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Menschliches Todesbewusstsein
ОглавлениеDas Wissen um den eigenen Tod stellt für den Menschen eine der schwersten Belastungen dar – vor allem deswegen, weil es keine Gewähr dafür gibt, dass sein selbstbewusster „Geist“ vor einem Sturz in den alles verschlingenden Abgrund des „Nichts“ bewahrt wird.
In vier Schritten werde ich versuchen, die Thematik abzuhandeln. Zunächst geht es darum, dass das Todesbewusstsein eine, im Vergleich selbst zu den höchstentwickelten Tieren, nur dem Menschen explizit vorbehaltene „Auszeichnung“ darstellt. Im Anschluss gilt es, nach den Voraussetzungen seiner Etablierung im Menschen zu fahnden und sich mit den daraus sich ergebenden Auswirkungen auf den menschlichen „Geist“ zu befassen. Schließlich werde ich einige vom Menschen eingeschlagene Wege zur Verkraftung der ihn offenbar überaus belastenden Todesgewissheit vorstellen.
Der Mensch ist, das zeigt die Erfahrung, das einzige Lebewesen, das explizit um seinen Tod weiß. Das heißt nicht, dass ihm dieses Todeswissen ständig gegenwärtig wäre. Aber unablässig „lauert“ es gleichsam hinter ihm, begleitet ihn unterschwellig, stets „bereit“, ihm voll ins Bewusstsein zu treten. Ohne Übertreibung lässt sich sagen, dass der Tod dem Menschen unaufhörlich, mehr oder weniger spürbar, auf den „Fersen“ bleibt. Bei Tieren, insbesondere bei den uns am nächsten stehenden tierischen Verwandten, wie den Schimpansen oder den Bonobos, lässt sich ein ausgesprochenes Todesbewusstsein nicht nachweisen. Dem widerspricht allerdings der amerikanische Psychologe und Primatologe Roger Fouts, für den es außer Frage steht, dass Schimpansen wissen, was Tod bedeutet (R. Fouts, Unsere nächsten Verwandten, dt., München, 1998, 284). Anlass zu dieser Aussage war offenbar der Tod des zweiten Jungen einer von ihm seit 1967 zum Erlernen der ASL (American Sign Language = amerikanische Taubstummensprache) betreuten Schimpansin namens Washoe (277ff.). Aber hierbei gilt es zu bedenken, dass in der Wildnis ebenso wie in der Gefangenschaft durch den Tod oder anderweitig bedingte gewaltsame Trennungen der Muttertiere von ihren Jungen eben wegen des Verlustes schwere Depressionen, nicht selten mit Todesfolge, hervorrufen.
Ebenso verhielt es sich bei der genannten Schimpansin, deren Junges an den durch eine Pneumonie hervorgerufenen Folgen einer Fußverletzung starb, und zwar nicht in den Armen seiner Mutter, die deswegen immer wieder die verzweifelte Frage nach ihrem „Baby“ (in Gebärdensprache) stellte. Als man ihr mitteilte, dass ihr Junges gestorben sei, also nicht wiederkomme, geriet sie in eine noch tiefere Trauer (281f.). Offenkundig war deren Grund nicht ein bestimmtes Todesbewusstsein, sondern der Umstand des unseligen Verlustes der bei vielen Säugern bestehenden innigen Mutter-Kind-Verbindung. Ein anderes Beispiel gegen die Annahme eines expliziten Todesbewusstseins ist die Tatsache, dass Schimpansenweibchen im Dschungel ihr totes Junges noch mehrere Tage liebevoll mit sich herumtragen. Erst wenn es offenbar keinerlei Regung mehr zeigt, entledigen sie sich des toten Wesens, um in der Folge nun keineswegs immer weiter zu trauern, sondern sich in wieder gewonnener innerer Gefasstheit den dringenden Angelegenheiten in der Horde und in der gefahrvollen Wildnis zu widmen.
Ganz anders das Verhalten einer menschlichen Mutter anlässlich des Sterbens ihres Kindes! Aufgrund ihres stets gegenwärtigen, jetzt gesteigerten Todesbewusstseins ist sie bemüht, es möglichst umgehend zur letzten Ruhe zu betten – nicht jedoch, um es schnell zu vergessen, sondern um seiner in einer lebenslangen Trauer zu gedenken.
Was erwachsene, schon ihrem Ende entgegengehende Tiere betrifft, gewinnt man den Eindruck, dass sich der Tod aufgrund einer altersbedingten, zunehmenden psychophysischen Erschöpfung ankündigt, die das Tier zwingt, sich irgendwo abseits von der Horde hinzulegen und zu sterben. Die englische Forscherin Jane Goodall beschreibt in beeindruckender Weise diesen Ablauf bei der ca. 50-jährigen Schimpansin Flo im tansanischen Gombe-Reservat (J. Goodall, Ein Herz für Schimpansen, dt., Reinbek, 1991, 42 u. 61). Auch von Elefanten wird ein mit dem Tod zusammenhängendes seltsames Verhalten berichtet. Mitunter wandern sie zu Todesstätten verwandter, verendeter „Weggefährten “, um deren knöcherne Überreste mit ihrem Rüssel zu beschnüffeln oder um selbst, alt und gebrechlich geworden, dort ihr Ableben „zu erwarten“. Allem Anschein nach spielt hier die Erinnerung an ehemals zu ihrer Herde gehörende, inzwischen gestorbene Mitglieder und an den Ort ihres Sterbens eine Rolle, ohne dass damit eine explizite Todesvorstellung verbunden wäre. Aber wie gesagt, es ist uns trotz aller morphologischen wie verhaltensmäßigen Nähe zu Tieren eine stringente Einsicht (Einfühlung) in ihr „Inneres “ letztlich versagt. Jedenfalls kann ihrem Gebaren kaum entnommen werden, dass sie, wie der „geisterfüllte“ Mensch, explizit um ihren Tod wissen. Auf ein noch schlagkräftigeres Argument gegen die Annahme eines tierischen Todeswissens werde ich später eingehen.
Aber wie kommt der Mensch zu einem Todesbewusstsein und welches sind die Voraussetzungen für dessen Etablierung in ihm? Es liegt auf der Hand, dafür seine ihn auszeichnende geistige bzw. selbstbewusste Verfassung verantwortlich zu machen. In der Tat ermöglicht sie es, wie schon ausgeführt, dass der Mensch sich bewusst zu sich selbst, mithin also auch zum eigenen Tod zu verhalten vermag. Der menschliche „Geist“ waltet als Gegenwartsbewusstsein, d.h. als Bezugsstelle, von der aus er seine Vergangenheit und Zukunft, also auch seinen einstigen Tod sich bewusst machen kann.
Aber so wie sich der „Geist“ nicht sofort voll entfaltet, sondern zur Besitzergreifung der psychophysischen Leiblichkeit eine bestimmte Zeit beansprucht, so benötigt auch das Todesbewusstsein Zeit sich zu entwickeln. Durch zahlreiche, den Menschen von früh an tangierende Anstöße, durch die er mit dem Tod mitunter „hautnah“ konfrontiert wird, verdichtet es sich. So kann er einen ersten Eindruck durch das Verwelken von Pflanzen in Hitzeperioden oder ihr Erfrieren in der kalten Jahreszeit gewinnen. Später sind es dann möglicherweise Schlachtungen des Federviehs zu Festtagen oder das Ableben der eigenen Haustiere, die, neben anderen Anlässen, diesen Eindruck vertiefen. Solche Vorgänge in der Natur legen Zeugnis davon ab, dass es in der Lebenswelt offenbar eine „Vergehens-Gesetzlichkeit“, eine „Biologie des Todes“ gibt, der alles Lebendige, also auch der Mensch als lebendes Wesen, ausnahmslos unterworfen ist.
Seit etwa zwei Jahrzehnten kann man sich über das, wovon bisher ziemlich vage die Rede war, d.h. über den Tod, genauer gesagt über das menschliche Sterben, mit Hilfe der von der Schweizer Ärztin Elisabeth Kübler-Ross konzipierten Thanatologie, das ist die wissenschaftliche Todesforschung, orientieren. Die wichtigsten Ergebnisse, die sie aufgrund von „Interviews mit Sterbenden“ ermittelte, will ich kurz wiedergeben. Fünf allgemein vorkommende, nicht scharf voneinander abgrenzbare und teilweise nebeneinander auftretende Sterbephasen konnte sie beobachten: ein Nicht-wahrhaben-Wollen des Sterbens, die Verbitterung wegen einer angeblichen Benachteiligung in Bezug auf den Todeszeitpunkt, der Versuch einer Verhandlung des Todeszeitpunkts, die zunehmende Traurigkeit und später eventuell doch die Akzeptanz und die Zustimmung zum eigenen Tod. Weiter konnte sie feststellen, dass das Sterben für den Betreffenden deswegen so schwer ist, weil es von Hoffnungslosigkeit, Hilflosigkeit und Einsamkeit umgeben ist (E. Kübler-Ross, Interviews mit Sterbenden, Stuttgart, 1977, 41ff. u. 222).
Wohl am schwersten trifft einen Menschen der Tod, wenn eine geliebte Person von ihm „gerissen“ wird. Durch den überaus schmerzlichen Verlust wird diesem jäh die vorher vielfach vorgetäuschte Harmlosigkeit genommen und er zeigt sich in seiner ganzen Grausamkeit. Insbesondere durch derartige Schicksalsschläge wird das bis dahin nur vage gebliebene Todesbewusstsein vertieft, so dass es den Menschen nicht mehr loslässt. Wenn es auch dann nicht immer voll gegenwärtig ist, rechnet der Mensch von da ab doch stärker mit ihm, wobei fortan gerade die Ungewissheit in Bezug auf das eigene zeitliche Ableben bedrohlich wirkt und in der Tiefe seiner Seele sich eine Trostlosigkeit ausbreiten kann.
Der Tod ist eine Macht, die uns „entsetzt“ und usurpiert. Dies meint semantisch, etwas aus seiner angestammten Lage zu entfernen und ihm diese streitig zu machen, um sich schließlich ihrer (rechtswidrig) zu bemächtigen. Wir werden vom Tod „entsetzt“ und reagieren mit Entsetzen auf ihn. Es gibt noch weitere das Todesbewusstsein betreffende, nuancierte Bezeichnungen wie Angst, Furcht, Schrecken, Grauen vor ihm, Todesverzweiflung, Trauer u.a., die man dem „inneren“ Entsetzen zur Seite stellen kann.
Gegen eine derartig „düstere“ Todesansicht werden teilweise vehement Gegenstimmen laut, die darin eine unzulässige, ja maßlose Übertreibung sehen. Ich hingegen werde im Folgenden einige Beispiele anführen, die die Auffassung von den geradezu verheerenden negativen Auswirkungen des Todes(bewusstseins) auf den Menschen bestätigen.
Der mittelalterliche Theologe Anselm von Canterbury (1033–1109) spricht vom „Horror des Todes“ (A. v. Canterbury, Proslogion, Stuttgart, 1995, 78). Der Scholastiker Petrus Abälard (1079–1142) weist auf die uns eingeborene Angst vor dem Schrecken des Todes hin (P. Abälard, Die Leidensgeschichte und der Briefwechsel mit Heloisa, Darmstadt, 1979, 217). Zu Beginn der Neuzeit vergleicht der französische Philosoph und Mathematiker Blaise Pascal (1623–1662) in einem „Fragment“ seiner Pensées den Tod mit einer Verurteilung und Hinrichtung, der ein Mensch voller Schmerz und ohne Hoffnung entgegenharrt, bis er an die Reihe kommt (B. Pascal, Pensées, Frag. 199, dt., Berlin, 1937, 111). Auch William Shakespeare bezeichnet im Zusammenhang mit dem sterbenden Hamlet den Tod als „grausigen Schergen“ (W. Shakespeare, Hamlet, 5. Akt, 2. Szene). Und Georg Wilhelm Friedrich Hegel verleiht dem Todeswissen düsteren Ausdruck. In seinen Vorlesungen über die Ästhetik führt er aus, dass, wenn die Subjektivität in ihrem geistigen In-sich-Sein von unendlicher Wichtigkeit wird, so ist die Negation, welche der Tod in sich trägt, eine Negation dieses Hohen und Wichtigen selber und deswegen furchtbar (G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, II. Teil, GW, Bd. 14, Frankfurt a.M., 1970, 134). Schließlich noch einmal Jean-Paul Sartre: Für diesen stellt der Tod deshalb eine Absurdität dar, weil nur von einem lebendigen Menschen eine Sinngebung ausgehen kann. Da aber der Tod nicht das Werk des Menschen ist, vermag er ihm keinen Sinn abzugewinnen. Vielmehr nimmt der Tod jede Bedeutung und „beweist“ damit seine Sinnlosigkeit (J.-P. Sartre, Das Sein und das Nichts, 672 u. 679).
Wie immer man es wenden mag, der Tod ist für den geisterfüllten Menschen zunächst das durch nichts zu beschwichtigende, „ent-setzliche“ Übel, dem er ausweglos ausgeliefert ist. Welche Tiefen des Leides und der Trauer brechen auf, wenn ein geliebter Mensch stirbt! Und auch wenn der Tod vielleicht nach schwerer, unheilbarer Erkrankung für den davon betroffenen Menschen wie eine Erlösung erscheint, was übrigens nicht immer so ist – der Zurückbleibende gerät in eine tiefe Verzweiflung, weil das Liebesband in unersetzbarer Weise zerrissen wird. Eine mögliche Konsequenz ist dann unter Umständen die freiwillige Nachfolge, worauf auch Platon aufmerksam macht (Platon, Phaidon 68a), mindestens aber, nach einem längeren zufriedenen Zusammenleben, das Einsetzen einer schweren inneren Krise sowie bei Älteren ein auszehrendes, zum Tode führendes Siechtum.
Aber das ist noch nicht alles! Denn endlich kann der Mensch auch an sich selbst „irre“ werden. Es bricht nämlich in diesem Abgrund der Todesbedrängnis die quälende Frage auf, ob nicht der menschliche „Geist“ davon mitbetroffen ist, der Mensch also durch den Tod in Gänze zugrunde gerichtet wird und nicht bloß seine lebendige Leiblichkeit verliert. Nur zu verständlich ist, dass die durchdachte Annahme eines völligen Vergehens das Entsetzen noch steigert und zu nicht geahnten Ausbrüchen führt – etwa, dass man sich am Ende selbst verabscheut und am liebsten gar nicht geboren wäre.
Angesichts dieser Situation sieht sich der Mensch vor die Alternative gestellt, ob er sich resignierend damit abfinden oder nach Auswegen suchen soll, um mit der schweren Bürde des Todes „fertig“ zu werden. Bevor ich mich auf diesen, den vierten Aspekt der Thematik näher einlasse, wende ich meinen Blick noch einmal zurück, um besser ermessen zu können, worum es bei dem Versuch einer Todesbewältigung eigentlich geht. Ein explizites Todesbewusstsein ist, wie gesagt, allein dem Menschen vorbehalten und auf seine selbstbewusste „Geistigkeit“ zurückzuführen. Dabei erweist sich das Todesbewusstsein nicht nur als etwas Selbstverständliches, bloß Hinnehmbares, sondern geht mit schwer wiegenden, nachteiligen Auswirkungen einher. Diese äußern sich in einem zwar nicht stets ausdrücklich aktiven, aber doch unterschwellig immer „schwärenden“ Todesentsetzen, das noch durch den Gedanken belastet ist, ob nicht am Ende der menschliche „Geist“ – dieses unschätzbare „Juwel“ – in den tödlichen Ruin mit einbezogen wird. An dieser Stelle nun ist die Frage, ob es der Mensch resignierend dabei belassen oder Anstrengungen zur Beschwichtigung und Bewältigung der Todesdrohung in all ihren Facetten unternehmen soll. Wegen der Unerträglichkeit ist es nur zu verständlich, dass er nicht resigniert, sondern den anderen Weg wählt.
Der Mensch vermag dem Tode gegenüber entweder theoretisch Stellung zu beziehen oder praktisch Einfluss zu nehmen. Innerhalb der nicht scharf voneinander abgrenzbaren Richtungen bieten sich ihm vier Versuche einer „Todesbewältigung“ an: die Lebensverlängerung, die Todestabuisierung, die Selbsttötung und die postmortale Überlebensforschung.
Am nächstliegenden erscheint der erste Versuch, das „Ende“ zeitlich so weit als irgend möglich hinauszuschieben, also eine Lebensverlängerung anzustreben. In der Tat hat der Mensch in dieser Hinsicht vor allem in der westlichen Welt Beachtliches zustande gebracht. Durch medizinische und hygienische Maßnahmen ist es ihm in den letzten 200 Jahren gelungen, die Lebenszeit nahezu zu verdoppeln. Zudem erkannte man, dass durch Vorbeugung, d.h. eine gesunde Lebensführung in Form gezielter Mobilisierung des Organismus in physischer und psychischer Hinsicht (u.a. durch Sport und „geistige“ Aktivitäten), sowie durch eine gewisse Askese, d.h. durch Vermeidung einer zu üppigen Konsumierung von Nahrungs- und Genussmitteln, Bedingungen geschaffen werden, die verhindern, dass man sich vorzeitig ins Grab bringt. Aber trotz aller dieser Bemühungen kann der Mensch dem Sterben nicht entgehen. Wenn seine körperlichen und seelischen Werkzeuge „abgenutzt“ und nicht mehr „reparaturfähig“ bzw. regenerierbar sind, muss er unwiderruflich seinen Abschied nehmen.
Indessen – so leicht streckt er nicht seine Waffen! Denn nach neueren Forschungen ist zu vermuten, dass auch das übliche Altern des Organismus teilweise genetisch bedingt ist und man nur nach den dafür zuständigen Genen fahnden müsse, um den Abbau-Prozessen vorzubeugen, wodurch das Leben nicht allein verlängert, sondern am Ende sogar „Unsterblichkeit“ erreicht würde. Da jedoch zum gegenwärtigen Zeitpunkt dafür noch keinerlei Aussicht besteht, ist man auf die Idee gekommen, den Leib oder wenigstens das Gehirn (für sehr viel Geld!) einfrieren zu lassen – in der Hoffnung, später, wenn die Involutions-Prozesse aufgeklärt und beherrschbar geworden sind, wieder zum Leben erweckt zu werden und den „Geist“ in Funktion setzen zu können.
Aber diese Annahmen haben einen gravierenden Mangel. Man erblickt im menschlichen „Geist“ eine bloße Hirnfunktion, die, sobald das körperliche Organ, nämlich das Gehirn, in Gang gebracht wird, wie ein „Phönix aus der Asche“ wieder ins Licht der Welt treten könnte. Aber eine derartige Identifizierung des „Geistes“ mit einer neuralen, d.h. einem materiellen Organ entspringenden Funktion ist abwegig und läuft, wie ich zu zeigen versuche, auf eine absurde Reduktion hinaus. Man übersieht oder will nicht wahrhaben, dass, empirisch gesehen, das Gehirn gerade umgekehrt ein Instrument des „Geistes “ und nicht dieser ein Erzeugnis des Gehirns ist. Davon wird im zweiten Teil Näheres zu berichten sein.
Als eine theoretisch ausgerichtete Methode ist die „Todes-Tabuisierung“ anzusehen, durch die man wenigstens zeitweise seine „Ausklammerung“ aus dem Bewusstsein anstrebt, jedoch allenfalls eine „fadenscheinige Übertünchung“ erreichen kann. So wird beispielsweise der menschliche Tod in Anlehnung an die außermenschlichen, natürlichen Verhältnisse als eine Lebensnotwendigkeit dargestellt, wobei der „Geist“ auch nur als ein Lebensphänomen gekennzeichnet wird. Sollte trotzdem eine Todesbekümmerung Platz greifen, empfiehlt man, in der Schicksalssolidarität mit allen übrigen Lebewesen – nach der Devise: Geteiltes Leid ist halbes Leid! – Trost zu suchen.
Umgekehrt wird die besänftigende Ansicht vertreten, dem Leben könne erst von einer erwarteten Vernichtung her sein ganzer, unschätzbarer Wert erwachsen – eine Ansicht, die dann zu der Konsequenz führt, das Leben noch vorbehaltloser auszukosten und sich dabei zugleich noch enger mit dem „unheimlichen Gast“ anzufreunden. Zu dieser Betrachtungsart kann man auch die „Existenzialisierung“ des Todes zählen, die ihn als der menschlichen Existenz bzw. dem „Geist“ wesentlich zugehöriges Phänomen erklärt – auch und vor allem deswegen, weil durch ihn eine Ganzheit oder Vollendung des Lebens erreicht würde. Karl Jaspers steht, wie beschrieben, einer solchen Auffassung nahe. Gegen eine derartige „Humanisierung des Todes“ insistiere ich jedoch mit Sartre auf dem absurden „Charakter“ des Todes.
In diesem Zusammenhang verweise ich auf ein Werk des Schriftstellers H. Schreiber, das er unter dem Titel Das gute Ende veröffentlicht hat. Darin setzt er sich zunächst für das durchaus legitime Anliegen ein, den Tod, wie es im Buch-Untertitel lautet, keinesfalls „abzuschaffen“, d.h. zu verdrängen, wie es weithin üblich ist. Ihn aber im Gegenzug „als sinnvollen Abschluss“, als versöhnende Vollendung, als „schönen Tod“ und gutes Ende oder wie einen „Freund“ zu stilisieren, übersteigt die Grenzen des Zumutbaren (H. Schreiber, Das gute Ende, Reinbek, 1996, 205 u. 254).
Eine weitere theoretische Weise der Todesverdrängung wird in der biologischen Fortpflanzung angepriesen. Sträflich ist aber dabei, dass keinerlei Notiz von denjenigen genommen wird, denen eine solche Lebenserhaltung versagt bleibt. Außerdem gehört in diesen Zusammenhang das Fortdauern in „Werken“ verschiedener Observanz, die überdies einen postumen Ruhm in Aussicht stellen. Einen geradezu perennierenden Ausdruck findet die Verdrängung in der Aufstellung von Standbildern, Büsten, in der Anfertigung von Konterfeis oder in der Namensgebung von Straßen, Plätzen usw.– dies alles in der „verschwommenen“ Meinung, dem Tod ein Schnippchen schlagen und sich mittels solcher symbolischer (jedoch lebloser!) Formen an ihm vorbeimogeln zu können. Alle diese Ansinnen beruhen letztlich auf der Illusion der Unvergänglichkeit irdischer Bedeutung.
Als ein weiterer praktizierter Versuch der Todesbewältigung, der allerdings bei näherem Hinsehen eher einer Kapitulierung vor ihm gleichkommt, ist die Selbsttötung (der Suizid) anzusehen. Abgesehen von den hier nicht erörterten pathologischen Formen ist wohl bei allen derartigen Fällen das Grundmotiv das Eingeständnis einer letzten Sinnlosigkeit des Daseins. In der Tat haftet letztlich allem menschlichen Tun der Makel seiner Vergeblichkeit sowie allen vom Menschen hervorgebrachten Produkten das Kainsmal der Zerstörbarkeit an. Allenfalls über einen überschaubaren Zeitraum bleiben Spuren zurück, die jedoch dereinst ebenfalls verwehen, so dass schließlich so gut wie nichts mehr übrig bleibt. Dem Menschen zeigt sich die Nichtigkeit und die Sinnlosigkeit, kurz: ein endgültiges Umsonst, im Tod selbst. Denn wo soll der Mensch noch einen Sinn finden, wenn für ihn alles „zuschanden“ wird?
In der Selbsttötung allerdings glaubt ein Mensch, dieser Sinnlosigkeit zuvorkommen und ihr Einhalt gebieten zu können. Aber weit gefehlt! Denn in Wahrheit verfällt er einem tragischen Irrtum. Statt jener nämlich Einhalt zu bieten, liefert er sich ihr im Tötungsakt direkt aus und wirft sich ihr geradewegs „in den Rachen“. Beim Suizid handelt es sich deshalb um eine totale Bankrott-Erklärung und Auslieferung an die Sinnlosigkeit. Nicht der sich selbst tötende Mensch geht als Triumphator über sie und den Tod hervor, sondern beide triumphieren im Selbstmord über ihn. Also auch bei diesem Versuch vermag der Mensch nicht einen annehmbaren, vor allem erfolgversprechenden Ausweg aus seiner „sinnlosen“, vom Tod gezeichneten und darum entsetzlichen Lage zu finden.
Um nicht zu resignieren, muss man daher nach verheißungsvollen Auswegen im Sinne einer Todesbewältigung Ausschau halten. Um dafür einen Weg zu finden, gehe ich zunächst „darwinistisch“ vor und frage, ob nicht das Todesbewusstsein, auch oder gerade in seiner Bedrückung, für den Menschen etwas seinem Überleben Dienliches, ja Zweckhaftes darstellt. Allgemein wird bekanntlich die Ansicht vertreten, dass ausgeprägte und stabilisierte Lebensphänomene einen positiven, lebenserhaltenden Wert besitzen. Das menschliche Todesbewusstsein muss, da es ein den Menschen wesentlich charakterisierendes „Merkmal“ ist, zu diesen Erscheinungen gerechnet werden. Tatsächlich lassen sich an ihm einige derartige Seiten eruieren. So kann man sagen, dass es dem Menschen zu einer größeren Vorsicht im eigenen, auf Leben und Tod gehenden Daseinskampf verhilft sowie zu einer frühzeitigen Vorsorge für die eigene Nachkommenschaft dient. Außerdem treibt es ihn besonders im letzten Lebensabschnitt an, nicht fertig gestellte Arbeiten und nicht abgeschlossene Vorhaben zu Ende zu führen. Aber so positiv man auch diese Teilaspekte bewerten mag, umgriffen und durchsetzt werden sie von dem sie begleitenden, sie letztlich „verhöhnenden“ Todesentsetzen, das den darwinistischen bzw. biologischen Utilitarismus und Opportunismus in die Schranken weist.
Und doch – trotz dieser unüberwindbaren Aussichtslosigkeit unserer durch den Tod bestimmten Situation sind wir nicht am Ende mit unseren Möglichkeiten, ihm Paroli zu bieten. Denn wir können – den Tod gleichsam an die „Kandare“ nehmend – in die entgegengesetzte Richtung fragen und uns entsprechend orientieren: Könnte nicht gerade im menschlichen Todesbewusstsein und in der in ihm liegenden Schwere des Todesentsetzens ein, allerdings nicht ohne weiteres bemerkbarer, verborgener Zweck liegen, nämlich die Aufforderung zur Inangriffnahme nicht einer darwinistischen, sprich biologischen, sondern spirituellen Überlebensforschung? Eine Fortlebensforschung, die wiederum nicht metaphysisch-spekulativ oder religiös-fideistisch verfährt, sondern sich bescheiden und trotzdem aussagekräftig in empirischen Bahnen zu bewegen sucht – dies besonders deswegen, weil ja auch der menschliche „Geist“ etwas „Erfahrbares“, Empirisches darstellt! Mit diesen wenigen Hinweisen will ich mich vorläufig begnügen. Später setze ich mich ausführlich mit dieser anderen Art der Überlebensperspektive auseinander, die sich als ein hoffnungsvoller und richtungsweisender Garant einer Todesbewältigung erweisen wird.