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Menschliches Gewissen, Ethik und Strafjustiz

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Gleich vorweg möchte ich betonen, dass die zu thematisierenden Orientierungshilfen den Menschen keinesfalls von der Verantwortung seinen Trieben gegenüber dispensieren. Vielmehr sind es „Angebote“, die der Mensch frei annehmen oder ausschlagen kann. Innerhalb dieser Hilfsangebote spielt das Gewissen eine zentrale Rolle, wobei es jedoch von anderen gewissermaßen flankiert wird. Im Umgang insbesondere mit seiner triebbestimmten Organisation präsentiert es sich dem menschlichen „Geist“ zunächst als eine Art innerer Kontrollinstanz. Als solche hat das Gewissen Teil an der psychischen Bewusstheitsstruktur. Aber für gewöhnlich verhält es sich ähnlich wie das Selbstbewusstsein, nämlich in der Weise eines begleitenden oder impliziten Mitwissens. Dabei erweist es sich zunächst als eine grundlegende Potenz – als eine Fähigkeit, die eine doppelte Aufgabe erfüllt. Zum einen wirkt das Gewissen wie eine warnende, zum anderen wie eine überführende, anklagende „Stimme“: Es bewahrt vor dem Abgleiten in die Asozialität oder trägt als „schlechtes Gewissen“ zu Reue und Umkehr bei.

Das Gewissen, das anfangs nur als Potenz oder Befähigung zu ethischem Verhalten existiert, bedarf zu seiner Verwirklichung einer inhaltlichen Orientierung oder „Leitlinie “. In diesem Zusammenhang sei nochmals daran erinnert, dass der menschliche „Geist“ über seine Leiblichkeit (einschließlich der Sprachlichkeit) mit der Welt (Natur) und der menschlichen Fremdexistenz in Verbindung tritt. Diese ergibt sich aber keineswegs von selbst. Vielmehr muss sie stets von neuem hergestellt werden. Der Mensch ist gewissermaßen dazu aufgerufen! Aufgerufen, sich als selbstbewusste „Geistigkeit“ zu erproben und zu bewähren. Das vermag er aber nur, indem er sich der Welt (Natur) und vor allem dem Mitmenschen zuwendet und ihnen „dient“. In jedem Augenblick trägt er für sie Verantwortung. Das wiederum besagt konkret, dass er sich an ethischen (Verhaltens-)Regeln zu orientieren hat. In diesen findet das Gewissen eine Art „Richtschnur“, sie bilden einen Sitten- bzw. Moral-Kodex, der die menschliche Ethik ausmacht.

Darin unterscheidet sich die menschliche Ethik von den animalischen, den Tierspezies eignenden Verhaltensrepertoires, die im Wesentlichen ererbt und von Instinkten geprägt sind. Allerdings lassen sich über Tradierung und Dressierung bei Tieren Verhaltensformen hervorrufen, die man als Moral-analog auffassen könnte. Während eine ganze Tierspezies einem engen Verhaltensrepertoire angepasst ist, zeigt die menschliche Ethik eine von Gemeinschaft zu Gemeinschaft differierende Vielfalt. Aber trotz dieser ethischen Mannigfaltigkeit ist aus leicht einsehbaren Gründen ein Unterschied zu machen zwischen einem mehr oder weniger in allen Ethiken anzutreffenden Kernbestand an streng bindenden Normen und mehr „randständigen“ Verhaltensregeln, die in Gesetzbüchern (z.B. im Bürgerlichen Gesetzbuch) niedergelegt sind. Jener ethische Kernbestand wird hingegen in politische Verfassungen (beispielsweise im deutschen Grundgesetz) einbezogen.

Am mosaischen Dekalog, der für das christliche Abendland schicksalhafte Bedeutung gewann, will ich das Gesagte erläutern. Abgesehen von den in den ersten vier Geboten gegebenen religiösen und kultischen Anweisungen (Gottesverehrung und Sabbatheiligung) beziehen sich die anderen Gebote auf die vom Menschen wohl in aller Welt am häufigsten begangenen schweren sittlichen Vergehen (Pervertierungen), die man leicht den beschriebenen Grund-„Verkehrungen“ zuordnen könnte. Es sind dies: Elternverunglimpfung, Totschlag, Ehebruch, Diebstahl, Habsucht und Verleumdung. Bemerkenswert ist, dass es sich bei den letzten fünf Forderungen des Dekalogs um Verbote handelt, die mit den Worten: „Du sollst nicht …“ eingeleitet werden. Dieses Sollen ist in der Heiligen Schrift von Gott sanktioniert und bezieht von Gott her seine Verbindlichkeit.

Zwar haben für den modernen Menschen vor allem der westlichen Zivilisation die Gebote ihre zwingende Kraft eingebüßt, jedoch sind insbesondere die letzten sechs Gebote von ungebrochener ethischer Relevanz. Jedoch bedürfen diese wegen des Verlustes der religiösen Verbindlichkeit, des Glaubens an die göttliche Inspiration, einer neuerlichen tiefen Verankerung im menschlichen Inneren, wo sie für das Gewissen zu richtungsweisenden Normen werden können. Erst wenn der ethische Kernbestand „internalisiert “ und so für das Gewissen zur bindenden Richtschnur geworden ist, anhand deren es aktuell abzuschätzen vermag, wie und wann der Mensch auf die falsche Bahn gerät, also bösartig wird, erweist er sich als sittliche Stütze.

Für den Einzelnen ist das Gewissen das Resultat eines langwierigen, inneren Konsolidierungsprozesses. Jeder Mensch „internalisiert“ im Laufe seines Lebens Werte, Einstellungen, Haltungen. Zunächst aber ist das Gewissen, wie gesagt, nicht mehr als eine anlagebedingte menschliche „Disposition“, die während eines längeren Zeitraumes, anfangs unter erzieherischer Anleitung, später auch durch Selbsterziehung, verwirklicht, d. h. eingeübt werden muss. Es obliegt dem Menschen, sein Gewissen, ebenso wie die anderen psychischen und somatischen Funktionen, zu „trainieren“. Andernfalls, wenn ihm nicht die gebührende Aufmerksamkeit geschenkt wird, entwickelt es sich nicht oder es stumpft ab und verkümmert, wie man es heutzutage weithin beobachten kann. So verstehe ich Gewissenlosigkeit, die man allzu leicht Menschen attestiert, die schwere Verbrechen scheinbar ohne „Gewissensbisse“ begehen, nicht als ein Phänomen tatsächlicher und totaler Abwesenheit des Gewissens, sondern als ein solches der Unterdrückung oder des Nicht-hören-Wollens der „Gewissensstimme“, mithin als eine Verweigerung, die letztlich einem Mangel an eingeübter Sittlichkeit geschuldet ist.

Zum Vergleich und besseren Verständnis kann man sich beispielsweise an das Phänomen des Analphabetismus, wenn Menschen weder lesen noch schreiben können, halten. Ein solches Manko bedeutet nicht, dass bei ihnen nicht die entsprechenden Anlagen vorhanden wären. Vielmehr kann man allen (normal entwickelten) Analphabeten durch Anleitungen, eigene Lernbemühungen vorausgesetzt, Lesen und Schreiben beibringen. Ähnliches gilt für den Spracherwerb. Zwar ist, wie die Reichhaltigkeit der Sprachen zeigt, die Sprache selbst ein vom Menschen entwickeltes Kulturgut. Aber weil alle normal entwickelten Menschen sprechen können, ist eine allgemeine, erbliche Disposition vorauszusetzen, die in den übergeordneten Sprachzentren des Hirns verankert ist und durch Übung entfaltet und vervollkommnet werden kann. Unterlässt man ihre sorgsame Pflege und Übung, tritt eine Stagnierung und Verarmung ein, wie es eindrucksvoll wie bedrückend an den über Jahre isoliert gehaltenen „Wolfskindern“ beobachtet werden kann. Besonders dann, wenn die etwa im zwölften Lebensjahr liegende „sensible verbale Erwerbungsphase“ ungenutzt verstreicht, gestaltet sich ein späteres Spracherlernen als außerordentlich mühsam und langwierig. Ebenso gilt für das Gewissen als anlagebedingte Voraussetzung: Es muss erworben und entwickelt werden. Nur so kann es sich zu einem sensiblen „ethischen Organ“ ausprägen und zu gewünschter Stärke finden.

Handelt es sich bei der Gewissensentfaltung um die Herausbildung oder Ausprägung einer Anlage („Envolvierung“), so beim internen Erwerbsprozess grundlegender Normen um eine Einlagerung („Involvierung“), d.h. um eine Verinnerlichung oder „Enkulturation “ des ethischen Kernbestandes. Diese Prozesse, die Entwicklung des Gewissens als Disposition zu ethischem Handeln und die Verinnerlichung konkreter Handlungsanweisungen, bedingen und bedürfen einander wechselseitig. Zusammen bilden sie das komplementäre Paar menschlicher Ethik. Genau genommen sind sie strikt gar nicht voneinander zu trennen, insofern sich die Entfaltung des Gewissens auch als die „Hereinnahme“ von Werten ansprechen lässt und umgekehrt. Ebenso kann man das Gewissen als grundsätzliche Befähigung zu ethischem Handeln und zugleich zur Internalisierung von Normen auffassen.

Wie deutlich wurde, geschieht die Internalisierung nicht aufs Geratewohl, sondern unter Bezugnahme auf und in Auseinandersetzung mit unserer prekären Triebausstattung. Dabei ist eine längere pädagogische Einflussnahme vor allen Dingen in der Kindheit und im Jugendalter vonnöten, damit sich die gewünschte stabile ethische Orientierung ausbilden kann. Aber so unerlässlich diese Installierung des ethischen Kernbestandes auch ist, für die ethische Reifung sind oft menschliche Vorbilder von mindestens ebenso prägender Bedeutung: eine „gute“ Mutter, ein „guter“ Vater oder andere Persönlichkeiten, die ein hohes, edles Menschentum verkörper(te)n. Ihnen nachzueifern, und sie dabei nicht bloß zu imitieren, empfiehlt auch Johann Wolfgang von Goethe: „jeder soll sich seinen Helden wählen, dem er den Weg zum Olymp sich nacharbeitet“.

Mit den bisher beschriebenen, ethisch relevanten Phänomenen, dem Gewissen, dem internalisierten ethischen Kernbestand, den menschlichen Vorbildern ist das Reservoir ethischer „Hilfskonstruktionen“ nicht erschöpft. Zu ihnen gehören fraglos auch die Bestrafungsmaßnahmen, die in der Strafjustiz zusammengefasst sind. Diese rufen zunächst durch die über eine Strafandrohung bewirkte Abschreckung einen psychischen Effekt, die Angst, hervor, wodurch der Mensch ebenfalls vor einem Abgleiten in seine Unmenschlichkeit bewahrt werden soll. Hat er sich doch eines Vergehens schuldig gemacht, dient die Bestrafung zunächst als „schmerzhafte“ Vergeltung und Sühne, darüber hinaus aber soll sie den Delinquenten zu einer reumütigen Umkehr und also einem Gesinnungswandel bewegen und ihn in diesem Sinne resozialisieren. Freilich bleibt in der Welt wie schon im eigenen kleinen Daseinsumkreis vieles unbereinigt, gibt es viele Phänomene, die den in der Tiefe des menschlichen „Geistes“ waltenden, unbestechlichen Gerechtigkeitssinn beleidigen. Diese Einschätzung führt mich am Schluss dieses Kapitels zu dem Gedanken einer Rechenschaftslegung nach dem Tod. Dieser vielleicht beängstigende und vielleicht nur der Hoffnung entspringende Gedanke steht im Zusammenhang mit Überlegungen zu einem möglichen postmortalen Überleben, mit denen ich mich in Kapitel 3 speziell auseinander setzen werde. In den Worten Shakespeares, aus dem Hamlet (1. Akt, 5. Szene), findet diese Überlegung eines „späten“ Bezeugens eigenen Tuns sehr schön Ausdruck:

In den verderbten Strömen dieser Welt

Kann die vergoldete Hand der Missetat

Das Recht wegstoßen, und ein schnöder Preis

Erkauft oft das Gesetz. Nicht so dort oben!

Da gilt kein Kunstgriff, da erscheint die Handlung

In ihrer wahren Art, und wir sind selbst

Genötigt, unsern Fehlern in die Zähne,

Ein Zeugnis abzulegen …

Was macht uns einzigartig?

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