Читать книгу Was macht uns einzigartig? - Winfried Rorarius - Страница 15
Menschlicher „Geist“ und Zeitlichkeit (Geschichtlichkeit)
ОглавлениеIn diesem Kapitel will ich die Beziehung des menschlichen „Geistes“ zur Zeitlichkeit bzw. zur Geschichtlichkeit aufgreifen. Dieses Vorgehen findet im Selbstbewusstsein seine Begründung. Denn weil es sich bei ihm um eine „Seinsweise in actu“ handelt – eben um Existenzialität bzw. Operationalität –, haben wir es mit einem „Gegenwärtigsein“ und deswegen mit dem zeitlichen Modus der Gegenwärtigkeit zu tun.
Dadurch, dass das Selbstbewusstsein diesen temporalen Status einnimmt, erweist es sich zudem als Bezugsstelle, von der aus überhaupt eine Datierung erfolgen, also ausgemacht werden kann, was als vergangen bzw. als zukünftig zu gelten hat. Auf diese Weise ist der „präsentisch“ verfasste menschliche „Geist“ in der Lage, Vergegenwärtigungen oder Repräsentationen vorzunehmen. Von sich als „Jetzt-Punkt“ aus schaut er in die „Zeit-Richtungen“, ohne allerdings dabei seine Gegenwärtigkeit einzubüßen. Würde dies geschehen, ließe sich eine Zeitordnung nicht mehr aufrechterhalten.
Der christliche Theologe Augustinus (354–430) vertritt eine ähnliche Position. In seinen Bekenntnissen legt er sie in „persönlicher Weise“ dar: „In dir, mein Geist (animus oder intentio praesens) messe ich die Zeit (…) Der Eindruck, der von den Erinnerungen bei ihrem Vorüberziehen in dir erzeugt wird und in dir bleibt, wenn die Erscheinungen vorüber sind, der ist es, den ich messe als etwas Gegenwärtiges.“ An anderer Stelle führt er aus, dass „Künftiges noch nicht ist, aber dennoch im (präsentischen) Geist Erwartung von Künftigem ist (…) und daß Vergangenes nicht mehr ist, aber dennoch im (präsentischen) Geist Erinnerung an Vergangenes ist …“ (Augustin, Confessiones, lat. u. dt, München, 1955, 661ff.).
Als weiteren Gewährsmann nenne ich den deutschen Arzt und Naturphilosophen Carl Gustav Carus (1789–1869). An mehreren Stellen seines 1846 erschienenen Werkes Psyche hebt er hervor, dass erst im bewussten Geist eine eigentliche Gegenwart, d.h. das Finden eines wahren Haltepunktes zwischen Vergangenheit und Zukunft möglich sei und damit in eins seine Ewigkeit ergriffen werde (C. G. Carus, Psyche, Neuauflage, Darmstadt, 1964, 29, 172 u. 514). An einer anderen Stelle äußert er einen damit zusammenhängenden, bemerkenswerten Gedanken, dass nämlich in dieser eigentlichen Gegenwart auf ein offenbar geheimes Ziel hingedeutet werde, welches nicht in der (irdischen) Existenz erreicht werden könne, weil wir Menschen hier auf Erden außerstande seien, zu einem ausschließlich bewussten Leben, d.h. einer rein geistigen (präsentischen) Existenz zu gelangen. Deswegen meint Carus, dass zu allen Zeiten die Völker einen Glauben an ein außerirdisches Überleben (des menschlichen „Geistes“) vertraten (212 u. 523).
Die Vergegenwärtigung lässt sich konkret wie instruktiv an der menschlichen Lebensgeschichte demonstrieren. Einerseits schließt diese ein Gewesensein ein, das der Mensch direkt erinnern oder indirekt durch Berichte anderer erfahren kann. In der Erinnerung, die selbst eine aktuelle Operation ist, gewinnt seine Vergangenheit Anschluss an sein Gegenwärtigsein. Andererseits vermag er von seiner Gegenwart aus in die zunächst unendlich scheinende Zukunft auszulangen. Aber schon bald erfährt er durch Todesberichte sowie aufgrund späterer Begegnungen mit Sterbenden, dass seine Zukunft begrenzt ist. Derart wird ihm sein Leben als endliches bewusst.
Wenn wir uns dergestalt die eigene Lebensgeschichte vergegenwärtigen, lässt sie sich mit einer „Niederschrift“ verflossener Ereignisse vergleichen, die wir – sozusagen – lesen, wenn wir uns erinnern. Zugleich ermöglicht uns der Blick in die Zukunft, uns auf sie in Form von Plänen, Wünschen, Hoffnungen etc. zu beziehen. Aber noch etwas Weiteres darf nicht übersehen werden, dass nämlich die Lebensgeschichte wie alle geschichtlichen Verläufe unumkehrbar ist.
Indessen erhebt sich immer dringlicher die Frage, wie es geschieht, dass wir, obwohl unsere „Geistigkeit“ von Gegenwärtigkeit bestimmt ist, dennoch – rückwärts gewendet – auf uns stoßen, also uns wieder erkennen, und – vorwärts gerichtet – virtuell auf uns zielen können. Das scheint offenbar nur möglich zu sein, weil wir zum einen „faktische Spuren“ von uns hinterlassen, zum anderen uns virtuelle, eigene Entwürfe „vorsetzen“ können. Diese „faktischen Spuren“ müssen gewissermaßen im Gehirn „engrammiert“ bzw. gespeichert sein, um von uns zu gegebener Zeit erinnernd abgerufen werden zu können. Im „Bewusstseinsfluss“ scheint es eine Art „Sedimentierung“ zu geben, die psychologisch als Gedächtnis fungiert und auf deren Boden spätere Reaktivierungen erfolgen können. Es verhält sich ähnlich wie mit einem in Lettern verfassten abgelegten Schriftstück, das wir später erneut lesen können. Daneben können unter Rückbeziehung auf die Bewusstseinssubstanz in die Zukunft weisende, uns betreffende virtuelle Ausgriffe in vielerlei Gestalt auf den Weg gebracht werden. Bei diesen temporalen Vorgängen und ihren Grundlagen handelt es sich zumeist um noch unerschlossene Prozesse, die es weiter zu erforschen gilt. Offenbar aber ist die organische Plastizität des Gehirns die physiologische Voraussetzung solcher Prozesse.
Die biographische Repräsentation stellt eine Aktivität dar, die vom präsentischen, menschlichen „Geist“ geleistet wird. Der „Geist“ ist die Ein- und Ausgriffsstelle, von der aus die Lebensgeschichte konkret inszeniert und gestaltet wird. Selbst in seiner Gegenwärtigkeit erscheint der „Geist“ als ein Sein im „Status nascendi“ und damit als orginäres, selbsttätiges Sein. Er ist, indem er sich in actu vollbringt. Deswegen ist er präsentisch. Aber er vermag von seinem Hier und Jetzt nach Rückwärts und Vorwärts in der Zeit auszulangen, ohne sich dabei aufzugeben.
Für die zuletzt aufgezeigte temporale Explikation nehme ich den amerikanischen Psychologen und Philosophen William James (1842–1910) in Anspruch, in dessen 1890 erschienenem zweibändigem Werk The Principles of Psychology (dt. Die Prinzipien der Psychologie) die These des als präsentisch einzustufenden Selbstbewusstseins unterstützt wird. Trotz des unablässigen und nicht wiederholbaren Wechsels der Erlebnisse – James spricht von einem „Bewusstseinsstrom“ (stream of consciousness) – besteht eine innere Kontinuität und Einheitlichkeit, die in dem von ihm als „the I“ bezeichneten Selbstbewusstsein begründet ist.
Von diesem „I“ unterscheidet er eine in den Bewusstseinsinhalten jener Erlebnisse sich niederschlagende, objektivierbare Form des „Ich“, die er als „the Me“ bezeichnet und das in etwa dem Ich einer Lebensgeschichte (Biographie) entspricht, während das „I“ sich als das subjektiv vollziehende und erlebende Ich darstellt und unserem Selbstbewusstsein analog ist. Das „I“ charakterisiert James näher als die im „flutenden“ Bewusstseinsstrom sich durchhaltende „funktionelle Identität“, die er als eine dynamische, sich bestimmende, aber empirische Wirklichkeit einstuft. Damit lehnt er eine substanzialistische Form der Ich-Auslegung sowie eine „überfliegende“ Ich-Metaphysik ab. Im dritten Teil komme ich auf seine Konzeptionen nochmals zurück.
Aus dem Dargelegten dürfte ersichtlich sein, dass der von James beschriebene Bewusstseinsstrom in der Psyche sein Wesen hat. Daraus lässt sich schließen, dass in ihr empirisch die Zeitlichkeit die Präferenz gegenüber der Räumlichkeit hat. Die Lebensgeschichte des Einzelmenschen ist eingebettet in verschiedene historische Horizonte – so in die Geschichte einer Familie, eines Volkes, der Menschheit, der Natur, der Erde, der Galaxien und schließlich des Weltalls. In dem Maße aber, in dem ich meinen Blick zeitlich weite, wird meine eigene Zeitspanne immer unscheinbarer, am Ende sogar unbedeutend. Spurlos „verwehe“ ich – aber doch nur scheinbar. Denn nur ich als mich objektiv betrachtender, zwar der Geschichte zuzurechnender, zugleich aber ihr gegenüberstehender, sich von ihr distanzierender „Geist“ vermag die „Dinge“ so zu sehen. Es ist nur ein scheinbares „Verwehen“, weil der stets gegenwärtig bleibende „Geist“ als temporale Bezugsstelle sich behauptet und durchhält.
In den letzten Jahrzehnten sind insbesondere von dem amerikanischen Neurochirurgen und Nobelpreisträger Roger Sperry, auf den ich im zweiten Teil zurückkomme, in der Epilepsie-Therapie mit Erfolg Hirndurchtrennungen (zerebrale Kommissurotomien) vorgenommen worden. Nach den Operationen unterzog er diese Patienten Experimenten, die eine getrennte „Organisation“ zeitlicher und räumlicher Phänomene beim Menschen in hirnphysiologischer Hinsicht nahe legen. Sie beruht auf einer komplementären, d.h. sich ergänzenden Funktionalität beider Hirnhälften, die dafür sorgt, dass die rechte Hälfte über den Raum synthetisiert, während die linke über die Zeit analysiert (zit. nach John Eccles, Entwicklung des Gehirns, München, 1989, 337).
Weil der rechten Hirnhemisphäre ebenso wichtige Funktionen wie der linken zugesprochen werden, wird diese heutzutage nicht mehr als die im strengen Sinne dominante Hälfte angesprochen. Trotzdem räumt man der linken einen gewissen Vorrang ein – nicht nur, weil sie für die grundlegend wichtige Zeitlichkeit, sondern auch für die Sprache, die sequenziell-temporal „arbeitet“, zuständig ist, deren übergeordnete Sprachzentren (das motorische und sensorische) meist dort verankert sind. Wenn aber an diesem zerebralen Ort die vom Menschen erlebte Zeitlichkeit und die damit eng verbundene Sprachlichkeit gebunden sind, ist es nahe liegend, auch hier die „Stelle“ zu vermuten, wo eine Liaison zwischen „Geist“ und Gehirn stattfindet: wo also das präsentische Selbstbewusstsein sich seinen Zugang in die sich temporal formierende Psyche und über sie in die räumlich konfigurierte Leiblichkeit wie in die sie umgebende Welt verschafft.
Nach diesem Abstecher in die Hirnphysiologie will ich nochmals Immanuel Kant zu Wort kommen lassen, um seine Vorstellungen in Bezug zur Zeitlichkeit wiederzugeben. In einer kurzen Darstellung will ich versuchen, Kants Zeit-Auffassung vor Augen zu führen. Zuerst gilt es nochmals festzuhalten, dass es ihm in seiner Transzendentalphilosophie um die logische Exposition von apriorischen synthetischen Urteilen geht, die vor aller konkreten Erfahrung (Empirie) diese schon bestimmen und allererst ermöglichen. Kurz umrissen handelt es sich um die Frage, wie Erfahrung überhaupt zustande kommt. Dazu bedarf es nach Kant gewisser transzendentaler Voraussetzungen. Zu ihnen rechnet er zum einen Zeit und Raum, die er als die apriorischen Anschauungsformen begreift, zum anderen die apriorischen Verstandesformen, resp. die logischen Kategorien. Innerhalb der Anschauungsformen besitzt indes die Zeitlichkeit gegenüber der Räumlichkeit eine Vorrangstellung, weil sie die „formale Bedingung a priori aller Erscheinungen“ darstellt. Während der Raum als reine Anschauungsform bloß die Bedingung a priori äußerer Erscheinungen ist, ist die Zeit die Bedingung der inneren Erscheinungen (unserer selbst und unseres inneren seelischen Zustands) und dadurch mittelbar auch der äußeren (I. Kant, KrV, B 50ff.).
Der Vorrang der Zeitlichkeit wird noch augenfälliger in einem Bereich, den Kant als die „Tiefe der menschlichen Seele“ bezeichnet, wo eine „verborgene Kunst“ am Werk ist, „deren wahre Handgriffe wir der Natur schwerlich jemals abraten und uns unverdeckt vor Augen führen können“ (KrV, B 181). Das ist der Bereich des „Schematismus“ des Verstandes, in dem Kant die Anwendung der Kategorien des Verstandes auf beliebige Gegenstände zu erklären versucht. Hier fasst er die Gegenstandswelt als Erscheinung des inneren Sinns, dessen apriorische Form, wie gesagt, die Zeit ist. Demnach sind alle Kategorien der Gegenstände „Zeitbestimmungen a priori“. Und diese gehen in Bezug auf alle möglichen Gegenstände nach der Ordnung der Kategorien auf die „Zeitreihe, den Zeitinhalt, die Zeitordnung und den Zeitinbegriff“ (KrV, B 184f.).
Jedoch ist der innere Sinn, dessen Anschauungsform die Zeit ist, nicht zu verwechseln mit der die synthetische Einheit alles Mannigfaltigen unserer Vorstellungen stiftenden Apperzeption. Vielmehr ist es dieses einheitsbildende „Vermögen“, das den inneren Sinn, wie Kant sagt, „affiziert“, so dass aus der bloßen Form der Anschauung die bestimmte Anschauung werden kann. Jede bestimmte Anschauung geht also aus dem synthetischen Einfluss des Verstandes auf den inneren Sinn hervor. Diese Einflussnahme geht Kant zufolge auf ein transzendentales Vermögen des reinen Verstandes zurück und ist zugleich Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung. Kant spricht in diesem Zusammenhang von der „transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft“ (KrV, B 154).
Anschauungen oder Vorstellungen zu haben heißt, sich ihrer bewusst zu sein, demzufolge haben sie „eine notwendige Beziehung auf ein mögliches empirisches Bewusstsein“ und dieses wiederum hat eine notwendige Beziehung auf ein transzendentales Bewusstsein: das Bewusstsein der Identität, „das Bewußtsein meiner selbst“. Kant sagt, „daß alles verschiedene empirische Bewußtsein in einem einigen Selbstbewußtsein verbunden sein müsse, ist der schlechthin erste und synthetische Grundsatz unseres Denkens“ (KrV, A 118). Diesem transzendentalen, einigen Selbstbewusstsein gibt Kant den Namen: „die bloße Vorstellung Ich“ (ebd.).
Im Gegensatz zu Kant aber thematisiere ich das Selbstbewusstsein, den „Geist“, als eine den Menschen auszeichnende und erfahrbare Seinsweise, als ein sich in actu vollziehendes, operationales Sein. Dieses ist in zeitlicher Hinsicht charakterisiert durch das Gegenwärtigsein (Präsentizität), im Gegensatz zur fließenden Zeit der Psyche und der in der materiellen Welt vorherrschenden und alle Objekte, auch den menschlichen Leib, einbeziehenden Raum-Zeit-Einheit. Im Selbstbewusstsein erfährt sich der Mensch in einer aktuellen Seinsweise, die nur ist, insofern er sie hier und jetzt operational vollbringt. Als solches stellt der präsentische „Geist“ die Bezugsstelle dar, von der aus entschieden werden kann, was als vergangen und was als zukünftig zu gelten hat. Diese Tätigkeit des „Geistes“, sofern er sie auf das eigene Leben anwendet, bezeichne ich als Vergegenwärtigung der Lebensgeschichte, die er selbst „aktiv verfasst“, aber gleichzeitig in die Psyche „einschreibt“, wo sie in dem im Gehirn verankerten Gedächtnis aufbewahrt wird und wieder erinnert werden kann. Erinnerung meint ein „Zurückgreifen auf“ und ein Wieder-holen von eigenen Erlebnissen und Aktivitäten aus unserer Vergangenheit. Was einschließt, dass wir vorgängig ein Wissen um uns selbst, eben ein Selbstbewusstsein haben müssen, das gleichsam die „Wünschelrute“ zum Erfassen, zum Erinnern unseres „Gewesenseins“ darstellt. Bloße Erinnerungen ermöglichen nicht das Selbstbewusstsein. Vielmehr verhält es sich umgekehrt: Das Selbstbewusstsein lässt mich Erinnerungen von mir ausfindig machen.
Aus den bisherigen Erörterungen wurde ersichtlich, dass sich die Zeitlichkeit empirisch in der menschlichen Psyche auf einer von der Vergangenheit in die Zukunft reichenden „Linie“ realisiert, wohingegen der „Geist“ kraft seiner Präsentizität unaufhörlich in sie einwirkt. Der „Geist“ verfügt damit über das Privileg der Gegenwärtigkeit, während die biographischen Datierungen in der Psyche erfolgen – ähnlich den Auffassungen William James ’ von dem sich im „Bewusstseinsstrom“ artikulierenden „Me“ und dem davon sich unterscheidenden „I“ des Selbstbewusstseins.
Wie immer es sich mit dem endgültigen Schicksal des Menschen in dieser Welt verhalten mag, unbestreitbar ist, dass er ungefragt eine Zeit lang in dieser Welt verweilen, ein Kind dieser Welt sein muss – vielleicht, um sich als selbstbewusstes Wesen in dieser Welt zu erproben und zu bewähren. Die Überlegungen dieses Kapitels veranlassen mich, den Aufenthalt des Menschen in dieser Welt, d.h. die „Inkarnation“ des menschlichen „Geistes“, zu thematisieren und, in enger Verbindung dazu, sein Verhältnis zur natürlichen Umwelt wie zur sozialen Mitwelt näher ins Auge zu fassen.