiös zu fundieren versucht.

Um ein besseres Verständnis für Fichtes Denkwandlung, die sich in beiden Werken zeigt, zu erhalten, führe ich einige biographische Daten an. Seit 1794 hatte er im Thüringen’schen Jena einen Lehrstuhl für Philosophie inne, wurde aber wegen seiner „gottfernen “ Anschauungen angefeindet, woraus sich ein „Atheismus-Streit“ entspann, der letztlich zu seiner Kündigung führte. Daraufhin verließ Fichte Jena und wechselte nach Berlin, wo er sich eine liberalere Einstellung gegenüber seinem Denken erhoffte – ein Wunsch, der sich erfüllen sollte. 1800 verfasste er dort ungestört die Wissenschaftslehre, 1806 die Die Bestimmung des Menschen, in denen er seine innere Wandlung und Vertiefung ins Religiöse noch klarer zum Ausdruck bringt.

Im ersten, mit „Zweifel“ überschriebenen Abschnitt der Bestimmung des Menschen wird von Fichte zunächst alles äußere und innere Gegebene als zwangsläufige Wirkung einer universalen, wenn auch gegliederten Naturkraft betrachtet: So unterscheidet er eine Bildungskraft der Pflanzen, eine Bewegungskraft der Tiere und eine Denkkraft des Menschen. Auf diese Weise, d.h. durch Zurückführung auf einen darin wirkenden, blinden Naturmechanismus, wird alles erklärt (BM, 16f.). Auch der Mensch denkt bzw. handelt nicht aus eigenem Antrieb, sondern die besondere Natur (-Kraft) in ihm bestimmt ihn (BM, 26). Aber dagegen wehrt sich der von Zweifeln befallene Mensch, der selbstständig sein und die in ihm tätige Naturkraft unter die Macht seines eigenen, freien Willens und der darin verankerten geistigen Gesetze bringen will (BM, 28f.).

Im Zuge dieser Selbstbesinnung und Auseinandersetzung entwickelt der Mensch die Einsicht, die im zweiten Abschnitt, mit dem Titel „Wissen“, von Fichte bedacht wird, dass nämlich die äußere Naturwelt – das sogenannte Nicht-Ich – im Grunde eine Eigenschöpfung des menschlichen Ich sei. Dazu führt Fichte an, dass die angeblich äußeren Eindrücke auf subjektiven Sinnesempfindungen und -wahrnehmungen beruhen: also keine Fremd-Affizierungen, sondern vielmehr Selbst-Affizierungen darstellen (BM, 40 u. 49). Gegenstände sind demnach nicht mehr als Vorstellungen der Gegenstände. Die Materie insgesamt samt ihren Eigenschaften ist selbst nur Wirkung und Äußerung jener inneren Kraft, in der Konsequenz des fichteschen Denkens also etwas Ideelles (BM, 75).

Um zu begreifen, was mit einer alles tragenden (Seins-)Kraft gemeint ist, braucht man sich nach Fichte nur am eigenen Selbstbewusstsein zu orientieren, in dem Subjekt und Objekt, Bewusstheit und Sein eine Einheit bilden (BM, 62f.). Zugleich kann an diesem Selbstverhältnis die Entstehung der Raum-Anschauung aufgezeigt werden, weil man sich darin wie im Selbstbewusstsein gegenüberzutreten und aus der Distanz anzuschauen vermag. Damit entpuppt sich der Raum ebenfalls als ein subjektives Gebilde, mehr noch ist er für Fichte das reinste Bild des menschlichen Wissens (BM, 67f.). Am Ende seiner subjektivistischen Dekuvrierung der Naturwelt kommt er zu der alles umfassenden Ansicht, dass wir bei dem, was wir Betrachtung und Erkenntnis der Dinge nennen, immer und ewig nur uns selbst betrachten und erkennen – mit einem Wort, dass es absolut nichts als Bestimmungen eines Bewusstseins als bloßen Bewusstseins gibt (BM, 79).

Aber mit dieser die Naturrealität und -objektivität aufhebenden, Subjekt-lastigen Sichtweise hat es für Fichte nicht sein Bewenden. Vielmehr greift er weiter, indem er jenes anschauende und denkende geistige Wesen, das er selbst ist, nur als ein Produkt des eigenen Denkens, d.h. als bloß Erdachtes entlarvt (BM, 80). Unter der Überschrift „Glaube“ legt Fichte im dritten Abschnitt, worin er seine eigene Wandlung ankündigt, dar, dass im Menschen ein Trieb, besser ein Wille (Voluntarität) zur absoluten, unabhängigen Selbsttätigkeit wirkt. Diesen erfährt er als einen auf das sittlich Gute hin wirkenden und mit einer echten Sinngebung sowie einer Um- und Neuorientierung verbundenen Willen(BM, 88 u. 93). In dem vor allem durch die nachhaltig aufrüttelnde Stimme des Gewissens vermittelten und unbedingten Gehorsam fordernden moralischen Gebot wird dem Menschen deutlich, dass seine letzte Bestimmung im sittlichen Handeln liegt (BM, 97ff.).

Diese Orientierung und Tätigkeit eröffnet dem „Auge des menschlichen Geistes“, so Fichte, vor allem die Aussicht auf eine andere und bessere Welt. Diese kündet sich konkret in der Bestimmung des Menschengeschlechtes an, sich zu einigen, nicht zuletzt vermittelt durch die Idee eines wahren (Einheits-)Staates (BM, 107 u. 111ff.), in dem ein jeder immer bereit ist, „seine Kraft an die Kraft des andern anzuschließen, und sie der des andern unterzuordnen“ (BM, 117). Dies ist nach Fichte der Zweck unseres irdischen Lebens, den die (praktische) Vernunft aufstellt, „und für dessen unfehlbare Erreichung sie bürgt“ (BM, 117).

Weil der gute Wille ein integraler Bestandteil einer höheren Ordnung ist, ist der Mensch zugleich Mitbürger eines Reiches der Freiheit und somit Angehöriger der überirdischen Welt (BM, 122ff.). Aber mehr noch, wie Fichte in seiner Anweisung zum seligen Leben ausführlicher darlegt, ist es ein unendlicher, göttlicher Wille, der kraft des Gesetzes der praktischen Vernunft herrscht – ein göttlicher Wille, der in des Menschen Wille eingeht. Daher sind Gott und Mensch nicht zwei getrennte Wesen (BM, 139 u. 144), wodurch ein seliges Leben nicht erst jenseits des Todes, sondern schon jetzt in der Vereinigung mit dem ewigen, göttlichen Willen erreicht werden kann (BM, 156).

Wie angedeutet hebt Fichte gleich zu Beginn der anderen Schrift hervor, dass das Leben Seligkeit und Liebe ist, was er mit einem tiefsinnigen Gedanken belegt. Danach verwandelt die Liebe das tote (kompakte) Sein in ein „zweimaliges Sein“, d.h. in ein Ich oder Selbst, das sich zugleich anschaut und „von sich weiß“. Die Liebe vereinigt wiederum innigst dieses geteilte Selbst in einer Einheit, in der die Zweiheit nicht aufgehoben ist, sondern fortbesteht – so ist das Leben, sagt Fichte. Für ihn sind Leben, Liebe (Zufriedenheit mit und Freude an sich selbst) und Seligkeit eins (SL, 11f.). So wie sich dieses „Wechselspiel“ von Spaltung und Vereinigung im Selbstbewusstsein ereignet und sich in der Zweigeschlechtlichkeit und dem Vereinigungsdrang zwischen männlichen und weiblichen Wesen verstärkt, erreicht es seinen Höhe- und Endpunkt im Leben und der Liebe durch die Wirkung des göttlichen Wesen (SL, 15).

Wie aber Selbstfindung und zwischenmenschliche Bindung und Vereinigung nicht mit einem Schlag erfolgen, sondern Zeit und Durchhaltevermögen erfordern, so lässt sich die Vereinigung mit dem Göttlichen ebenfalls nur in mehreren Reflexionsstufen erreichen, die Fichte auch als Entwicklungsstufen des inneren geistigen Lebens wertet. Die letzte Stufe dieser Entwicklung deklariert er als die der Wissenschaft und darum als die höchste Stufe, weil sie die Einsicht vermittelt, dass alles Mannigfaltige, alle Dinge in der Welt in dem „Einen“ gegründet und auf dasselbe zurückzuführen seien. Diese zu erreichen, bedarf es einer geistigen Anstrengung, weswegen für ihn wahre Religiosität nicht in bloßer Andachtsversenkung besteht, sondern notwendig tätig sein muss – aufgrund des innigen Bewusstseins, dass Gott in uns lebt und tätig ist (SL, 83f.). Umgekehrt folgt daraus, dass Gott will, dass der Mensch nur in ihm Frieden und Ruhe finden und bis zu dieser Einkehr bis zur Vernichtung seiner selbst geplagt werden soll (SL, 159).

An dieser Stelle beende ich den kleinen Überblick über die späte Philosophie Fichtes, der ich jedoch noch einige Einwendungen anfügen will. Bei kritischer Abwägung der Sachlage ist mir schwer verständlich und nachvollziehbar, wie man es bei solchen „selbstgemachten“, überfliegenden Mutmaßungen metaphysischer Spekulation bewenden lassen kann. Sich allein auf die eigene Subjektivität (Rationalität und Voluntarität) zu stützen, ohne sich der jedenfalls einigermaßen Halt gebenden Erfahrung zu versichern, erscheint mir nicht bloß gewagt, sondern geradezu halsbrecherisch.

Hinzu kommt, dass sein Idealismus wie auch seine spätere Religionsphilosophie von einem Rationalismus beherrscht ist, der letztlich ausschließlich der Vernunft die Oberhand belässt. Denn es besteht kein Zweifel, dass das menschliche Ich (-Bewusstsein) völlig unter ihrer Ägide steht und auch das vom Ich gesetzte Nicht-Ich substanzieller Abkömmling der Vernunft ist.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) vertritt im Gegensatz zu Kants praktischem und Fichtes subjektivem einen eher objektiven Idealismus, dem zufolge das objektiv Wirkliche als Idee oder Geist aufzufassen und auch die Materie als eine Erscheinungsform des Geistes zu betrachten ist. Hegel hat ein dreiteiliges System entworfen, bestehend aus: (1) der Logik, der „Darstellung Gottes in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Wesens“ (G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik, 1. Teil, Leipzig, 1932, 31), (2) der Naturphilosophie, die Gottes „Spuren“ in der materiellen Welt thematisiert, und (3) der Philosophie des Geistes, die die Rückkehr Gottes aus der Natur, seiner Schöpfung, zu sich selbst beschreibt. Diese Rückkehr vollzieht sich nach Hegel im menschlichen Geist, im reinen Denken als Vollendung der Selbstwerdung des Absoluten.

Die gesamte Weltgeschichte wird als Prozess der Selbstbewusstwerdung des Weltgeistes, des göttlichen Logos, gedeutet und damit zugleich als „Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“. Am Anfang war die Entfremdung des göttlichen Denkens in die Natur, am Anfang war, mit anderen Worten, ein ungeheurer Widerspruch. Die Entwicklung vollzieht sich nach Hegel dialektisch: Sie ist die aus einem Widerspruch resultierende Bewegung, die nach „vernünftigen“ Gesetzen verläuft. Diese Bewegung ist die allem zugrunde liegende geistige Wirklichkeit, an der auch der Mensch vermittelt über sein spekulatives Denken absoluten Anteil hat. Mit seiner Dialektik entwickelt Hegel eine diesen Überlegungen angemessene Wissenschaft. Die Dialektik ist für ihn „die wissenschaftliche Anwendung der in der Natur des Denkens liegenden Gesetzmäßigkeit und zugleich diese Gesetzmäßigkeit selbst“ (G. W. F. Hegel, Enzyklopädie, GW, Bd. V, 474ff.).

Das Prinzip der „Aufhebung“ ist zentral für die Bewegung, die das Denken und die Welt gleichermaßen vorantreibt. Diesem zufolge wird etwas Gesetztes (These) in der Antithese „aufgehoben“, d.h. negiert. Indem es erneut negiert wird (die Negation der Negation), gewinnt es eine neue, höhere Position, von der aus dann abermals ein dialektischer Prozess einsetzt. Aus dieser doppelten Negation ergibt sich die Synthese, die die These auf höherem Niveau – im Vergleich zum Anfangspunkt der dialektischen Entwicklung – in sich bewahrt oder aufhebt. Aufhebung meint also sowohl negieren als auch erheben und bewahren.

Der Mensch soll nach Hegel seine wesensmäßige Identität mit dem Absoluten erkennen, darin besteht für ihn die Möglichkeit, zur Freiheit zu gelangen. Staat und Recht fasst Hegel als Institutionen des objektiven Geistes, mit denen sich der Mensch identifizieren soll. In seiner Philosophie gibt Hegel dem Allgemeinen den Vorzug gegenüber dem Einzelnen: Nicht der Mensch in seiner Singularität ist in diesem logischen „Geschäft “ gefragt und gefordert, sondern er als Fall einer allgemeinen, nämlich der allen Menschen gleichermaßen zukommenden Vernünftigkeit. Schließlich ist, nach einem Diktum Hegels, nur was vernünftig ist auch wirklich und nur was wirklich auch vernünftig.

Dritter im Bunde der Nachfolger Kants ist der Philosoph Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775–1854). Bei der Betrachtung seiner Philosophie beziehe ich mich hauptsächlich auf seine Schrift Über das Wesen der menschlichen Freiheit (Düsseldorf, 1950, abgek. F).

Zunächst gehe ich mit Schelling davon aus, dass es erforderlich ist zu zeigen, „das alles Wirkliche (die Natur, die Welt der Dinge) Tätigkeit, Leben und Freiheit zum Grunde habe“ (F, 20) und keineswegs nur umgekehrt, wie es im zum System gebildeten Idealismus der Fall ist. Was des Näheren die Freiheit angeht, so gibt der bloße Idealismus einerseits nur den allgemeinsten, andererseits nur den formellen Begriff von ihr, während „der reale und lebendige Begriff aber ist, daß sie ein Vermögen des Guten und Bösen sei“ (F, 22).

Um diesem auf die Spur zu kommen, holt Schelling spekulativ sehr weit aus, indem er auf Gott, der für ihn der Inbegriff des ganzen Seins ist, und dessen zwei Prinzipien abhebt. Eines kennzeichnet er als Gottes Existenz (Selbstheit), das andere als dessen „Grund“, den Schelling auch als „Natur in Gott“, ein von seiner Existenz zwar unabtrennliches, aber doch unterschiedenes Wesen, anspricht. Kurz gesagt: Gott hat den „Grund“ seiner Existenz, seines Selbstseins, in sich selbst (F, 26). Jedoch hat er seinen Grund in dem, „was in Gott nicht Er selbst ist“. Auch Gott geht das Dunkle voran, „die Klarheit bricht erst aus der Nacht seines Wesens hervor“.

Aus diesem „Grund“ geht ebenso der Mensch hervor, der aber Gottes Existenz gegenüber eine relativ unabhängige Position gewinnt. Denn in ihm erscheint diejenige Einheit, die in Gott unauflösbar ist, zertrennlich: Vermöge seiner Freiheit trägt der Mensch die Potenz zum Guten und Bösen gleichermaßen in sich (F, 32 u. 41). Schelling zufolge bewegt sich alles Leben in einer Polarität: Das erste Prinzip ist die Selbstheit im Sinne der bloßen Selbsterhaltung, „ist der Eigenwille der Kreatur“. Dieser ist selbstverschlossen und zerstörerisch gegen das Ganze (F, 37).

Ist man in der schellingschen Gedankenwelt bis zu dieser Stelle vorgedrungen, stellt sich die Frage, wie dem im Menschen aufkommenden oder ihn überkommenden Bösen vorgebeugt oder es gegebenenfalls überwunden werden könne. Hier kommt das andere Grundprinzip zur Geltung: das Verbindende, das Expansive. Wo dieses sich vergeistigt, spricht Schelling von Liebe. Offenbar vermag am wirksamsten ein von Liebe erfüllter Mensch dem Bösen Einhalt zu gebieten (F, 70). In fast hymnischen Worten preist er den Geist der Liebe, dieses „verzehrende Feuer“ als den Inbegriff des Guten.

In Schellings Spätphilosophie herrscht ein nüchterner, ja ernüchterter Ton. Schelling beklagt den Zustand einer verkehrten Welt, die einer Epiphanie, einer Offenbarung bedarf. Offenbar überfordert die Freiheit den Menschen. „Die Thaten und Wirkungen dieser Freiheit im Großen bieten ein so trostloses Schauspiel dar, daß ich an einem Zwecke und demnach an einem wahren Grunde der Welt vollends verzweifle (…) Gerade Er, der Mensch, treibt mich zur letzten verzweiflungsvollen Frage: Warum ist überhaupt etwas? Warum ist nicht Nichts?“ (aus der Einleitung der Philosophie der Offenbarung, GW, 6. Erg.-Bd., München, 1954, 7).

Gegen die Prädomination der idealistischen Spekulation, besonders in der Anwendung auf das Menschsein, hat sich der Philosoph und Theologe Friedrich Ernst Daniel Schleiermacher (1768–1834) gewandt, wie sich insbesondere seiner Dialektik entnehmen lässt (F. D. Schleiermacher, Dialektik, Darmstadt, 1976). Er maß dem Gefühl im Menschen auf allen Gebieten eine zentrale Rolle zu. Besonders bemerkenswert ist, dass er das menschliche Selbstbewusstsein mit der Emotionalität auf eine Stufe stellt. Weil der Mensch stets in der Einheit des Geistes und des Leibes existiere, könne es ein „Sein des Geistigen an und für sich“ (also isoliert!) nicht geben (387). Offensichtlich aus diesem Grunde greift er in der Interpretation des menschlichen „Geistes“ auf die ich-nahe, eng mit dem Organischen verbundene, seelische Funktion, eben auf die Emotionalität zurück.

Prägend für Schleiermachers Philosophie ist seine Vorstellung einer Einheit von Realem und Idealem, in die er auch den Menschen hineinstellt. Diese Einheit ist allerdings nur in Gott absolut, in der Welt ist sie nur relativ, d.h. in der Form des Gegensatzes, verwirklicht. Jedoch kann sich der Mensch mit dem Idealen und Ewigen vereinigen: im Gefühl nämlich. Sich mit dem Ewigen eins zu fühlen, so Schleiermacher, ist Religion. Diese basiert auf einem Gefühl, wie er sagt, „schlechthinniger Abhängigkeit“ von Gott.

Auch Sören Kierkegaard (1813–1855) hat sein Werk in der kritischen Auseinandersetzung mit dem Idealismus, vornehmlich schellingscher und hegelscher Prägung, entwickelt. Woran er massiv Anstoß nimmt, ist die als reine Theorie des absoluten Geistes aufgefasste Philosophie Hegels. Kierkegaard gilt als Begründer der Existenzphilosophie. Für ihn ist der Mensch kein „beliebiger“ Fall, kein auswechselbares Exemplar eines generellen „logischen Musters“, sondern ein im steten Werden begriffenes Wesen. „Alles Werden geschieht durch Freiheit, nicht aus Notwendigkeit; nichts Werdendes wird aus einem Grunde, aber alles aus einer Ursache. Jegliche Ursache entspringt letztlich in einer freiwirkenden Ursache“ (S. Kierkegaard, Philosophische Brocken, Hamburg, 1991). Demzufolge sind die Motive des menschlichen Handelns dessen Ursache, sie bedingen es, ohne dass notwendigerweise so gehandelt werden müsste. Jedoch: Eine letzte Ursache allen menschlichen Handelns gibt es nicht, es ist ohne tieferen Grund, also Freiheit. Die Frage der Entscheidung ist untrennbar an das Individuum gebunden. Zwar kann es, wie Kierkegaard sagt, ein „logisches System“ geben, nicht aber ein „System des Daseins“. Der Mensch ist wesentlich ein Einzelner, der sich in seinem geistigen Sein selbst zu verwirklichen hat – er ist Dasein, Existenz. Kierkegaard bestimmt den Menschen als „Geist“, den „Geist“ als das Selbst und dieses als „Selbstverhältnis“, als „ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält“. Allerdings ist das Selbst nicht das Verhältnis, präzisiert er, „sondern daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält“ (Krankheit zum Tode, Stuttgart, 1997, 8). Insofern das Selbst als Verhältnis immer schon eine Differenz voraussetzt, kann es sich nicht in der Weise verwirklichen, wie es einem simplen „Selbstverwirklichungskonzept “ vorschwebt. In diesem schwierigen Verhältnis liegt auch die Möglichkeit einer Krise des Selbst begründet, die sich in der Verzweiflung zeigt. Diese wird von Kierkegaard in all ihren Facetten ausführlich thematisiert. Beim menschlichen Selbstsein handelt es sich jedoch keineswegs um eine Erscheinung der Egozentrik. Trotz seiner sich selbst überantworteten Existenz weist er über sich hinaus – zu Anderen, in letzter Konsequenz zu Gott. Kierkegaard entwickelte seine vielgestaltige, unterschiedliche Positionen durchdenkende Philosophie, die er unter verschiedenen Pseudonymen veröffentlichte, auch als Auseinandersetzung mit dem Christentum, das dem „Einzelnen eine ewige Seligkeit schenken“ will. Es will, wie er weiter sagt, „daß das Subjekt sich unendlich um sich selbst bekümmere. Wonach es fragt, ist die Subjektivität, erst in dieser ist die Wahrheit des Christentums“ (S. Kierkegaard, Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken I, Gütersloh, 1979). Aber nicht nur in diesem Zusammenhang, sondern generell sind für Kierkegaard „Subjektivität“ und „Innerlichkeit“ die Inbegriffe der Wahrheit. Das hat sehr weit reichende Konsequenzen, wie ein abschließendes Zitat verdeutlicht: „Bei der bloß subjektiven Bestimmung der Wahrheit sind Verrücktheit und Wahrheit zuletzt nicht mehr zu trennen, weil sie beide die Innerlichkeit besitzen können “ (ebd., 184).

Martin Heidegger (1889–1976) verfolgt in seinem 1927 veröffentlichten Werk Sein und Zeit (M. Heidegger, Sein und Zeit, Halle/S., 1935, abgek. SuZ) ein tiefes philosophisches Anliegen. Denn er stellt darin die Frage nach dem Sein schlechthin – nach dem, was „Sein“ im Grunde meint, nach dem Sinn von Sein. Um diese Frage vorzubereiten, entwickelt er die sogenannte Fundamentalontologie, eine „Ontologie des menschlichen Daseins“, auf die ich vorrangig mein Augenmerk richte.

Heideggers Philosophieren ist gegen den Vernunft-Universalismus idealistischer Prägung gerichtet: Für ihn ist der Mensch, ähnlich wie in der Existenzlehre Kierkegaards, Dasein, Existenz. Das menschliche Dasein hat im Unterschied zum übrigen Seienden ein Verhältnis zu sich, zu seinem eigenen Sein: „Ich bemerke, dass ich bin.“ Und: Das „Dasein weiß um seinen Tod“ (M. Heidegger, Der Begriff der Zeit, Tübingen, 1989). Erst im Denken des Todes öffnet sich der Zugang zur Unverfügbarkeit des Daseins und öffnet sich der ganze menschliche Horizont der Sorge und der Zeit.

Leben, sagt Heidegger, ist in erster Linie „Sorgen und zwar in der Neigung des Es-sich-leicht-Machens, der Flucht“. Heidegger sieht in der „Sorge“ die Grundbestimmung des menschlichen Daseins, die er durch zahlreiche Sorge-Modi wie versorgen, vorsorgen, besorgen, umsorgen, Fürsorge, Nachsorge etc. konkretisiert (SuZ, 191ff.). Sorgend sind wir in der Welt, leben wir in den offenen und unverfügbaren Zeithorizont hinein. Die Sorge als Grundstruktur des Lebens bezeichnet Heidegger als „Existenzial“. In der Analyse des Daseins von Sein und Zeit arbeitet er verschiedene andere „Existenziale“ neben der Sorge heraus: In-Sein, Befindlichkeit, Verstehen, Verfallen, Eigentlichkeit, Uneigentlichkeit etc. Zwar ist die Sorge die ontologisch ursprüngliche Gestalt unseres Lebens, aber mit ihrer „Tendenz zum Leichtnehmen und Leichtmachen“ (SuZ, 127) bringt sie den Menschen um sein unvertretbares, individuelles Seinkönnen, sein „eigentliches Seinkönnen“, letztlich um das, was Heidegger mit dem Begriff Eigentlichkeit anvisiert.

Für Heidegger zeigt sich das Menschsein in der „Stimmung“. Die Stimmung ist eine Befindlichkeit, mithin also ein Existenzial. Gegen den Rationalismus und dessen Denkanstrengungen wendet er ein, dass „die Erschließungsmöglichkeiten des Erkennens (…) viel zu kurz tragen (…) gegenüber dem ursprünglichen Erschließen der Stimmungen, in denen das Dasein vor sein Sein (…) gebracht wird“, wobei das Dasein die Tendenz hat, „dem in der Stimmung erschlossenen Sein auszuweichen“ (SuZ, 134). Nun sind es aber die Stimmungen, in denen das „Sein als Last offenbar“ wird, die Heidegger vor allem interessieren: neben der „Langeweile“ und dem „Überdruß“ besonders die „Grundbefindlichkeit der Angst“ (später wird auch der „Jubel“ als Stimmung der Seinserfahrung eine bedeutende Rolle spielen). In dem Moment der Angst vollzieht sich ein „Entdecken von ‘ Welt ’ und Erschließen von Dasein (…) als Wegräumen der Verdeckungen und Verdunklungen, als Zerbrechen der Verstellungen, mit denen sich das Dasein gegen es selbst abriegelt“ (SuZ, 129). Aber dieser Augenblick der Sinnverlassenheit ist es, der dem Menschen das „Freisein für die Freiheit des Sich-selbst-wählens und -ergreifens“ ermöglicht. Eigentlichkeit ist für Heidegger, so könnte man sagen, die Verabschiedung falscher Sicherheiten und Geborgenheiten und damit gleichbedeutend mit gesteigerter Intensität und gesteigertem Daseinsgefühl.

Später wird Heidegger sagen, dass die Angst das „Nichts“ offenbare: „Die Angst läßt uns schweben, weil sie das Seiende im Ganzen zum Entgleisen bringt“ (M. Heidegger, Was ist Metaphysik?, Frankfurt a.M., 1986). Ohne dieses ursprüngliche Sich-Offenbaren des „Nichts“ und „Hinaussein über das Seiende“, ohne diesen augenblickshaften Durchgang durch die Angst, kann es nach Heidegger „kein Selbstsein und keine Freiheit“ (ebd., 37) geben.

Der zweite Existenzphilosoph, den ich vorstellen möchte und der in der Kierkegaard ’schen Nachfolge steht, ist Karl Jaspers (1883–1969). Seine Konzeptionen legte Jaspers in einem 1932 edierten, dreibändigen Werk mit dem Titel Philosophie nieder (K. Jaspers, Philosophie, Bd. I, II, III, Berlin, 1932, abgek. PI, PII, PIII). Terminologisch unterscheidet er darin Dasein (objektives Sein), Existenz (subjektives Sein) und Transzendenz (An-sich-sein).

Im Unterschied zu Heidegger versteht Jaspers unter Dasein die empirische und wissbare Realität, die der menschlichen Erkenntnis zugänglich ist. Diese Wissbarkeit basiert, wie er meint, auf einem allgemeinen Bewusstsein, das er als „Bewußtsein überhaupt“ bezeichnet. Von diesem grenzt Jaspers noch den „Geist“ ab, der die verschiedenen Kulturgebilde wie eben die Wissenschaft, ferner die Logik, die Mathematik, die Technologie, die Kunst usw. umfasst.

Zum wissenschaftlichen Gebiet rechnet er neben physikalischen und biologischen Tatsachen auch die psychologischen Phänomene, die sich als „Objekt gewordene Subjektivität “ erforschen lassen (PI, 14). Zunächst sucht der Mensch die jeweilige Wirklichkeit in ihrer Strukturiertheit und Funktionalität zu erkennen und fasst sie in Hypothesen und umfassenden Theorien zusammen. In einem weiteren Schritt macht er sie sich technisch nutzbar. Diese Verfahrensweisen bezeichnet Jaspers als „forschende Weltorientierung “. Bei ihr wird ein zwar wissenschaftlich engagierter, aber problemorientierter Mensch nicht stehen bleiben, sondern gleichsam „tiefer graben“ und „hintergründiger fragen“ – nach Ursprung, Wesen, Sinn der Realitäten und ebenso des Menschen. Diese die Grenzen der „Gegebenheiten“ hinter sich lassende und die bloße „Positivität“ des Faktischen hinterfragende Vorgehensweise nennt Jaspers „philosophische Weltorientierung “ (ebd.).

In einem derartigen „Umbruch“ des Fragens wirkt ein freiheitlicher Impuls, dessen Grund die menschliche Existenz ist (PII, 10). Als Dasein lebt der Mensch in der Welt, als „Bewußtsein überhaupt“ forscht er im gegenständlichen Bereich, als Geist entwickelt er Ideen des Ganzen. Als mögliche Existenz ist er offen für die Transzendenz, das Sein, das gegenständlich nicht greifbar hinter den Erscheinungen bleibt, als der sich ständig entziehende Horizont. Diesen nennt Jaspers auch das „Umgreifende“. Um noch klarer herauszustellen, was er unter Existenz versteht, stellt Jaspers sie der empirischen Persönlichkeit bzw. dem Charakter des Menschen gegenüber. In der Persönlichkeit lässt sich eine Anzahl quasi-objektiver psychischer Merkmale benennen, die zu einem fein gegliederten „Gefüge“ zusammengeschlossen sind. Dagegen entzieht sich die Existenz einem derartig psychologisch feststellenden Zugriff. Der Einzelne ist als mögliche Existenz, als eigentliches Sein, mehr als die empirische Individualität bzw. Persönlichkeit (PII, 7). Es ist nicht möglich, die Existenz ontologisch einzukreisen.

Die Existenz bedarf zu ihrer Verwirklichung eines Einsatz- und Bewährungsfeldes, das sie im Dasein findet. „Dasein ist empirisch da, Existenz nur als Freiheit“ (PII, 2). Allerdings vermag sie selbst nicht direkt Einfluss zu nehmen. Dazu steht ihr nach Jaspers eine „Hilfskraft“ zur Seite, der Wille. So schreibt er: „Freiheit (bzw. Existenz) hat Dasein als Wille“, aber nicht als „die nur vorwärts drängende Aktivität, sondern seine Freiheit ist, daß er zugleich sich selbst will “ (PII, 149). Jaspers unterscheidet den „Willen, der sich selbst will“, als Ausdruck der Freiheit, die die Existenz selbst ist, von dem „Willen, der etwas will“ (ebd.) und der sich als psychologisches Phänomen beschreiben lässt. Diese psychologischen Freiheiten des Handelns und Wählens und die soziologischen Freiheiten (persönliche, bürgerliche, politische) sind nicht die „Freiheit selbst“, die Jaspers meint. „Wo ich selbst bin in dem ursprünglichen Sinn, der nicht Gegenstand wird, ist der Ort der Freiheit, den Psychologie nie erreicht“ (PII, 166). Die „objektiven Freiheiten“ entfalten ihren Gehalt erst in dieser „ursprünglichen Freiheit“. Wo diese nicht existiert, werden sie zur Täuschung. Der Wille, als die Freiheit der Existenz, ist das „ich will, daß ich will“ (PII, 171).

Und doch ist dieses ursprüngliche Wollen ein nie ganz zu erhellendes Dunkel, wie Jaspers sagt. Da wo ich ganz ich selbst bin, kann plötzlich offenbar werden, dass „ich nicht mehr nur ich selbst“ bin (PII, 199), dann wird mir bewusst, dass ich mich nicht selbst geschaffen, mich nicht selbst gesetzt habe. Das ist die Erfahrung der Transzendenz, des Göttlichen. „Die Antinomie: ich kann nicht, was ich aus mir bin, nur durch mich sein (…) ist der Ausdruck für das Einswerden von Freiheits- und Notwendigkeitsbewusstsein in der Transzendenz“ (ebd.).

Jaspers bezeichnet das Dasein als „Sein in Situationen“: Zwar kann der Mensch aus einer bestimmten Situation heraustreten, jedoch nicht ohne zwangsläufig wieder in eine andere einzutreten. Nun sind es aber die Grenzsituationen, die Jaspers besonders interessieren. So wie die Situationen zum Dasein als Bewusstsein gehören, so die Grenzsituationen zur Existenz. In diesen reagieren wir nicht planvoll und berechnend, um sie zu überwinden, „sondern durch eine ganz andere Aktivität, (durch) das Werden der in uns möglichen Existenz; wir werden wir selbst“ (PII, 204). In diesen Passagen wird Jaspers existenzielles Pathos spürbar, das er selbst bei Kierkegaard fand und schätzte. Hilflos sind wir in den Grenzsituationen als Dasein, doch nimmt das Sein gerade dort einen Aufschwung in uns: Dem Wissen nur äußerlich erkennbar, werden sie „als Wirklichkeit nur für die Existenz fühlbar. Grenzsituationen erfahren und Existieren ist dasselbe “ (ebd.).

Der Tod kann eine solche Grenzsituation sein – der Tod des Anderen, wenn er eine existenzielle Erschütterung ist. Mein Tod aber ist unerfahrbar; „sterbend erleide ich den Tod, aber ich erfahre in nie“ (PII, 222). Nur aus der Verzweiflung über den Verlust eines geliebten Menschen, nur aus dem Schauder, aus der Angst vor dem Nichtsein, sagt Jaspers, wird die „Seinsgewißheit geschenkt“. Durch diese Gewissheit ist es möglich, „die Lebensgier zu beherrschen und die Ruhe vor dem Tode als Gelassenheit im Wissen des Endes zu finden“ (ebd.). Gefasstheit lässt sich nur aus dem Schmerz, im Durchgang durch den Schmerz erwerben. Der Tod ist die Grenze, darin liegt sein Sinn. Sich das klarzumachen, bedeutet existenzielle Wahrhaftigkeit. Nur wo sich dem Bewusstsein das Sein als bloßes Dasein aufdrängt, wird die Vorstellung des Endes, die Grenze als sinnlos erfahren.

Im Gegensatz zu Heidegger aber ist das unvertretbare individuelle Seinkönnen, das Selbstsein, bei Jaspers „nur in Kommunikation mit anderen möglich“. Der lebendige Umgang und Austausch der „Existenzen“ miteinander und untereinander ist von entscheidender Bedeutung. Mit anderen Worten: Ich bin erst ich selbst in meiner Freiheit, also Existenz, wenn der andere er selbst in seiner Freiheit, also Existenz, ist (PII, 58). Jaspers spricht in diesem Zusammenhang auch von „existentieller“ und „eigentlicher Kommunikation“. Dieser existenziell-kommunikative Ansatz hat auch Konsequenzen für Jaspers ’ Wahrheitsbegriff: Er bezeichnet das als wahr, „was verbindet“.

Für Jaspers selbst ist die „Existenzphilosophie (…) im Wesen Metaphysik“ (PI, 27). Als Metaphysik steht sie damit in der Gefahr, sich in gewagten, letztlich unverbindlichen Spekulationen zu verlieren. Auch Jaspers hat sich, wie ich finde, an vielen Stellen zu tief in die Spekulation begeben. Dagegen hat man sich aus meiner Sicht immer nur an der Erfahrung zu orientieren und sie zu erforschen – auch auf die Gefahr hin, möglicherweise keine oder nur unbefriedigende Antworten auf drängende Fragen zu erhalten. In diesem Sinne kann ich auch speziell Jaspers ’ Todesauffassung nicht zustimmen. Es ist angesichts der schmerzlichen Tränen und des unermesslichen Leids beim Verlust eines geliebten Menschen eben die Frage, ob eine „tiefere Heiterkeit möglich (ist), die auf dem Grunde unauslöschlichen Schmerzes ruht“ (PII, 222).

Als dritten Denker, der sich in der von Kierkegaard angestoßenen Richtung bewegt, führe ich Jean-Paul Sartre (1905–1980) an. In seinem ersten Hauptwerk L’être et le néant (J.-P. Sartre, Das Sein und das Nichts, dt., Hamburg, 1962, abgek. SN) radikalisiert Sartre das Freiheitsproblem. Unverkennbar ist der Einfluss Heideggers. Dieser habe ihn, so Sartre, „Authentizität und Geschichtlichkeit“ gelehrt. „Ein Esel“, schreibt er, „ist widerspenstig. Man bindet ihm eine Karotte unter die Nase und er schreitet vorwärts, um sie essen zu können: das ist das Bild des Jenseits für Heidegger. Es gibt für uns immer ein ‘Mögliches ’, das sich uns endlos anbietet. Hingegen essen wir bei Hegel jedesmal ein Stückchen der Karotte mit“ (Annie Cohen-Solal, Sartre, Reinbek, 1989, 325). Der Mensch ist in die Welt „geworfen“ und dazu „verurteilt, frei zu sein“. Er existiert als Freiheit. Weder Traditionen oder Normen noch seine biologische Natur können die Entscheidungen, die er trifft, im Voraus bestimmen: Immer hat er die Möglichkeit, sich dagegen zu erheben, etwas (anderes) aus dem zu machen, was aus ihm gemacht wurde. Zugleich ist der Umstand, dass etwas aus ihm gemacht wurde, dass er sich immer schon in einer Situation befindet, die Voraussetzung für seine Freiheit.

In Das Sein und das Nichts unterscheidet Sartre zwei Seinsmodalitäten, das An-sichsein, das faktische Sein der Dinge, und das allein dem Menschen verfügbare und von ihm aktualisierbare Für-sich-sein oder Freisein (SN, 778). Die Dinge sind, wie sie sind, der Mensch jedoch ist nicht nur das, was er ist. Sein Sein ist durch eine Negativität charakterisiert: Er kann das Gegebene verneinen und in dieser Verneinung dieses und sich selbst überschreiten, um sich auf andere mögliche Perspektiven hin zu „entwerfen“. Negativität, (Selbst-)Überschreitung, Entscheidung (Wahl) – das sind Inbegriffe der menschlichen Freiheit und des absoluten Primats der Subjektivität gegenüber der Welt.

Der Mensch ist für sich. Durch das, was er tut, wählt er sich selbst. Da er aber diese Wahl in völliger Einsamkeit und ohne irgendwelchen Rückhalt treffen muss, bricht in ihm Angst auf, die Angst vor der eigenen Freiheit. Das sich wählende und ängstigende Für-sich-sein drängt zu einer Entscheidung, in Gestalt eines „Entwurfes seiner selbst“. Dieses Drängen ist Ausdruck dafür, dass es an einem Seinsmangel leidet (SN, 143ff. u. 776). Das Für-sich-sein existiert als ein „Nichts an Sein“(Sartre ist der Ansicht, dass mit dem Menschen das „Nichts“ in die Welt kommt). Aus diesem erwächst eine Seinsbegierde (SN, 711), der Wunsch, an sich zu sein: sich selbst die Stabilität der Dinge zu geben und Sicherheit zu finden (SN, 730). Ruhe und Geborgenheit gibt es jedoch allenfalls vorübergehend, nicht als „Dauererscheinungen“. Zwar kann der Mensch sich belügen und täuschen, seiner Freiheit entkommt er letztlich nicht: Zu ihr ist er verurteilt. Die Individualität, als welche sich das Für-sich-sein enthüllt, ist ein nicht endendes „Abenteuer “ (SN, 223). Weder steht es dem Menschen frei, nicht zu sein, noch, nicht frei zu sein. Sein und Freisein sind Faktizitäten, faktische Notwendigkeiten.

Der Tod ist für Sartre ein ebensolches Faktum wie die Geburt, mithin etwas Gegebenes. „Es ist absurd, daß wir geboren werden, es ist absurd, daß wir sterben.“ Jeder Mensch wird eines Tages vom Tod in mitleidloser Erbarmungslosigkeit und Gleichgültigkeit dahingerafft. Aber der Tod, sagt Sartre, geschieht uns von draußen und verwandelt uns in Draußen. Es gibt keinen Platz für ihn im Für-sich-sein, weil dieses immer ein Danach verlangt, seine Vergangenheit stets auf seine Zukunft hin überschreitet. Der Tod ist nie das, was dem Leben seinen Sinn gibt, im Gegenteil nimmt er ihm grundsätzlich jede Bedeutung: „Wenn wir sterben müssen, hat unser Leben keinen Sinn, weil seine Probleme ungelöst bleiben und weil sogar die Bedeutung der Probleme unbestimmt bleibt“ (SN, 672). Nicht um des Sterbens oder des Todes willen ist der Mensch frei, bemerkt Sartre kritisch gegen Heidegger, sondern er ist ein „freier Sterblicher“ (SN, 689).

Der späte Heidegger zeigte dem „Sein“ gegenüber eine andachtsvolle Haltung, die ein frommes Seinsverhältnis fordert, „um das Sein sich offenbaren zu lassen“. Zudem stand er dem „menschlichen Projekt“ zunehmend skeptisch gegenüber: In einem Spiegel -Interview meinte er einmal, nur ein Gott könne uns noch retten. An Sartres Einstellung hingegen wird sich nichts ändern: „Der Mensch muß sich selber wieder finden und sich überzeugen, daß ihn nichts vor ihm selber retten kann, wäre es auch ein gültiger Beweis Gottes.“ Allerdings wird der „existenzialistische Sartre“ zunehmend vom „politischen Sartre“ abgelöst. Zwar charakterisierte Sartre mit Bezug auf seine Kriegserfahrungen schon in Das Sein und das Nichts das Wesen des Menschen als „Engagement“. Im Strafgefangenenlager hatte er eine „Art kollektiven Lebens“ gefunden, die ihn „dort eigentlich glücklich“ sein ließ (A. Cohen-Solal, Sartre, Reinbek, 1989, 252). Mit seiner Critique de la raison dialectique (I–II, 1960–85, dt. Kritik der dialektischen Vernunft) legt er jedoch erst die Grundlage für eine Philosophie des Engagements. Über seinem theoretischen und praktischen politischen Engagement in aller Welt könnte folgender Satz als Motto stehen: „Ich sehe Unterdrückte (Kolonisierte, Proletarier, Juden). Ich will sie von der Unterdrückung befreien. Diese Unterdrückten sind es, die mich berühren, und ihrer Unterdrückung fühle ich mich solidarisch; ihre Freiheit wird meine anerkennen“ (ebd., 448).

Sartre setzt sich für die menschliche Existenz als freies, selbstbewusstes Wesen ein, das nicht aus an sich seienden, materiellen oder anderen Ursachen vollständig erklärt werden kann (Sartre erkannte das psychoanalytische „Unbewusste“ nicht an). Trotzdem erscheint es mir höchst problematisch, das menschliche Freisein auf die Sartre’sche Weise zu verabsolutieren.

Der Phänomenologe Maurice Merleau-Ponty stimmt mit Sartre darin überein, dass letztlich nichts erdenklich ist, „was die Freiheit einzuschränken vermöchte, es sei denn, was sie sich selbst durch ihre Initiativen zur Grenze gesetzt hat“ (M. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin, 1966, 495, abgek. PW). Das bedeutet neben der Idee der Kausalität auch die der Motivation fallen zu lassen, da das vermeintliche Motiv all sein Gewicht der eigenen Entscheidung selber entleiht. Aber, sagt Merleau-Ponty, die Idee einer „allerersten Wahl“ widerspricht sich selbst. Die Freiheit braucht eine Ausgangssituation, „ein Feld“. Soll die Wahl eine Wendung in unserer Existenz sein können, „setzt sie einen vorgängigen Erwerb voraus, den sie zu wandeln sucht“. Die Freiheit vermag sich nicht in ein Tun zu übersetzen, „ohne irgendeinen Vorschlag der Welt zu übernehmen“. Die wirkliche und konkrete Freiheit hat nach Merleau-Ponty gerade in diesem Austausch von Beharren und Sich-losreißen (PW, 496ff.) ihren Bestand.

Die phänomenologische Betrachtungsweise Merleau-Pontys entspringt im Allgemeinen einem Rückgang auf die Wahrnehmung selbst als das „ursprüngliche „Erfassen“, auf die Erfahrung als „nächste Quelle und letztes Richtmaß“ (PW, 32) – die Erfahrung als einer offenen Reihe von Wahrnehmungen. Darin erscheint der Gegenstand, das Ding, perspektivisch, in perzeptiver Evidenz. Seine wahre Form enthüllt sich uns in den Erscheinungen als Erfahrung seiner „inneren Struktur“ (PW, 246). Als Ding ist es nicht absolut an sich, sondern immer schon für uns. Der scheinbar gesichtspunktlos (re)konstruierte Gegenstand der Wissenschaft liegt dem perspektivischen nicht zugrunde, sondern ist gewissermaßen sein „Analyse-Schatten“, nicht mehr als die „Limes-Idee“ seiner offenbaren Gegenwart (PW, 240). „Die Wahrnehmung ist nicht der Anfang der Wissenschaft; in Wahrheit ist die klassische Wissenschaft eine Weise der Wahrnehmung, die ihren eigenen Ursprung vergessen hat und sich für vollendet hält“ (PW, 80). Merleau-Ponty hat sich sehr offen gezeigt für die Erneuerungen bestimmter Fachwissenschaften (Gestaltpsychologie, Linguistik), die er für die Philosophie fruchtbar zu machen versuchte. Und er hat auch die Entwicklungen der Naturwissenschaften verfolgt und gesehen, dass der Physik z.B. ihr Naturobjekt entglitt, sie sich die Grenzen ihrer Determination eingestehen musste, „indem sie die Umwandlung und Abschwächung der reinen Begriffe forderte, deren sie sich bislang bediente“ (ebd.).

Die phänomenologische Herangehensweise bedeutet, sich auf eine Hermeneutik der menschlichen Existenz einzulassen (PW, 6). Merleau-Ponty fasst das Menschsein als ein „Sein-zur-Welt“ (l’être-au-Monde): „Existieren heißt Zur-Welt-Sein“ (PW, 413). Das Wesen der menschlichen Erfahrung ist „Ek-stase“, die macht, dass alle Wahrnehmung stets „Wahrnehmung von etwas“ ist. Statt von „Sein-zur-Welt“ spricht Merleau-Ponty auch von „Transzendenz auf die Welt hin“. Um dieses Transzendenzverhältnis in den Blick zu bekommen, muss die Reflexion sich in einen Abstand zurücknehmen, so dass das uns mit der Welt verbindende „intentionale Geflecht“ zur Erscheinung kommen kann. Allerdings gelangt das Denken in der Anerkennung der Faktizität der Welt, des Faktums ihres „unmotivierten Entspringens“ an sein Ende. Radikal konsequent ist die Reflexion nur dann, wenn sie sich ihrer letzthinnigen Abhängigkeit vom unreflektierten Leben, ihres durch ihr „Situiertsein“ in der Welt notwendig beschränkten Vermögens bewusst wird (PW, 11).

Für Merleau-Ponty gilt allgemein: Alle Wahrnehmung, alle Erfahrung geschieht von „irgendwoher“. Dieses „Irgendwoher“, der Gesichtspunkt zur Welt, schränkt die Erfahrung ein, aber ermöglicht sie dadurch überhaupt erst. Die Erfahrungswelt ist eine „offene Totalität, deren Synthese unvollendbar bleibt (…) Weder die Einheit des Subjekts noch die des Objekts ist reale Einheit, sondern beide sind präsumtive Einheiten am Horizont der Erfahrung; diesseits der Idee des Objekts wie der Idee des Subjekts gilt es, das Faktum meiner Subjektivität und das Objekt in statu nascendi wiederzufinden, die Urschicht, der Ideen wie Dinge allererst entspringen“ (PW, 257). Des Menschen Gegenwart ist sein Gesichtspunkt in der Zeit, sein „Leib“ sein Gesichtspunkt für die Welt. Der Kommunikation der Sinne verleiht der Leib die Einheit. Der Leib ist die allen Gegenständen gemeinsame Textur, und zumindest bezüglich der wahrgenommenen Welt ist er das Werkzeug all meines Verstehens. Das Bewusstsein ist als Wahrnehmungs-Bewusstsein eingelassen in einen Leib und dehnt sich in ihm aus. So ist das Sehen beispielsweise nicht eine Funktion nach Art der Atmung oder Verdauung, sondern ein Ganzes im Sinne eines „Zu-sehen-denkens“.

Für Merleau-Ponty gibt es eine Art „stillschweigende (…) Erfahrung meiner selbst durch mich selbst“ (PW, 459). Diese intime Selbstgegenwart bei sich selbst ist für ihn „die Existenz selbst“, die jeder Philosophie vorangeht, sich aber nur in bedrohlichen Grenzsituationen zu verstehen gibt. Diese Subjektivität hat als reines Selbstgefühl nur einen „gleitenden Anhalt“ bei sich und bei der Welt. Die Welt hat sie sich nicht selbst gegeben, nicht konstituiert, sondern sie „errät sie als ein sie umgebendes Feld“ (ebd.).

In eins mit der Welt wächst der Mensch auch in die Sprache „hinein“. Aber die Sprachen als bereits konstituierte syntaktische Gebilde und empirisch vorhandene Ausdrucksmittel ist nur Sediment des Sprechens, „in dem der noch unformulierte Sinn nicht nur ein Mittel der Bekundung findet, (…) sondern als Sinn erst eigentlich geschaffen wird“ (PW, 232). In der sprechenden Sprache zeigt sich die Bedeutungsintention in statu nascendi: Jenseits des Seins, dessen was ist, „sucht die Existenz aufs neue zu sich selbst zu kommen, und sie schafft sich das Wort als empirische Stütze ihres eigenen Nichtseins. Die Sprache ist so der Überschwang unserer Existenz über alles natürliche Sein“ (ebd.). Dieses Vermögen des Bedeutens ist Merleau-Ponty zufolge als ein ursprüngliches Faktum anzuerkennen, kraft dessen der Mensch durch Leib und Sprache sich selbst transzendiert – auch zum Anderen hin. Das Sprechen erfordert eine offene Erfahrung und die Offenheit für Erfahrung, damit der Sinn entstehen, erfasst und kommuniziert werden kann (vgl. W. Rorarius, Das Sprachverständnis von Maurice Merleau-Ponty, ZthK, 72. Jahrgang, Heft 1, Tübingen, 1975, 69ff.).

An dieser Stelle beende ich den philosophiegeschichtlichen Exkurs.

Was macht uns einzigartig?

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