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Pervertierbarkeit des Menschen

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Der Mensch hat als freiheitlich verfasstes Geisteswesen immer auch die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten: sich entweder für das Gute zu entscheiden oder für das Schlechte. Dieses Schlechte ist Teil des Dramas der menschlichen Freiheit. Die Freiheit ist ohne es nicht zu haben. In der philosophischen Tradition wird dieses Schlechte oftmals als das Böse angesprochen und in einem substanzialistischen Sinne gedeutet. Ich hingegen will nicht metaphysisch über das Böse spekulieren, sondern ich verstehe es vielmehr als eine menschliche Verfehlung, die der Mensch selbst zu verantworten hat, gerade weil es in seiner Macht liegt, sie zu verhindern: indem er sich nämlich als geistiges Wesen verwirklicht. Pervertierbarkeit meint demzufolge die menschliche Möglichkeit des Abgleitens in die Verfehlung (seines geistigen Seins): des „Hineingeratens“ in den Bann pervertierter Triebe. Meine Erörterungen lassen sich von folgenden Fragen leiten: Was meint Perversität (Perversion)? Wie entsteht sie im Menschen? Welches sind ihre hauptsächlichen Erscheinungsformen?

Das Wort „Perversität“ selbst leitet sich vom lateinischen Verb „pervertere“ her, das so viel wie umkehren, umstürzen, verderben bedeutet. An einem Beispiel aus dem Bereich der sexuellen Perversionen, dem Exhibitionismus, will ich das Phänomen kurz erläutern. Sich exhibitionistisch verhalten bedeutet, dass zumeist Männer vor fremden Kindern oder Frauen ihr Genital – zwecks Lustgewinn – zur Schau stellen. Normalerweise ist ein solches Verhalten nicht lustvoll besetzt bzw. Scham und Sitte lassen nicht einmal den Gedanken daran aufkommen, zumindest aber hemmen sie dessen Umsetzung in die Realität. In unserer Gesellschaft gilt jedes ethisch depravierte Verhalten als pervers, weswegen perverse Handlungen in der Öffentlichkeit rechtlich sanktioniert sind und Strafmaßnahmen zur Folge haben. Die (sexuellen) Perversionen werden psychopathologisch den Abnormitäten zugeordnet. Abnorm erscheint etwas, was von der Norm oder von der Sitte abweicht, also un-sittlich ist. Da sich Sitten in einer Gemeinschaft oder Sozietät ausbilden, lässt sich von der Perversität auch als Asozialität oder Egoismus sprechen. In jedem Fall geht die Perversion auf Kosten des Anderen, der zum willkürlich verfügbaren Objekt oder Mittel für die eigene Lust herabgesetzt wird.

Wie aber entsteht die Pervertierung im Menschen? Kurz gesagt, indem der menschliche „Geist“ selbst sich quasi dem Leib preisgibt, genauer den Trieben, die zur psychophysischen Organisation des Leibes gehören. Bei den Tieren, auch bei den uns am nächsten stehenden, hoch entwickelten verwandten, sind die Triebe weitgehend in Instinkten verwurzelt und gleichen so stabilisierenden Programmen (Verhaltensmustern). Beim Menschen dagegen kam es durch das Aufkommen und die Inkarnation des selbstbewussten „Geistes“ zu tief greifenden Umbrüchen im psychophysischen Bereich. In dem Maße, wie die Steuerung des Verhaltens durch die Instinkte sich beim Menschen abschwächte, entwanden die Triebe sich ihrer Verankerung in den Instinkten. Der menschliche „Geist“ nahm die so entfesselten Triebe unter seine Obhut, um sie zu kontrollieren und zu integrieren. Zwar ist in der Evolution auf diese Weise ein erträglicher Kompromiss erzielt worden, dieser aber ist mit erheblichen Hypotheken belastet. Denn der evolutionär betrachtet junge „Geist“ hat den entblößten Trieben gegenüber, die den ältesten Anteil des psychischen tierischen Erbes ausmachen, einen schweren Stand. Darum wirkt er mitunter wie eine Schwachstelle in der menschlichen Ökonomie, so dass es immer wieder zu Rückschlägen kommt, die den „Geist“ erschüttern.

Der Trieb selbst ist nicht das Böse. Zwar gibt es „bösartige“ Triebe, aber nicht die Triebe als solche, sondern die „entblößten“, unkontrollierten Triebe sind es, die die menschliche Situation so überaus prekär machen, die den Menschen überwältigen, wenn sein geistiges Kontrollorgan versagt. Jedoch ist, mit Ausnahme von pathologischen Schüben und geistigen Umnachtungen, der Mensch selbst für sein Verhalten verantwortlich, also auch für die Rückschläge und Kapitulationen seiner selbstbewussten „Geistigkeit“, die sich in den Pervertierungen und Depravierungen zeigen. Diese sind aus meiner Sicht Zeichen einer menschlichen Schwäche bzw. Trägheit. Es liegt in seiner Macht, den „Geist“ – sein Juwel – zu aktivieren und sich damit für „das Gute“ zu entscheiden und den Lockungen des Üblen zu widerstehen. Pervertierbarkeit lässt sich in diesem Sinne auch als die Möglichkeit der „Geistvergessenheit“ ansprechen. Diese aber ist – wer wollte es bestreiten? – der Preis der Freiheit!

Die dritte Frage bezieht sich detailliert auf die Formen der menschlichen Perversionen. Bei ihrer Beantwortung orientiere ich mich an dem österreichischen Zoologen und Nobelpreisträger Konrad Lorenz (1903–1989), der vier Haupttriebrichtungen, die „großen vier“, benennt: die Aggressivität, die Sexualität, die Nutritivität (der Hungertrieb) und der Fluchttrieb (K. Lorenz, Das sogenannte Böse, Wien, 1964, 147). Dabei ist zu beachten, dass die genannten Triebe Verbindungen miteinander eingehen und sich nachteilig ergänzen können. Besonders gilt dies für den Aggressionstrieb, der sich mit den anderen in unguter Weise zu liieren vermag.

Zuerst betrachte ich die Aggressivität, die sich in vielen Facetten manifestieren kann. Für Lorenz hat sie als „intraspezifische Aggressivität“ die „schädlichsten Auswirkungen“ in der Menschenwelt, und zwar, weil sie nicht wie in der Tierwelt weithin durch instinktive Regulationen (Rangordnungen, Unterwürfigkeits- und Beschwichtigungsgesten) „gezügelt“ wird und dadurch der Arterhaltung dient, sondern im Gegenteil sich ungehemmt zerstörerisch auswirken kann (67 u. 363). In der (sadistischen) Grausamkeit ist der Tiefpunkt menschlicher Pervertierbarkeit erreicht, die ihresgleichen in der Tierwelt nicht hat. Die Aggression ist ein wesentlicher Faktor menschlicher Handlungen, die unter natürlichen Bedingungen lebens- und arterhaltende Funktionen hat. Auch gibt es „keine Liebe ohne Aggression“ (123), ohne Hass, wie umgekehrt keinen Hass ohne Liebe. Jedoch zeigt sich die besonders gefährliche „intraspezifische Aggressivität“, die Lorenz als „Fehlfunktion“ der natürlichen Aggressivität bezeichnet, ohne irgendeinen Anteil von Liebe. Diese pervertierte Form der Aggressivität muss in einer sublimierenden Neu- und Umorientierung „normalisiert“ werden: Lorenz spricht in diesem Zusammenhang von „Hemmungsmechanismen“, „Ersatzobjekten“ und „Befriedungszeremonien “. Eine entscheidend wichtige Bedeutung misst er der die Freiheit des Menschen verbürgenden Vernunft zu, der Quelle der Moral: „ich glaube an die Macht der menschlichen Vernunft“ (258).

Auch an der Sexualität zeigt sich die „Duplizität“ der Triebe. Einerseits weist sie aufgrund der männlichen und weiblichen Geschlechts-Bestimmtheit sowie der Art-Erhaltung (Fortpflanzung) eine soziale Komponente auf, andererseits eine individuelle Komponente in der subjektiven Wollust beim Sexual-Akt. Dieser Lustaspekt ist es, der beim Menschen wegen des Fehlens der tierhaften Instink-Sicherung zu perversen Trieb-Auswüchsen führt.

Ich habe bereits angedeutet, dass Triebe sich untereinander verbinden können und sich wechselseitig für ihre Zwecke einspannen. In diesem Zusammenhang weist der Biologe Irenäus Eibl-Eibesfeldt darauf hin, dass dem (männlichen) Dominanzverhalten offenbar eine mit einer archaischen sexuellen Komponente verbundene Dominanzlust innewohnt (I. Eibl-Eibesfeldt, Der Mensch das riskierte Wesen, München, 1997, 165). Auch die Vergewaltigung ist ein instruktives Beispiel für die triebhaften Mischverhältnisse. Fast durchweg wird dabei von männlichen Personen der Sexualakt aggressiv erzwungen, der überdies vielfach mit einer Ermordung des Opfers (Frauen und Kinder) endet. Besonders in diesen Fällen der Frauen- und Kinderschändung feiert die pervertierte Triebhaftigkeit ihre düsteren Orgien.

Dass es ebenso beim Hungertrieb des Menschen zu einer Pervertierung kommen kann, zeigt sich in der „Völlerei“. Zu den im weiteren Sinne „nutritiven“ Perversionen rechne ich das maßlose „Besitzstreben“, das einem Zustand der „Unersättlichkeit“ entspringt. Ähnlich verhält es sich bei Diebstahl, Einbruch und Raub, die allesamt auf der Gier beruhen, die man als eine Art „unstillbaren Hunger“ verstehen kann.

Auch der Fluchttrieb gehört, wie die anderen erwähnten Triebe, zum tierischen Erbe des Menschen. In der Tierwelt spielt er eine lebenswichtige Rolle und auch im alltäglichen menschlichen Leben ist er unter Umständen von außerordentlicher Wichtigkeit – z.B. im Katastrophenfall (Feuersbrünste, Orkane, Überschwemmungen, Erdbeben etc.), wenn die Parole nur lauten kann: Rette sich, wer kann! Der Mensch kann sich aber auch im Zuge eines pervertierten Verhaltens den Fluchttrieb zunutze machen: insbesondere in Verbindung mit einem Verbrechen, um sich seiner strafrechtlichen Verfolgung zu entziehen.

Ich möchte an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich betonen, dass in den Fällen menschlicher Triebpervertierungen stets, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, höhere psychische Phänomene, wie die Intellektualität, und zudem die Emotionalität (Lust!) eine große Rolle spielen.

Um aber dem Zustand einer Triebzügelung näher zu kommen und einen ausbalancierten Trieb-Haushalt im Sinne der aristotelischen Mäßigung zu erreichen, stehen dem Menschen Orientierungshilfen zu Gebote, ohne die er offensichtlich nicht auskommt. Oder wiederum in Schillers Worten aus dem Wallenstein: „Denn um sich greift der Mensch, nicht darf man ihm der eigenen Mäßigung vertraun. Ihn hält in Schranken nur das deutliche Gesetz, und der Gebrauch tief getretener Spur“.

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