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Inkarnation des menschlichen „Geistes“ und sein Verhältnis zur „Fremdexistenz“

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Dass ich die Inkarnation des menschlichen „Geistes“ und sein Verhältnis zur Fremdexistenz (Natur und Mitmensch) zusammen abhandle, ist im menschlichen Selbstbewusstsein begründet. Dieses kreist nicht lediglich um sich selbst, sondern sein Charakteristikum ist gerade jenes unaufhaltsame „Hinausgehen“ in die Welt: seine Beziehungen zur umgebenden Natur und zum Mitmenschen. In diesem Zusammenhang soll zuerst das „Geist“-(Um-)Welt-Verhältnis und danach die „Geist“-Mitmensch-Beziehung betrachtet werden.

Der „Geist“ ist nur, indem er sich vollbringt. Um sich aber vollbringen zu können, bedarf er des Menschen. Der Mensch ist die Verkörperung des „Geistes“, weil dieser sich in ihm verkörpert, in seinen Körper „eingelassen“ ist. Das meint der Begriff der Inkarnation. Man kann in diesem Zusammenhang aber auch von der Verleiblichung des „Geistes “ sprechen, weil neben dem „Fleischlichen“ oder Organischen auch das Psychische mit einzubeziehen ist. Den Leib verstehe ich als psychophysische, bisexuelle Gestalt. Wenn ich also von Leib spreche, meine ich den beseelten Leib, nicht einen bloß materiellen Körper.

Zur psychophysischen Organisation des Menschen gehört das evolutionäre tierische Erbe, zu dem auch die Zweigeschlechtlichkeit zählt. Dieses Erbe hat sich bei ihm jedoch erheblich verändert, eben menschlich differenziert. Von diesen evolutionären Neuerungen wird später zu berichten sein. Diese in der Tierheit verankerte, natürliche „Mitgift“ nimmt der menschliche „Geist“ als verleiblichter gewissermaßen in Besitz, wodurch er sich an die Welt bindet. Gleichnishaft kann man vom Leib als einem für den „Geist“ passenden, von ihm gewählten „Lebensgefäß“ oder „Verweltlichungsgehäuse“ sprechen. Die Gabe der Leiblichkeit schließt noch einen weiter weisenden geistigen Zweck in sich – den „Ausgriff“ in die Umwelt. Im Zuge dieses Vorgangs wird der Leib zu einer Art „Vehikel “, einem „Gefährt“, mittels dessen sich der „Geist“ gleichsam in der Welt bewegen kann.

Wissenschaft, Technik und Kunst sind die Sphären, in denen der menschliche „Geist“ aktiv wird, im Sinne einer Kultivierung oder wie man auch sagen könnte: „Vermenschlichung “ der Welt. Die Wissenschaft verhilft dem Menschen, die umgebende Welt sozusagen theoretisch in den Griff zu bekommen, d.h. sie in ihrer Andersartigkeit zu erforschen, zu begreifen und zu erklären. Diese in die Welt eindringenden Forschungen ermöglichen es ihm in einem weiteren Schritt, sich ihrer zu bemächtigen und aus dem untersuchten, weltlichen Material Geräte und Werkzeuge zu fabrizieren – in erster Linie für seine vitalen Belange, sein Überleben. Es handelt sich bei ihnen um zweckdienliche Artefakte, die der Mensch im Zuge einer voranschreitenden Technik erfindet, verfeinert und perfektioniert. Allein mit diesen technologischen Manipulationen vermag er sich offenbar nicht zufrieden zu geben. Angestoßen von seiner Geistigkeit wächst in ihm das Bestreben, über die Technik hinauszugehen, um die fremde Welt menschlicher zu gestalten.

Auf diese Art erklimmt er sozusagen die dritte Stufe der „Vermenschlichung der Welt“ und schafft (sich) die Kunst. Ihr will ich mich in mehreren Schritten zu nähern versuchen. Den Naturschönheiten als positive „Weltangebote“ verdankt der Mensch nicht nur wohltuende Eindrücke, sondern er bedient sich ihrer auch als Vorlagen bei seinem künstlerischen Tun. Darin verwandeln sie sich in eigene Gebilde, Neuschöpfungen, eben zu Kunstwerken, durch die der Mensch der weithin belastenden Weltverhaftung zu entgehen und die Welt künstlerisch „vertrauter“ zu gestalten versucht.

Ebenso wie die Naturschönheiten selbst, vermögen die ihnen nachempfundenen Kunstwerke unser Gemüt zu ergreifen und in uns Verwunderung und Freude zu wecken. Es ist möglich, in einem solchen Genuss den entscheidenden Wert der Kunst zu sehen, wie das eine „L’art pour l’art“-Ästhetik tut. Das Kunstwerk erschöpft sich jedoch weder in einem subjektiven ästhetischen Erlebnis noch in kunstgeschichtlichen Betrachtungsweisen. Es birgt offenbar geheimnisvollere Tiefen in sich.

Um bezüglich dieser Tiefensicht mehr Klarheit zu gewinnen, wende ich mich ganz konkret dem Kunstwerk selbst zu. Wenn wir monumentale Bauwerke betreten, uns beeindruckenden Skulpturen oder großartigen Gemälden stellen, uns in bedeutende Dichtungen vertiefen oder uns erhabene Musikschöpfungen anhören, eröffnen sich uns „Dimensionen “, deren wir in einem umfassenden Verstehen inne werden – einem Verstehen, das uns aber keineswegs in metaphysische „Abseitigkeiten“ führt, sondern uns tiefe, wenn auch unsagbare Erfahrungen zuteil werden lässt. Ich berufe mich in diesem Zusammenhang auf Hans-Georg Gadamer, der von der „Erfahrung der Kunst“ (Wahrheit und Methode, 12ff.), im Sinne des Genitivus subjectivus, spricht. Die Kunst ermöglicht uns eine Erfahrung, die sowohl den subjektiv-ästhetischen als auch den kunsthistorischen Genuss überbietet bzw. einen ganz anderen Zugang eröffnet. Es entspricht wahrer ästhetischer Erfahrung, dass wir bei jeder neuerlichen Begegnung mit einem Kunstwerk zu einem Verstehen kommen, das uns in seltsamer Weise immer sicherer in jene kaum greifbaren, „unsichtbaren Tiefen“ hineinführt, ohne uns indes zu sicherem Wissen zu verhelfen: Die im intensiven Kontakt mit den im Kunstwerk berührten „Tiefen“ können nicht in einen bleibenden, Ruhe verleihenden Besitzstand überführt werden, sondern wir können sie nur immer in neuen Anläufen – geistig – zu erfahren versuchen.

Im Folgenden wende ich mich dem Verhältnis des menschlichen „Geistes“ zum Mitmenschen, zur Fremdexistenz zu. Unter der menschlichen Fremdexistenz verstehe ich in erster Linie die „Geistigkeit“ des Anderen. Weil der „Geist“ vom Austausch der „Geister“ lebt, erfahren, bewähren und vertiefen wir unsere „Geistigkeit“ im Kontakt mit Anderen. Der Geist ist insofern als ein Phänomen der Interpersonalität aufzufassen. Der Andere als ein vom „Geist“ getragenes und bestimmtes Subjekt verdient als solches Respekt und anerkennende Würdigung. In diesem Zusammenhang kommen zwei andere Facetten der Beziehung zum Mitmenschen ins Spiel, die ich ansprechen möchte: der Identitätsgedanke und der ethische Aspekt. Der Mensch muss, um seiner selbst willen, zum Anderen in Beziehung treten: Nur so erprobt er sich und kann (zu) sich selbst finden, also ein Identitätsbewusstsein ausprägen. Bei der Selbst- oder Identitätsfindung handelt es sich um ein allmählich sich vertiefendes und letztlich unabschließbares intersubjektives Geschehen, das als solches in der (frühen) Kindheit beginnt und bis zum Tod andauert.

Das zwischenmenschliche Verhältnis hat immer auch eine ethische Dimension. Ich habe in diesem Zusammenhang den Begriff „Ophelismus“ geprägt, der seine Wurzeln im griechischen Wort für „Hilfe, Nutzen“ hat. Er soll besonders gegen den Ich-lastigen Terminus des „Utilitarismus“ zum Ausdruck bringen, dass wir das ganze Leben hindurch dem Anderen ständiger Hilfeleistungen schuldig sind. Diese Hilfsdienste dürfen jedoch nicht zu gleichgültigen Handlungen werden, sich nicht zur seelenlosen Routine entfremden. Es geht nicht um gelegentliche, willkürliche Aktionen, sondern um stets wieder erneuerte, „unaufhörliche“ Einsätze, die die Mitmenschlichkeit ausmachen und konsolidieren.

Das von mir anvisierte ethische Verhältnis schließt auch die „Gabe“ bzw. das „Opfer“ mit ein: Opfer verstanden als (Hin-)Gabe, als Schenkung von Eigenem zugunsten eines anderen Menschen, in der Dimension eines nicht allzu leicht verkraftbaren Verlustes. Eine solche Gabe bezieht sich nicht nur auf Dinge, sondern soll viel eher im Sinne eines Sich-berührbar-Zeigens aufgefasst werden, einer Zuwendung, die mit schmerzhaften Erfahrungen verbunden sein kann. Ein solches Engagement geht über ein bloßes Mitleiden hinaus, ohne in die totale Selbstlosigkeit eines übersteigerten Altruismus zu münden. Vielmehr ruft es gerade das selbstbewusste „Ich“ auf den Plan: das sich hingebende und in der Hingabe behauptende Selbst. Mitmenschlichkeit verstehe ich als Herausforderung an das menschliche Selbstbewusstsein und in letzter Konsequenz auch als eine Möglichkeit der geistigen Bewährung.

In Bezug auf die konkrete Erfahrung des Mitmenschen unterscheide ich drei sich ergänzende Zugangsweisen: (1) die durch die visuelle Erfassung leiblicher Gestalt-Ähnlichkeit, mithin also durch morphologische Aspekte der Gestalt charakterisierte Erfahrung, (2) das non-verbale Ausdrucksgeschehen, das Deuten von Gestik und Mimik sowie (3) die verbale Kommunikation als der wichtigste Weg zum Anderen. Im Sinne von (3) fasse ich die Sprache als Mittel der begegnenden Kommunikation zwischen Menschen und den Dialog bzw. das Gespräch als die konkreten, Erfahrung ermöglichenden Kommunikationsformen.

In einem Dialog verwenden wir Wörter und Sätze, die einer syntaktischen Ordnung folgen und zugleich Bedeutungen aufweisen, die von einem sprachlichen Verstehen zu erfassen sind. Aber diese linguistische Syntax und Semantik des „Sprachspiels“ wird getragen und umgriffen von einer tieferen, existenziellen Hermeneutik, die die miteinander redenden „Geister“ als die eigentlichen Initiatoren und Wortführer erweist. Nur im Dialog erfahren wir (etwas) vom Anderen als fremder Existenz – unter der Voraussetzung, dass die Eigenständigkeit der Beteiligten als selbstbewusste Geister gewahrt bleibt. Neben der Liebe ist die Freundschaft das hervorragende Beispiel für ein personales Verhältnis unter Wahrung der Eigenständigkeit der Partner. Auch und gerade weil die Freundschaft in Gesprächen entsteht, sich stabilisiert und immer wieder neu vertieft, kann es das kostbare Gut freundschaftlichen Vertrauens geben. „Denn über alles Glück geht doch der Freund, der’s fühlend erst erschafft, der’s teilend mehrt“, heißt es in Schillers Wallenstein.

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