Читать книгу Was macht uns einzigartig? - Winfried Rorarius - Страница 20
Menschlicher „Geist“ als Personalität
ОглавлениеDie Aussage, dass die „selbstbewusste Geistigkeit“ dem Menschen empirisch „entgegentritt “, d.h. schlicht als autonome Operationalität erfahren wird, ist in Bezug auf eine umfassende Beschreibung des Phänomens „Geist“ nicht ausreichend und muss durch eine bereits bekannte, an dieser Stelle wieder zu erinnernde Aussage ergänzt werden: Es verdankt der menschliche „Geist“ sich strukturell wie existenziell nicht sich selbst. Trotzdem muss er für sich aufkommen und sich selbst verwirklichen. Hebt man die operationale Verfasstheit des „Geistes“ in den Blick, wie ich es bei der hermeneutischen Grundlegung getan habe, fällt diese „Negativität“, diese Abhängigkeit, nicht sogleich ins Auge, weil es vorrangig um das dem Menschen anheim gestellte und überantwortete Sein, um sein Sein geht, worum er sich vor allem zu kümmern hat.
Weil jene Seite seines Seins sich zunächst mehr im Verborgenen hält, kann der Mensch unversehens auf eine falsche Fährte geraten. Denn in der „Selbst-Überlassenheit “ ist man fast zwangsläufig geneigt zu meinen, man könne sakrosankt darüber verfügen. Solche Einschätzungen sind, wie die Geistesgeschichte lehrt, keine Seltenheiten, ich erinnere an den extrem freiheitlich geprägten Sartre’schen Existenzialismus. Auch die „KI-Technologen“ (Vertreter der starken Version der künstlichen Intelligenz) lassen sich anführen. Ihrer Ansicht nach verdankt der menschliche „Geist“ neurogenen, d. h. materiell-energetischen Gehirnprozessen seine Entstehung, weswegen er auch vom zentralen Nervensystem ablösbar und elektronisch, d.h. künstlich simulierbar sein soll.
Zwar bin ich der Ansicht, dass unser „Geist“ qua Selbstbewusstsein in unsere Hände gelegt ist, wir also dafür verantwortlich zeichnen. Aber dieser Selbstvollzug oder diese Selbst-Operationalität bedeuten weder eine Eigenschöpfung noch eine eigenmächtige, etwa technologisch simulierbare Erzeugung des „Geistes“ aus manipulierbarer Materie. Es ist unbestreitbar, dass der „Geist“ erfahrungsgemäß in enger Dependenz zum nervösen Zentralorgan und dem übrigen Organismus steht – jedoch nicht so, dass er bloßes Produkt von Materie wäre. Vielmehr bewegt er sich in der raum-zeitlichen, materiellen Welt und macht sie zum „Werkzeug“ seines Wirkens.
Mit diesen Überlegungen stößt man an eine unhintergehbare ontologische Grenze, die zugegebenermaßen nur einer durchdringenden, vertieften Selbsterfahrung zugänglich ist. Wird dem Menschen diese aber zuteil, bringt sie etwas Unerwartetes zutage. Denn sowenig dem Menschen eine souveräne Selbstsetzung gewährt und möglich ist, so wenig kann ihm seine Verfassung als gesetztes Sein den Boden zu einer Selbstvernichtung durch biomortale Prozesse oder eine suizidale Handanlegung ebnen: Weder im Leben noch im Tod vermag der Mensch „Nicht-Geist“ zu sein.
Von hier aus fällt ein erhellendes Licht auf die vorhergehenden Abschnitte. Letztendlich erweist sich diese tiefer und weiter ausgreifende Selbst-Erfahrung als der geheime „Motor“ für meine Untersuchungen. Weil wir irgendwie „gesetzte Wesen“ sind, kann unserem „Geist“ das Sterben am Ende nichts anhaben. Im Gegenteil – gerade das Todesentsetzen veranlasst, ja drängt uns unablässig, „geistig“ aktiv nach lichten wie tröstlichen Auswegen zu suchen. Wie wohltuend wäre es daher, wenn wir von vornherein und sicher jener angesprochenen, grundlegenden Selbst-Erfahrung eines „immortalen“ Seins teilhaftig sein könnten.
Wegen ihrer Bedeutsamkeit skizziere ich die Überlegung noch einmal: Sowenig wir in der Tiefe unseres „geistigen Seins“ über uns selbst verfügen, sondern in einem anderen, gleichwohl unbekannten Ursprung verankert sind und von ihm herkommen, ohne also darüber Wissbares ungeschmälert in der Hand zu haben, so wenig scheint es möglich, durch innerweltliche Vorgänge (biologischer Tod, Suizid etc.) zugrunde gerichtet werden zu können: Denn der menschliche „Geist“ ist ein Sein sui generis. Daraus lässt sich folgern, dass der Tod nicht das letzte Wort behält, was wir allerdings nur über einen Umweg erfahren, der paradoxerweise über das Todesbewusstsein bzw. das Todesentsetzen führt, das uns antreibt, nach Indizien unserer durch keine wie auch immer geartete innerweltlichen Prozesse in Frage zu stellenden „Unzerstörbarkeit“ zu suchen – ohne allerdings definitive Antworten erhalten zu können.
Um dieser in unserer selbstbewussten Geistigkeit sich verbergenden Nicht-Mächtigkeit, dieser „Ohnmacht“ gerecht zu werden, wähle ich den Begriff „Personalität“. Etymologisch leitet er sich vom lateinischen Wort persona her, das übersetzt „Maske, Larve“ bedeutet. Daneben wird persona mit dem griechischen Substantiv für „Gesicht, Maske, Fassade, Rolle“ u. a. in Verbindung gebracht. Der Mensch allein macht im Zuge einer Selbstbestimmung die negative Erfahrung, dass er nicht von sich selbst her ist, ohne zugleich seinen „Erzeuger“ angeben zu können. Nach allem spielt er auf der Weltbühne offenbar eine nur ihm zugemessene, aber selbstständige Rolle, die ihn jedoch weder zu einem manipulierbaren, materiellen Erzeugnis noch zu einer bloß funktionierenden Marionette in der Hand übermenschlicher Mächte macht, sondern ihm die Freiheit zu eigenverantwortlichem Handeln sich selbst und dem Anderen gegenüber belässt.
Mit diesen Ausführungen stehe ich am Ende des Versuches einer den menschlichen „Geist“ thematisierenden Hermeneutik, zu der auch die zuletzt angestellten Grenzerwägungen gehören.