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Hermeneutische Grundlegung
ОглавлениеDer menschliche „Geist“ ist nicht generalisierend und objektivierend abzuhandeln, denn er ist ein nur dem Einzelnen vorbehaltenes und nur vom Einzelnen aktualisierbares ureigenes Phänomen. Das ist der Grund dafür, warum ich mich, anstatt auf eine Anthropologie im wissenschaftlichen Sinne, auf die Hermeneutik beziehe. Diese plädiert für ein Verstehen, das sich an der Erfahrung orientiert. Der Geist wird auch als „Selbstbewusstsein “ angesprochen und soll in einer Hermeneutik expliziert werden.
Am Selbstbewusstsein lassen sich drei Aspekte herausheben. Der erste ist der des „Selbst“ im Kierkegaard’schen Sinne: das „Verhältnis zu sich selbst“. Darin bekundet sich eine Freiheitlichkeit oder besser ein Freisein und zugleich ein „Appell“, dieses Verhältnis selbst, d.h. frei zu vollziehen. Hier muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass sich das Selbstsein nicht allein in einem „Zu-sich-selbst-verhalten“ erschöpft, sondern unabdingbar ein Verhalten zur Welt und anderen in sich schließt, wovon später zu reden sein wird.
Dieses freiheitliche, auf sich und andere gerichtete Selbstsein weist eine Kontinuität auf – trotz seiner im Verhältnis zu sich selbst und anderen geradezu augenfälligen Gespaltenheit. Dessen ungeachtet bleibt das Selbstbewusstsein der identische Beziehungspunkt für die inneren und äußeren „Eindrücke“ sowie jegliches Verhalten. Wenn wir auch eine Fülle von differenten Erlebnissen haben und uns in vielfältiger Weise verhalten, so bilden sie nicht ein zusammenhangloses „Durcheinander“, sondern sind durch unseren „Geist“ in einem kontinuierlichen Erfahrungskontext zusammengefasst, deren vereinheitlichendes Zentrum eben das Selbstbewusstsein ist. Der Philosoph Edmund Husserl vertritt eine solche Position. So rangiert innerhalb der von ihm benannten drei Bewusstseinsweisen der die Einheit vermittelnde Modus an erster Stelle (E. Husserl, Logische Untersuchungen, Bd. 2, 346).
Als zweiten Aspekt fasse ich die Bewusstheit, die Reflexivität ins Auge. Selbst-bewusst-sein impliziert mehr als bloße Bewusstheit, die man auch bei Tieren beobachten kann. Demgegenüber wird sie bei uns Menschen in der Helligkeit eines „Um-sich-wissens“ vollzogen. Um selbstbewusst zu sein, bedarf es stets eines Selbstanstoßes, eines Eigenimpulses, d.h. einer in Freiheit verbürgten Operationalität. Das lehrt auch die alltägliche Erfahrung. Im praktischen Leben mit seinen vielfältigen Aufgaben und Verrichtungen wie auch im theoretischen Wirken (Reden, Schreiben, Lesen, Wahrnehmen, Denken etc.) sind wir „bewusst am Werk“, d.h. intentional auf etwas gerichtet, ohne dabei stets ausdrücklich unserer selbst bewusst zu sein. Das Selbstbewusstsein befindet sich jedoch gleichsam im „Hintergrund“ und ist so eine Art „sphärisch begleitendes Mitwissen“, das wir aber aktiv aus der Reserve holen und explizit machen können.
Deswegen ist der Auffassung Ernst Tugendhats nicht zuzustimmen, der das Selbstbewusstsein und das „Zu-sich-selbst-Verhalten“ als zwei unterschiedliche Phänomenbereiche voneinander abgrenzt. Der Erstere, den er „epistemisches Selbstbewußtsein“ nennt, ist für ihn etwas unmittelbar Gegebenes, das man, wie er sagt, einfach hat. Ganz anders verhält es sich seiner Meinung nach bei dem anderen, „höherwertigen“ Phänomen, dessen Eigenart sich schon in der Wortbedeutung „Selbstbestimmung“ anzeigt. Aus seiner Sicht ist es erst in diesem Fall in unsere Hand gelegt, uns zu uns selbst zu verhalten und uns zu bestimmen (E. Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, Frankfurt a. M., 1979, 32 u. 28f.).
Aber dieser Unterscheidung muss aufgrund der Selbsterfahrung widersprochen werden, wofür ich wiederum bei Edmund Husserl Unterstützung finde. Dieser geht davon aus, dass wir in gewissen (psychischen) Akten (z.B. Wahrnehmen, Phantasieren, Denken etc.) sozusagen nur (bewusst!) leben, ohne dass vom Ich als Bezugspunkt der vollzogenen Akte etwas zu merken sei. Ichvorstellung mag in „Bereitschaft“ sein, sich mit besonderer Leichtigkeit hervorzudrängen oder zu vollziehen. Aber nur, wenn sie sich wirklich vollzieht und sich in eins mit den betreffenden Akten selbst setzt, beziehen „wir“ „uns“ darauf (E. Husserl, 376).
Es soll allerdings nicht verschwiegen werden, dass für Husserl die Ichvorstellung letztlich von zweitrangiger Bedeutung ist, da es ihm in erster Linie um eine „eidetische Phänomenologie “ der verschiedenen psychischen Akte zu tun ist. Zwar gibt er zu, dass in der Beschreibung die Beziehung auf das erlebende Ich nicht zu umgehen sei; aber das jeweilige Erlebnis selbst enthält die Ichvorstellung als Teilerlebnis nicht. Es wäre im Gegenteil ein Missverständnis der Vorgänge, wollte man die Beziehung auf das Ich als etwas zum wesentlichen Bestand der intentionalen Erlebnisse selbst Gehörendes ansprechen (E. Husserl, 377).
Zumeist verrichten wir unser praktisches wie theoretisches Tagewerk „bloß bewußt“. Aber gerade dies erfordert, dass wir das „zurückgezogene“, gleichsam auf der Lauer liegende Selbstbewusstsein immer wieder ins Spiel bringen und die uns üblicherweise bestimmenden bloßen Bewusstseinszustände in selbstbewusste Akte „umbilden“. Weder ist das Selbstbewusstsein als eine „bloße Gegebenheit“ zu betrachten, noch kann der Mensch über dieses Phänomen souverän verfügen. Aber noch etwas Wichtiges muss ins Auge gefasst werden, dass nämlich die Selbstreflexivität ihm zu seinem Selbstverständnis verhilft, d.h., dass der Mensch sich hermeneutisch „angehen“ kann, wie ich es in dieser Arbeit versuche.
Schließlich will ich mein Augenmerk auf den dritten Aspekt des Selbstbewusstseins, die Existenzialität, richten. Bei dieser handelt es sich nicht um eine psychologische Gegebenheit, sondern sie stellt eine originäre Seinsweise dar, die ein jeder unvertretbar selbst zu vollziehen hat. Dieser Aspekt unterstreicht den eigendynamischen Zug bzw. die Selbst-Operationalität im Selbstbewusstsein und verdeutlicht den Unterschied zu etwas bloß Gegebenem, das sich einfach feststellen ließe.
Wie erinnerlich geht dieser geistesgeschichtlich folgenschwere Umbruch im Verständnis der menschlichen Ontologie auf Kierkegaard zurück. Fortan steht an erster Stelle die Existenz, oder vielmehr das Wesen, die „Essentia“ des Menschen wird in seine Existenz einbezogen, so dass sie eine Einheit bilden. Dies ist nicht etwa nur eine spekulative Annahme, sondern die Erfahrung lehrt es. Das menschliche Sein qua Selbstbewusstsein bzw. „Geist“ kann gar nicht anders verstanden werden. Aufgrund dieser ursprünglichen Seins- und Wesensidentifikation im Menschen, die im „Selbstbewusstsein“ zutage tritt, verlieren die anthropologischen Konzepte ihre Vorrangstellung in der Auslegung des Menschseins.
Zusammengefasst bezeichne ich meine Anschauung vom Menschen als empirischen operationalen Personalismus. Es handelt sich bei diesen Aussagen nicht um objektivierbare Wesensbestimmungen des Menschseins, sondern sie besitzen lediglich Hinweischarakter bzw. stellen vom Einzelnen existenziell umzusetzende, eben operationale Verhaltensweisen dar.