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Zur Geschichte der Hermeneutik

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Der Denker, der erstmals das Gebiet der Hermeneutik über den Kanon besonderer theologischer und klassisch-humanistischer Texte hinaus erweiterte, war Schleiermacher. Bis zu ihm war die Hermeneutik eine methodische Auslegungskunst klassischer und „heiliger “ Schriften, deren spezifischer Wahrheitsgehalt herausgearbeitet werden sollte. Schleiermacher fasst die Texte, alle Texte, nicht als Vermittler der Wahrheit, sondern als individuellen sprachlichen Ausdruck. Er entwickelt eine hermeneutische Lehre des Verstehens sprachlicher Ausdrücke. Diese müssen methodisch gedeutet werden, um Missverständnisse auszuschließen. Schleiermacher unterscheidet zwei Verstehenslinien – zum einen das „grammatische“ Verstehen, das sich auf die jeweilige Sprache und ihre Regeln bezieht, zum andern die technische Auslegung, die es mit der subjektiven Eigenart, dem „Stil“ des Schriftstellers und dem Wie der sprachlichen Gestalt zu tun hat. Ziel des Verstehens ist es, mit dem zu deutenden Autor in ein Gespräch zu treten, um, wie bei jedem gelingenden Gespräch auch, zu einem gemeinsamen, verbindlichen Wissen zu gelangen.

Später vertieft Schleiermacher die Hermeneutik durch Bezugnahme auf die in seiner Dialektik und seiner Psychologie (zugleich seine Anthropologie) ausgearbeiteten Vorstellungen. Dadurch verlagert sich das Schwergewicht der zur „Kunstlehre“ ausgereiften Hermeneutik auf die erschließende Psychologie: Die konkrete menschliche Existenz gewinnt an Bedeutung, d.h., ein Text wird als Ausdruck von Psyche, Leben und geschichtlichem Hintergrund des Autors und seiner Epoche gedeutet. Der Individualitätsgedanke steht im Zentrum des Schleiermacher’schen Denkens. Das Individuum, dessen Besonderheit der Text ausdrückt, ist jedoch auch Teil einer Gemeinschaft. Der Text ist mithin Offenbarung einer individuellen Einzigartigkeit für andere.

Von diesem psychologisch ausgerichteten Individualismus in der Hermeneutik geht auch Wilhelm Dilthey (1833–1911) aus. Dem Verstehen weist auch er eine methodisch zentrale Rolle zu. Für Dilthey werden Bedeutungen verständlich, wenn sie in einen erfahrbaren Lebenszusammenhang gerückt werden können. Das Verstehen kann verschiedene Grade erreichen, je nach investierter Aufmerksamkeit und aufgebrachtem Interesse.

In seiner Schrift Die Entstehung der Hermeneutik (G. Schr., Bd. V, Leipzig, 1924, abgek. EH) charakterisiert er das Verstehen allgemein als Erkennen eines Inneren in „Zeichen“, die sinnlich, von außen gegeben sind. Zugleich knüpft er einen Universalitätsanspruch an das Verstehen, das „von dem Auffassen kindlichen Lallens bis zu dem des Hamlet und der Vernunftkritik“ reicht (EH, 319). Jedoch kann allein auf die „dauernd fixierten Lebensäußerungen “ das „kunstmäßige Verstehen“ angewandt werden (ebd.). Diese Form des deutenden Verstehens nennt Dilthey auch „Interpretation“ oder „Auslegung“. Unter den geistigen Ausdrucksformen besitzt die Literatur den Vorrang, weil allein in ihr das menschliche Innenleben seinen „vollständigen, erschöpfenden und objektiven Ausdruck findet“ (EH, 320).

Die Interpretationskunst gestaltet sich allerdings durch das Problem des „hermeneutischen Zirkels“ besonders schwierig: Um den Sinn eines Textes als Ganzen zu verstehen, muss man den Sinn seiner Teile verstehen und doch setzt das volle Verständnis dieser Teile schon das Ganze als bereits verstandenes voraus. Das hermeneutische Verstehen ist nie ein absoluter Anfang: Immer „startet“ es von einem bereits erworbenen, lebensweltlich eingebetteten Vorwissen aus, das es dann kritisch vertieft. Das Vorwissen ist sogar die Bedingung der Auslegung, ohne es könnte die Interpretation nicht beginnen. Als Grenze des Verstehens gilt Dilthey der Lebensvollzug des Autors in seiner Innenperspektive: seine Individualität. Aber nicht diese wird interpretiert, sondern ihr Ausdruck. Nicht das auktoriale Selbstverständnis, sondern das Gesagte, das sich durchaus vom „Gemeinten“ unterscheiden kann, wird hermeneutisch ausgelegt. So sieht Dilthey das letzte Ziel der hermeneutischen Bemühungen darin, „den Autor besser zu verstehen als er sich selber verstanden hat“ (EH, 331). Dilthey stellt die geistigen Textgebilde in die Dimension des Intersubjektiven, „versieht“ sie mit einem intersubjektiven Sinn. Nur so ist ein solches Besser-Verstehen möglich. Interessanterweise charakterisiert er die Individualität selbst als eine intersubjektive Kategorie. Erst in der Auseinandersetzung mit anderen, „in der Vergleichung meiner selbst mit anderen mache ich die Erfahrung des Individuellen in mir“ (EH, 318).

Zwar übernahm Dilthey den Begriff „Geist“ von Hegel, aber nur um ihn von seinen idealistischen Voraussetzungen zu lösen. Dilthey charakterisiert den Geist als Inbegriff der sinnhaften geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit. Auch der „Geist“ ist ein intersubjektives, trans-individuelles Phänomen. Das Subjekt des Geistes ist ein kollektives. Auf den Aspekt der Geschichtlichkeit werde ich an einer anderen Stelle noch ausführlich zu sprechen kommen.

An dieser Stelle wende ich mich Hans-Georg Gadamer (1900–2002) zu. Gadamers Denken hat sich vor allem in der Auseinandersetzung mit dem Heideggers entwickelt. Sein Hauptwerk Wahrheit und Methode (Tübingen, 1960) begründete die Disziplin der philosophischen Hermeneutik. Darin erhält der Begriff Hermeneutik eine noch umfassendere Bedeutung: Nicht nur das Wissen über Texte, sondern alles Wissen beruht demnach auf einem Verstehen, das in einer Auslegung dieses allgemeinen Wissens erklärt werden kann. Verstehen erscheint in dieser Perspektive als ein Grundzug des menschlichen Lebens, der philosophisch zu hinterfragen ist. Gadamer spricht von einer „Vertiefung in das Phänomen des Verstehens“ (2).

Gadamer unterscheidet das naturwissenschaftliche Verstehen, das sich von Experimenten leiten lässt, deren Ausgangsbedingungen methodisch befragt werden, vom geisteswissenschaftlichen Verstehen. Aber weil für ihn dieses Verstehen sprachbedingt ist, umgreift es das naturwissenschaftliche Verstehen und geht ihm voraus. Unsere Welterfahrung im Allgemeinen ist sprachgebunden (442ff.): Alles Sein muss, um dem Verstehen zugänglich zu sein, in die Sprache „überführt“ werden. Gadamer charakterisiert in der Einleitung zu Wahrheit und Methode das Anliegen seiner Untersuchungen so: „Erfahrung von Wahrheit, die den Kontrollbereich wissenschaftlicher Methodik übersteigt, überall aufzusuchen, wo sie begegnet und auf die ihr eigene Legitimation zu befragen“. So rücken die Geisteswissenschaften mit außerhalb der Wissenschaften liegenden „Erfahrungsweisen “ zusammen: „mit der Erfahrung der Philosophie, mit der Erfahrung der Kunst und mit der Erfahrung der Geschichte selbst“ (ebd.). Die Wahrheit dieser Erfahrungsweisen ist mit den methodischen Mitteln der Wissenschaft nicht verifizierbar. Wahrheit erscheint als ein Phänomen der Lebenswelt, als ein in den Vollzug des Lebens eingebettetes Geschehen – durchaus im heideggerschen Sinne der Wahrheit als einer Intensivierung.

Der hermeneutische Zirkel hat für Gadamer einen ontologisch positiven Sinn, der in jeder Vollzugsform des verstehenden Auslegens zum Tragen kommt. Stets wird ein Text schon mit einer gewissen Erwartung auf einen konkreten Sinn hin gelesen. Eine solche Erwartung, ein solches „Vorurteil“, ist Bedingung der Möglichkeit des Verstehens und wird von Gadamer entsprechend gewürdigt. Von dieser Erwartung aus vollzieht der, der einen Text verstehen will „ein Entwerfen. Er wirft einen Sinn des Ganzen voraus, sobald sich ein erster Sinn im Text zeigt“ (271). Dieser zeigt sich aber nur, weil man immer schon mit eben dieser bestimmten Sinnerwartung liest. Beim weiteren Eindringen in den Textsinn ergeben sich neue Aspekte, von denen her der „Vorentwurf“ (die Sinnerwartung) beständig verändert wird. „Im Ausarbeiten eines solchen Vorentwurfs (…) besteht das Verstehen dessen, was dasteht“ (ebd.). Das ist der Sinn der Rede von der „Horizontverschmelzung“. In späteren Abschnitten werde ich auf Gadamers Konzeption nochmals zu sprechen kommen.

Diese kursorischen Hinweise auf die maßgeblichen Hermeneutiker mögen genügen. Sie erscheinen mir aussagekräftig genug, um sie mit meinen Einwänden zu konfrontieren, mit denen ich die von mir vertretene hermeneutische Position rechtfertigen möchte. Gadamer unterscheidet zwischen wissenschaftlicher Methodik und philosophischer Hermeneutik. Beiden Positionen liegen menschliche Entscheidungen bzw. Verhaltensweisen zugrunde, bei der Wahrheitssuche entweder erklärend oder verstehend vorzugehen. Aber jede Position setzt im Kierkegaard’schen Sinne ein Verhalten zu sich selbst voraus, also „Geist“. Denn nicht es verhält sich, sondern ich verhalte mich wie im Erklären so im Verstehen stets auch zu mir selbst. Ich – ein menschlicher „Geist“ – treffe die Wahl, mich in die eine oder andere Richtung zu begeben. Somit lassen sich diese Verhaltensweisen in eine Hermeneutik des menschlichen „Geistes“ zurückverfolgen und primär in einer solchen begründen.

Der zweite Einwand bezieht sich auf die von den Hermeneutikern vertretene Auffassung, dass das Verstehen von der menschlichen Geschichtlichkeit (Vergangenheit) umgriffen und so von einem Vorverständnis geprägt ist. Wird aber das Verstehen in dieser Art interpretiert, erscheint es wie „festgenagelt“ auf seine Vergangenheit. Dazu hilft ein Beispiel von Dilthey weiter, wonach das Verstehen nur „Sprachdenkmälern“ gegenüber zu einer allgemeingültigen, weil einheitlich in der Vergangenheit zentrierten und fundierten Auslegung kommen kann. Es fällt auf, dass in der Richtung auf das Woher beide Positionen, die wissenschaftliche Methodik und die philosophische Hermeneutik, sich „die Hände reichen“ – wenn auch mit unterschiedlichen Intentionen. Mit dieser einseitigen Blickrichtung in die Vergangenheit begnügt sich der menschliche „Geist“ jedoch keineswegs. Denn er fragt und hält zugleich ruhelos Ausschau nach seinem Wohin und Wozu – Fragestellungen, die ihm das ihn unablässig quälende Todesbewusstsein aufdrängt, wie ich noch zeigen werde. Das aber bedeutet, dass er sich wie zu seiner Vergangenheit (seiner Geschichte) ebenso zu seiner Zukunft verhält, d.h. verstehend versuchen kann, in sie „einzudringen“. Es ist also eine zukunftsorientierte Hermeneutik vonnöten, die ich im dritten Teil meiner Arbeit vorzulegen versuche. Aber auch im Blick auf sie muss man sich darüber im Klaren sein, dass nur der menschliche „Geist“ aufgrund seiner im Selbstbewusstsein verwurzelten Freiheitlichkeit zu einer solchen Hermeneutik auszuholen vermag.

Der dritte Einwand zielt auf die Rolle der Psychologie, wie sie besonders in der Hermeneutik von Schleiermacher und Dilthey zum Tragen kommt, und zwar in Bezug auf die Frage, ob hermeneutisch in der Psyche das „Eigentliche“ des Menschseins berührt wird. Dass im Vollzug des Verstehens die Psyche und im Engagement die Emotionalität des Menschen eine wichtige Funktion übernehmen, ist nicht zu bestreiten. Aber dabei darf nicht übersehen werden, dass es sich bei der „Seele“ und ihren „Vermögen“ um anlagebedingte Dispositionen handelt, die sich im Laufe des Lebens zu einem Charakter oder einer Persönlichkeit verdichten. Diese individuelle Eigenart lässt sich dann, wie später zu zeigen sein wird, in einem psychologischen Verstehen anvisieren und, wie Dilthey meint, wissenschaftlich „festhalten“. Jedoch kommt auf der psychologischen Ebene das eigentliche Menschsein nicht zum Tragen. Der „Geist“ geht nicht in der Psyche auf! Aufgrund seiner Verfasstheit als Selbstbewusstsein ist es ihm möglich, sich auf die psychischen Fähigkeiten zu richten und sie nach innen wie nach außen operational zu aktivieren, d. h. einzusetzen und auszuprägen. Die Differenz wird sich noch klarer zeigen, wenn wir auf die unterschiedlichen zeitlichen Zuordnungen zwischen „Geist“ und „Psyche“ achten. In der folgenden hermeneutischen Grundlegung versuche ich, den „Geist“ in seinem Selbstverstehen zu explizieren.

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