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Kapitel 8
ОглавлениеÄchzend und mit einem trockenen Gefühl im Mund richtete sich Cyrus in seinem Sitz auf und blickte durch ein kleines wie ein Bullauge geformtes Fenster. Durch vereinzelte, rot leuchtende Wolken konnte er hin und wieder einen Blick auf das Meer erhaschen. Träge kehrte seine Erinnerung zurück.
Überraschender Weise saß er in einem Flugboot der Navy. Ziel Southampton. Die Motoren dröhnten und verursachten in den Ohren einen unangenehmen Druck. In mehreren Sitzreihen hintereinander sah er Männer und Frauen in amerikanischen und englischen Uniformen, die entweder lasen, schliefen oder einfach nur dösten. Der Platz neben ihm war frei.
Ein Steward in einer graublauen Uniform kam den Mittelgang hinauf auf ihn zu. Vor Cyrus blieb er stehen und beugte sich grinsend zu ihm hinunter.
„Wieder zuhause, Sir?“
Cyrus setzte sich gerade hin. Hals und Nacken schmerzten. Irritiert schaute er den Steward an und versuchte seine Gedanken zu ordnen, um eine vernünftige Frage zu formulieren. Seine Zunge klebte am Gaumen.
„Ist dies der Naval-Flug 33 ... 3317?“
„Ja, Sir, Sie sind richtig hier. Sind kurz nach dem Start eingenickt und haben bis jetzt geschlafen. Das ist rekordverdächtig. Sind fast 16 Stunden. In gut zwei Stunden landen wir in Southhampton. Ich glaube, ich bringe Ihnen mal einen starken Kaffee, Sir.“
Cyrus ließ erschöpft seinen Kopf zurückfallen. „Das wäre nett!“
Der Steward verschwand und Cyrus versuchte sich auszustrecken. Seine Glieder schmerzten, als hätte er mit Joe Louis drei Runden im Ring verbracht.
Der Steward kehrte mit einer dampfenden Tasse Kaffee zurück. Er musste sich festhalten, denn das Flugboot flog durch bewegte Wolkenschichten und rüttelte den schweren Rumpf dabei kräftig durch.
„Das hört gleich wieder auf, Sir! Keine Angst. Wir gehen nur langsam tiefer. Dabei müssen wir einige Wolkenschichten durchstoßen.“
Cyrus nahm die Tasse dankbar entgegen und rang sich ein Lächeln ab. Er bedankte sich beim Steward und blickte wieder zum Fenster hinaus. Im dämmrigen Abendlicht konnte er einzelne weiße Schaumkronen auf dem Wasser unter sich erkennen. Cyrus legte seinen Kopf zurück und starrte an die Decke, während er an der Tasse nippte. Noch zwei Stunden bis zur Landung.
Als das Flugboot endlich im Hafen von Southhampton landete, war die Sonne bereits untergegangen. Cyrus spürte einen heftigen Ruck, als der Rumpf der Boeing 314 auf dem Wasser aufsetzte. Er drückte seine Nase an die Scheibe und versuchte durch das Fenster etwas von der Stadt am Solent zu erkennen. Aber anders als in Amerika waren hier Verdunklungsvorschriften in Kraft. Er sah nichts außer den dunklen Schemen einiger Schiffe, die im Widerschein roten Lichts beladen wurden. Denn Southhampton war, wie die meisten Häfen an der südenglischen Küste, Ausgangshafen für die Invasion. Obwohl diese schon ein paar Wochen in Gange war, wurde hier täglich Nachschub nach Frankreich verschifft. Die Materiallawine rollte unaufhaltsam über den Kanal und brandete an der französischen Küste.
Die Boing hatte zwei ihrer vier Motoren abgestellt und fuhr zwischen den riesigen Leibern der Landungsschiffe, Frachter, Zerstörer und Landungsboote hindurch bis zur Anlegestelle. Als sie festgemacht hatten, verließ Cyrus mit den anderen Passagieren das Flugboot, betrat den Steg, nahm seine Reisetasche entgegen und ging schnellen Schrittes zum Kai. Dort warteten bereits die Fahrer verschiedener Militär-PKW, um ranghohe Offiziere abzuholen. Ein Mann trat ihm aus dem Durcheinander der Menschen und Koffer entgegen und rief seinen Namen. „Mr. Franko?“
Vor Cyrus baute sich ein Hüne in einer abgetragenen grünen Tweedjacke auf. Auf dem Kopf klebte eine schmutzig braune Schlägermütze, unter der militärisch kurz geschnittene blonde Haare zu sehen waren. Das Gesicht, soviel Cyrus in der Dunkelheit erkennen konnte, war kantig, mit einem imposanten Kinn und ausgeprägten Backenknochen. Weiter trug er eine braune Hose mit Hochwasser und übergroße ausgetretene Straßenschuhe. Insgesamt hatte der Mann etwas von einem Londoner Dockarbeiter.
„Sind Sie Mr. Franko? Man hat mir gesagt, dass ich Sie hier abholen und nach Carisbrooke Castle bringen soll.“
Tatsächlich sprach der Hüne mit einer tiefen Bassstimme ein nur mühsam unterdrücktes Cockney. Cyrus musterte ihn eingehend: „Das bin ich. Könnten Sie mir bitte diese verdammte Tasche abnehmen?“
„Klar Meister! Randolph Spoke, mein Name!“
Spoke nahm die Tasche, drehte sich um und marschierte in die Dunkelheit. Cyrus musste sich beeilen, ihm zu folgen. Der langbeinige Kerl lief den dunklen Kai entlang bis zu einer Einlassung, von der eine Treppe hinunter zum Wasser führte. Im blauschwarz glitzernden Wasser lag ein öliges, verrostetes Fischerboot. Spoke sprang hinein, Cyrus folgte ihm und suchte sich ein vermeintlich sauberes Plätzchen, während Spoke die Leinen los warf und den Motor startete.
Glucksend und spuckend nahm der Kutter Fahrt auf und Spoke schaukelte den rostigen Kahn bedächtig durch die verstreut ankernden Schiffe.
Bald hatten sie den Hafen verlassen und fuhren unter ohrenbetäubendem Rattern auf den Solent hinaus. Ein halbe Stunde brauchten sie, um die Meeresenge zwischen dem Festland und der Isle of Wight zu erreichen. Dort begann die starke Dünung das Schiff heftig zu schütteln. Wenig vertrauenerweckend warf es sich von einer Seite auf die andere.
„In einer Viertelstunde sind wir in Cowes, Meister!“
Cyrus versuchte durch die Dunkelheit hindurch zu spähen und erkannte vor sich eine dunkle Küstenlinie, bei der es sich wohl um die Isle of Wight handeln musste.
„Alles klar, Meister?“, rief Spoke gut gelaunt.
„Alles klar!“, anwortete Cyrus und hielt sich an der Bordwand fest.
Auf der Insel angekommen, packte Spoke Cyrus in ein klappriges Motorrad mit verrostetem Beiwagen und jagte anschließend durch die hüglige, nächtliche Landschaft der Insel. Mit verdunkeltem Scheinwerfer und in halsbrecherischen Tempo passierten sie schließlich das schlafende Newport und bogen in einen Schotterweg ein, der an viktorianischen Villen hinauf nach Carisbrooke Castle führte.
Als der Mond für einen Moment durch die Wolken brach, erkannte Cyrus von Rasen überzogene Wälle, die die gesamte Anlage umschlossen. Innerhalb der Wälle folgte ein mittelalterlicher Mauerring, in dessen Mitte die Zinnen eines Burgfrieds düster in den Nachthimmel stießen. Carisbrooke Castle war allem Anschein nach kaum mehr als eine Ruine.
Spoke reduzierte das Tempo und lenkte das Motorrad über eine schmale Brücke, die einen dunklen Graben überspannte. Vor einem mit Schlagbaum versehenen Burgtor stoppte er und sprang elegant vom Motorrad.
„Warten Sie eben, Meister!“
Cyrus sah, wie er mit einem Wachsoldaten ein paar Worte wechselte. Dann kehrte er zurück und gemeinsam fuhren sie durch das enge Torhaus in den Hof der Burg. Spoke stellte das Motorrad ab und half Cyrus, sich aus dem Beiwagen zu schälen. Aus dem Stauraum zerrte er anschließend Cyrus' Reisetasche hervor und reichte sie ihm.
Mit einer lässigen Handbewegung deutete Spoke auf ein kleines Haus direkt neben dem Tor. „Da is' die Wachstube! Geh'n Se da mal rein und warten. Wird gleich einer kommen.“
Cyrus nickte und zog seinen Anzug glatt. Sich auf dem Hof umschauend ging er hinüber zur Wachstube, öffnete die Tür und erschrak. Hinter einer langen Theke stand ein Mann mittleren Alters in einer deutschen Offiziersuniform. Cyrus hielt noch die Türklinke in der Hand, als der Mann ihn auf Deutsch aber dennoch mit unüberhörbarem britischen Akzent ansprach: „Machen Sie bitte die Tür zu, Herr Franko! Die Verdunklungsvorschriften, Sie verstehen.“
Cyrus schloss irritiert die Tür und trat ein. Neugierig blickte er sich um. Hier war alles deutsch! Ein Bild von Adolf Hitler, daneben Nazi-Plakate die vor feindlichen Agenten warnten. Über die gesamte obere Hälfte der rechten Stirnseite zog sich ein großes Spruchband: Mit dem Führer bis zum Endsieg. Auf der Theke ein Volksempfänger, aus dem leise eine deutsche Sängerin trällerte. Der „deutsche“ Wachoffizier setzte ein schiefes Lächeln auf und winkte Cyrus zu sich heran. An einem Schreibtisch hockte noch ein zweiter deutscher Soldat. Ein Formular lag vor Cyrus auf der Theke und der Offizier tippte mit dem Finger darauf. „Ordnung muss sein! Herr Franko. Würden Sie sich bitte eintragen.“
Das Formular war auf englisch. Hier geht einiges durcheinander, dachte Cyrus, der seinen Schrecken herunter geschluckt hatte. Schnell trug er Namen, Einheit und Dienstgrad ein. Kopfschüttelnd schob er es über die Theke.
„Danke, Herr Franko! Oberst Scrubbs wird Sie gleich abholen. Sie können dort auf dem Stuhl Platz nehmen.“
Cyrus wurde es nun zu bunt. Oberst Scrubbs. Deutsche Uniformen, englische Formulare. So ein Blödsinn. „OK, Gentlemen. Sie können mit dem Theater aufhören. Ich weiß, das ich hier zum Deutschen gemacht werden soll aber ...“
„Dienstanweisung! Hier wird Deutsch gesprochen und englisch gedacht. Oberst Scrubbs wird Sie einweisen. Nehmen Sie bitte Platz, mein Herr ...“, antwortete sein Gegenüber mit ernsthafter Stimme und setzte sich wieder an seinen Schreibtisch. Gleich darauf begann die Schreibmaschine zu rattern. Es war wirklich sehr deutsch hier.
Cyrus wartete etwa eine halbe Stunde und lauschte dabei den deutschen Nachrichten, die aus dem Radio Erfolgsmeldungen im Kampf gegen die anrückenden Alliierten in Frankreich hervorsprudelten. Schließlich wurde die Tür geöffnet und der Offizier hinter der Theke sprang auf und nahm Haltung an.
Cyrus blickte überrascht zur Tür. Dort stand ein deutscher Oberst, der lässig seine Hand zum Hitlergruß hob und müde „Weitermachen“ murmelte. Er trat auf Cyrus zu und begrüßte ihn auf deutsch. „Hallo, Herr Franko! Ich hoffe, Sie hatten einen angenehmen Flug. Ich muss mich entschuldigen. Aber heute Abend hat es im Reich einige interessante Entwicklungen gegeben, die wir am Radio mitverfolgen konnten! Hochinteressant. Kommen Sie!“
Der Oberst führte Cyrus über den Burghof in das Hauptgebäude, den Palas der Burg. Da dieser fast vollständig mit Efeu bewachsen war, hatte es in der Dunkelheit Ähnlichkeit mit einer Kulisse aus einem Dracula-Film. Jeden Moment erwartete Cyrus, dass ihm Bela Lugosi mit seinem Fledermaus-Cape entgegen flatterte.
Sie traten in die Empfangshalle, die bis auf einen großen Kamin, der den ganzen Raum durch seine wuchtige Größe beherrschte, leer war. Über dem Kamin hing eine Hakenkreuzflagge. Cyrus kratzte amüsiert sein Kinn. „Finden Sie das alles hier nicht ein wenig ... wie war noch gleich das richtige deutsche Wort? Overacted ... über ...“
„... trieben?!“ ergänzte der Oberst, ohne sich umzudrehen. Zackig stiefelte er Cyrus voran eine breite knarzende Holztreppe hinauf. „Nein ... Herr Franko, nicht im Geringsten. Wie Sie vielleicht selbst bemerken, fehlt Ihnen ein wenig Training, was Wortschatz und Aussprache anbetrifft. Und wir haben nur wenig Zeit, um Sie auf Ihren Auftrag vorzubereiten.“
Sie erreichten einen langen Flur an dessen Ende Oberst Scrubbs eine kleine Eichenpforte öffnete und grinsend beiseite trat. „Ihre Stube!“
Cyrus trat mit einem Seitenblick auf den Oberst ein. Die Stube war spartanisch eingerichtet. An der Wand standen vier graue Metallkleiderschränke und zwei ebenfalls metallene Etagenbetten, auf denen grobe braune Decken mit der Aufschrift „Wehrmacht“ lagen. In der Mitte des Zimmers ein einfacher Tisch mit vier Holzstühlen, auf dem einige Illustrierte und Zeitungen aus Deutschland lagen. An der Wand hing ein Kalender mit Alpenmotiven. Sonst gab es nicht viel. Das ganze Mobiliar versprühte den Charme eines preußischen Kasernenhofes. Cyrus vernahm die schnarrende Stimme des Oberst.
„Ihre Legende in Deutschland wird Soldat auf Urlaub sein. Suchen Sie sich ein Bett aus. Sie sind alleine hier untergebracht. Im rechten Spint finden Sie eine komplette Uniform der Wehrmacht. Infanterieregiment 45. Obergefreiter Müller. Ab morgen früh werden Sie sich verhalten wie ein deutscher Obergefreiter. Wecken ist um sechs. Antreten um sieben auf dem Burghof. Gute Nacht, Obergefreiter Müller.“
Scrubbs schloss die Tür. Cyrus schaute auf den Spint und die Betten. Unmerklich schüttelte er den Kopf. Er hatte von vielen seltsamen Einrichtungen des SOE, OSS, COI, SSI und wie sie alle hießen, gehört. Dies hier aber war mit Abständen die Sonderbarste.
„Ich hoffe Sie haben gut geschlafen, Obergefreiter Müller!“ Oberst Scrubbs grinste von Ohrläppchen zu Ohrläppchen. „Albert Müller, um genau zu sein! Hier ist Ihre Legende! Lernen Sie sie auswendig!“
Der Oberst saß hinter einem breiten Schreibtisch, griff in eine Schublade, zog eine rote Mappe hervor und warf sie Cyrus über den Tisch zu. Über Scrubbs Kopf hing ein mittelgroßes Hitler-Portrait. Der Führer blickte starr nach links, die Hände als Fäuste in die Seiten gestemmt. Cyrus unterdrückte ein Gähnen.
Gegen sechs, nach etwa vier Stunden Schlaf, war er von einem deutschen Unteroffizier geweckt worden. Frühstück mit zehn anderen Männern in deutschen Uniformen. Schwarzbrot, Magarine, Blutwurst. Eine dünne Tasse Kaffee dazu. „Muckefuck“, wie ihm ein gelangweilter Koch erklärt hatte. Die Männer unterhielten sich auf Deutsch. Im Innenhof von Carisbrooke-Castle traten sie unter gebrüllten deutschen Kommandos an. Anschließend wurde er zum Rapport in Scrubbs Büro geschickt.
„Die Zeitverschiebung macht mir etwas zu schaffen“, antwortete Cyrus kurz und sah den Major an, dessen Blick über Cyrus deutsche Uniformjacke huschte. „Machen Sie bitte alle Knöpfe zu“, herrschte der Oberst, „wir sind hier nicht bei den Inselaffen.“ Cyrus seufzte und tat wie ihm geheißen.
„Könnten Sie mir jetzt bitte erklären, was das alles hier soll?“
„Ja sicher, Herr Obergefreiter!“, antwortete Scrubbs, stand aus seinem quietschenden Bürostuhl auf, kam um den Tisch und setzte sich auf dessen Kante. Er legte die Hände lässig in den Schoß und Cyrus blickte in zwei schwarze Augen, die fast an der Nasenwurzel zusammenstießen. Dann begann er fließend auf deutsch mit leichtem englischen Akzent zu erzählen: „Vor ein paar Wochen waren wir hier noch eine ganz normale ALSOS-Dienststelle. Haben Wissenschaftler für die ALSOS-2-Mission ausgebildet. Physiker, Chemiker, Mathematiker usw. Das sind die Kerle, die hinter unseren Truppen in Frankreich nach abgetauchten Naziwissenschaftlern, -Anlagen, -Geräten und -Akten ihrer Atomforschung fahnden sollen. Eine hochspezialisierte Kehrmaschine also. Es gibt noch zwei weitere ALSOS-Missionen: 1 steht für Italien, 3 für Deutschland. Wir hier in Carisbrooke waren als erste fertig mit unseren Wissenschaftlern. Also haben wir in den letzten zwei Wochen ein wenig umgebaut, als wir den Befehl bekamen, einen Agenten auszubilden, der im Herzen Deutschlands abgesetzt werden soll. Das ist, ehrlich gesagt, eine etwas knifflige Angelegenheit, Herr Obergefreiter. Bis jetzt gab es keine Einsätze von alliierten Agenten im Reich. Jedenfalls keine, von denen ich wüsste.“ Scrubbs ließ seine Daumen in der gefalteten Hand umeinander kreisen. „... und ich halte es nach wie vor für Wahnsinn, jemanden nach Deutschland, ins Herz der Finsternis zu schicken. Die Gründe dürften Ihnen wie mir klar sein. Es gibt keine uns bekannte Widerstandsorganisation, die mit Erfolg gegen die Nazis operiert. Das bedeutet: keine Anlaufpunkte, keine Ruheräume, kein Nachschub für defektes Gerät, keine Informanten, keine Hilfe im Notfall, nichts. Stattdessen fanatisierte Nazis, die praktisch überall hocken können. In Geschäften, auf Straßen, in Bussen, Zügen, Bauernhöfen. In Gestalt von Kindern, Greisen, Frauen, Priestern, Arbeitern, Krankenschwestern, Zeitungsverkäufern. Die einzige Gruppe, von denen wir glauben, dass sie sich uns gegenüber loyal verhalten, sind die sogenannten Hilfswilligen. Verschleppte Männer und Frauen aus ganz Europa. Die Deutschen nennen sie Beutegermanen. Diese Leute agieren zunehmend selbstständiger und sind häufig nicht unter Aufsicht. Den Nazis fehlen die Aufpasser. Teilweise bewirtschaften die Zwangshilfswilligen ganze Höfe und Kleinbetriebe mit nur minimaler Aufsicht.
Wir allerdings gehen davon aus, dass sie nicht organisiert sind. Aber sicher sind wir uns da auch nicht. Wir haben einfach keinen Kontakt zu ihnen. In den letzten Jahren ist nicht viel aus dem Reich nach außen gedrungen. Was wir wissen, haben uns Flüchtlinge erzählt, und außerdem gibt es da noch ein recht effektives Programm, Kriegsgefangene zur Mitarbeit zu bewegen. Das sind im Großen und Ganzen unsere Quellen, aus denen wir aktuelle Informationen zur Situation im Reich beziehen. Die Männer, mit denen Sie heute morgen angetreten sind, sind übrigens übergelaufene Kriegsgefangene.“
Cyrus hob überrascht die Augenbrauen, während Scrubbs ihn breit angrinste.
„Keine Angst. Diese Leute bleiben hier, bis Ihr Auftrag abgeschlossen ist. Wenn Sie nicht wieder auftauchen, bleiben sie bis Kriegsende hier. Die werden nichts durchsickern lassen. Dafür werden wir sorgen. Aber Sie werden die nächsten Wochen mit ihnen zusammen sein. Unterhalten Sie sich. Machen Sie Small-Talk, entschuldigen Sie ... tratschen Sie. Quetschen Sie sie über das Leben in Deutschland aus. Was sie gearbeitet haben, wie sie so leben. Reden Sie über Frauen, Essen, Kino, Krieg und Katastrophen.“
„Ich bin nicht gerade dafür bekannt, viel mit Leuten ins Gespräch zu kommen“, unterbrach ihn Cyrus.
„Ich glaube Sie sollten sich schnell darüber klar werden, dass Sie nicht mehr mit den Maquis in französischen Wäldern herum robben und Züge in die Luft jagen. Ihre neue Aufgabe ist wesentlich subtiler.“
„Ich habe mich nicht um den Job gerissen. Wenn Sie glauben, ich sei der falsche Mann, bitte. Schreiben sie Ihren Bericht, ich bestätige alles und fahre nach Hause“, erwiderte Cyrus.
„Regen Sie sich nicht auf, Obergefreiter Müller. Ich denke keinesfalls, das Sie der falsche Mann sind. Sie haben Nerven, kennen sich mit verdeckter Kriegsführung aus. Aber das hier ist eben etwas Neues. Für Sie und für mich. Wir werden noch eine ganze Menge arbeiten müssen, damit Sie als waschechter Deutscher durchgehen.“
„Bis jetzt bin ich ganz gut zurecht gekommen.“
„Oh, das bezweifelt niemand. Sie stehen im Ruf, recht still und unerkannt zu agieren. Im Rahmen Ihrer bisherigen Sabotage-Tätigkeit in Frankreich wurde das ja auch gefordert. Aber Sie gehen nicht nach Frankreich, sondern in das Auge des Sturms. Sie müssen lernen, mit Personen in Kontakt zu treten, die Sie nicht kennen. Sie müssen Menschen aushorchen, manipulieren, reisen, leben und sich bei all dem nicht erwischen lassen.“
Cyrus wandte seinen Kopf zur Seite und blickte durch ein großes Fenster auf den Innenhof. Dort sah er die zehn deutschen Kriegsgefangenen exerzieren.
„Was sind das für Burschen, mit denen ich mich anfreunden soll?“
„Sehen Sie sie als Trainingspuppen. Alle sind Hand verlesen. Vier sind angeblich Sozialdemokraten. Zwei Deserteure, die es bis zu unseren Reihen geschafft haben. Drei sind Kölner Katholiken, die wir während unseres Vormarsches aus einem deutschen Militärgefängnis in Caen befreit haben, wo sie auf ihre Hinrichtung wegen Wehrkraftzersetzung warteten. Wenn wir hier mit Ihrer Ausbildung fertig sind, werden wir die Tore von Carisbrooke-Castle hinter ihnen zu sperren und erst wieder öffnen, wenn Sie von außen anklopfen. Es kann nichts passieren. Sehen sie diese hübsche kleine Burg als eine deutsche Kaserne an. Als einen Mikrokosmos.“
Scrubbs breitete kurz begeistert seine Arme aus. Dann ließ er seine Hände wieder in den Schoß fallen.
„Darüber hinaus werden Sie noch einige Kurse besuchen.“
„Ich bin schon militärisch ausgebildet, wenn sie Sprengstoff, Funk, Fallschirm oder ähnliches meinen.“
„Ja, ja! Wissen wir. Aber hier haben wir noch einige Zusatzkurse. Deutschunterricht zum Beispiel, Aussprache. Wie Sie an meinem Akzent hören, ist es nicht einfach, ihn loszuwerden. Dann Schreibunterricht. Die Deutschen haben vier Schreibschriften. Können Sie eigentlich dieses Sütterlin lesen?“
„Nein!“
„Sehen Sie! Und wie sieht's mit gebrochenen Schriften aus?“
„Ja!“
„Na, immerhin. Ein Lehrgang weniger. Wir bringen Ihnen Deutschland im Schnellkurs bei. So eine Art Landeskunde. Alles, was Sie wissen müssen, um für ein paar Monate nicht aufzufallen. Wissen Sie zum Beispiel, was ein Churchill-Pimmel ist ... oder wo der Wahrtegau liegt ... oder was d. u. heißt? Oder wie man einen Wagen mit Kohlegasantrieb in Gang setzt?“
„Nein! Bis auf Letzteres“, antwortete Cyrus.
„Deshalb sind sie hier. Es wird Ihnen Spaß machen: Automobilkunde, deutsche Autos, LKW's, Motorräder. Fußball, Arbeitsleben, Geografie, Nazi-Organisationen, Bürokratie, Klatsch und Tratsch. ... Wir werden Ihnen sogar Witze erzählen. Haben Sie schon mal einen Mann gesehen, der einen Witz nicht versteht? An der falschen Stelle lacht oder gar nicht? Man merkt instinktiv, dass er nicht dazu gehört, wenn er nicht richtig reagiert. Sie kennen sicher keine deutschen Witze über Goebbels, Hitler, Göring, was? Sollen wir es mal testen?“
Scrubbs hatte sich leicht vorgebeugt und Cyrus sah in tiefliegende schelmische Augen:
„Wissen Sie was Edda heißt? Na? ... Ewig Dank dem Adjudanten“
Cyrus schaute Scrubbs mit leerem Gesichtsausdruck an. Er wartete irgendwie, dass der Witz weiterging. Aber Scrubbs blieb still und grinste ihn an.
„War's das?“, fragte Cyrus ungläubig.
„Ja! Das war's! Nicht verstanden?“
„Nein!“
„Bei den Deutschen tuschelt man seit geraumer Zeit, dass Göring nicht der wirkliche Vater seiner Tochter Edda ist und der Name des Mädchens daher eine tiefere Bedeutung hat!“
„Witzig!“, sagte Cyrus gelangweilt. Scrubbs erhob sich vom Schreibtisch und ging mit seinen blankgewichsten Schaftstiefeln und seiner wie Cyrus fand, etwas zu engen Uniform zu einem kleinen Teewagen. Dort goss er sich einen Kaffee ein.
„Machen Sie sich eines klar Herr Obergefreiter. Sie kommen in ein Land, das die letzten Jahre für uns ein schwarzes Vakuum war. Wir können wenig genug tun, um Ihnen eine halbwegs sichere Mission zu garantieren. Wenn Sie mich fragen, ich würde nicht da rein wollen. Die meisten Dinge, die Sie hier lernen, werden Sie wahrscheinlich nie gebrauchen. Aber die Informationen, die Sie hier erhalten, könnten Ihnen vielleicht das Leben retten. Wer weiß. Ihre Chancen, da lebend rein und wieder raus zu kommen, sind ohnehin nur so groß wie die eines Schneeballs im Backofen. Aber was immer Sie da drüben auch machen sollen, es scheint wichtig zu sein. Ich möchte, dass dieser Krieg Weihnachten beendet ist. Dann wird mein Sohn zehn und das möchte ich mit ihm zusammen in den Staaten feiern. Also, nehmen Sie unsere kleine Kulissenwelt hier ernst und lernen sie!“
„Jawoll!“, brüllte Cyrus und saltuierte, während er die Hacken zusammenschlug.
Scrubbs grinste. „Noch etwas. Es hat gestern Nachmittag in Deutschland einen Anschlag auf den Führer gegeben. Eine Bombe. Hat den Schreihals nicht erledigt. Das ist schade. Hätte den Krieg erheblich verkürzen können.“
„Vielleicht eine Lüge?“
„Kaum. Der Führer hat sich um Mitternacht mit einer Rundfunkansprach zurückgemeldet. Quicklebendig. Er geiferte von einer Clique gewissenloser Offiziere, die den Stab der Wehrmachtsführung ausrotten wollten. Was da genau los war, werden wir wohl erst nach dem Krieg erfahren.“
Damit drehte sich der Oberst um und schlenderte zum Kaffeewagen.
*
Trotz, oder vielleicht gerade wegen der Erklärungen von Scrubbs fühlte sich Cyrus in Carisbrooke unwohl. Das lag vielleicht an den ständig präsenten deutschen Uniformen, denen er auf Schritt und Tritt begegnete. Sie machten ihn nervös. Dennoch fügte er sich in den Tagesablauf und begann in den unterschiedlichsten Kursen sein Überleben im Reich zu üben.
Der Tag begann mit gemeinsamen Antreten und dem Verlesen der wichtigsten Frontnachrichten, so wie Scrubbs und seine Leute sie aus den deutschen Nachrichtensendungen heraus gefiltert hatten. Dann folgten verschiedene Dienste wie Wache, Küche, Waffenausbildung, die Cyrus mit den deutschen Gefangenen ausführte. Langsam überwand er seine Scheu vor Menschen, die er sich in den letzten Monaten angewöhnt hatte. Meistens hatten sie reichlich Zeit für Gespräche, und das war wahrscheinlich beabsichtigt. Cyrus erfuhr von den Männern eine ganze Menge über den Krieg aus deutscher Sicht. Über die trickreichen Bemühungen der Nazis, ein ganzes Volk langsam in ein Meer aus Lügen, Versprechungen und Drohungen hinein zu ziehen. Bisher war er davon ausgegangen, dass die Deutschen willige Wahnsinnige waren, die unter schwerem Realitätsverlust litten, zerfressen von stumpfem Egoismus und romantischer Gefühlsduselei. Seine Gesprächspartner aber vermittelten ihm eine andere Sicht der Dinge. Sie berichteten über die Wohltaten der Nazis kurz nach der Machtübernahme. Der ständig sinkenden Zahl der Arbeitslosen. Von den stetig auf sie eintrommelnden Slogans der Propaganda. Davon, wie die Zweifel an dem Regime langsam dahingeschmolzen und einem stillen Fatalismus gewichen waren, der die Menschen nach und nach in einen braunen Seiden-Kokon gehüllt hatte.
Sie erzählten Cyrus vom eher verhaltenen Enthusiasmus, als Hitler zuerst im Sudetenland, dann in der Tschechoslowakei und schließlich in Polen eingefallen war. Viele Soldaten waren mit Widerwillen in den Krieg gezogen. Aber die vielen Erfolge im ersten Kriegsjahr, die kaum Opfer gefordert hatten, brachten Zweifler zum Schweigen, und schließlich trat die Bereitschaft ein, Augen zu verschließen und über tägliches Unrecht und Verbrechen des Regimes hinwegzusehen. Hitler und seine Komplizen hatten es tatsächlich geschafft, aus der deutschen Bevölkerung, so vielfältig sie auch dachten und fühlten, eine Schicksalsgemeinschaft in ihrem Sinne zu formen. Vor allem seit eine ganze Armee in Stalingrad eingeschlossen worden war, hatten viele erkannt, dass es kein Zurück mehr gab. Mitgefangen – mitgehangen.
Natürlich gab es auch viele, die den Großmachtphantasien in reinster brauner Prägung nachhingen, aber die waren von der Front und damit von der Wahrheit weit entfernt. Man belächelte sie, wenn sie einen nicht vor ein Standgericht brachten oder versuchten am nächsten Baum aufzuhängen.
Aber um diese Daheimgebliebenen ging es Cyrus. Immer wieder fragte er nach den Bedingungen, unter denen ihre Verwandten nun im fünften Kriegsjahr lebten.
Der Hass auf die Alliierten habe sich durch die dauernden Bombenangriffe natürlich verstärkt, erklärten sie Cyrus. Es hätte auch schon Fälle von Lynchjustiz an abgestürzten Piloten gegeben. Ansonsten aber sei die Lage nicht so verzweifelt wie im ersten Weltkrieg. Es gäbe genug zu essen und für die Ausgebombten werde mit Suppenküchen und Einquartierungen gesorgt. Niemand hungere. Von den Kriegsgefangenen und Arbeitswilligen, die überall in Fabriken anzutreffen seien einmal abgesehen. Kurz: Die Partei umsorgte ihre Volksgenossen. Die Wochenschauen zeigten lachende Kinder die aus Zügen ihren Müttern zuwinkten. Zeigten Suppenküchen, die mit großen Kellen heißen Eintopf ausgaben und fleißige HJ-Burschen, die in selbstlosem Einsatz den Menschen halfen.
Mit geradezu stoischer Ruhe hätten sich die Menschen im Krieg eingerichtet. Das Leben gehe ja weiter. Davon geht die Welt nicht unter, sänge Zarah Leander. Was solle man auch machen. Für Widerstand sei es ja eh zu spät.
Cyrus bekam den Eindruck eines Volkes, das tief im Innern bereits ahnte, dass es nur noch eine Frage der Zeit sein würde, bis die Welt an ihr Rache nehmen würde. Es war nur die Frage, wie schlimm die Rache ausfallen würde. Von den Russen erwarte man jedenfalls das Schlimmste. Von den Engländern und besonders den Amerikanern dagegen eine faire Behandlung. Deshalb werde im Osten auch zäher gekämpft als im Westen. Die Russen, ja die Russen ...
Zwischen all den Gesprächen, die er mit den deutschen Gefangenen führte, besuchte Cyrus Kurse. Er lernte Sütterlin verhältnismäßig schnell schreiben und vor allem lesen. Bei einer ältlichen Deutschen, deren Namen er nie erfuhr, erhielt er Sprechunterricht und wurde von ihr angehalten, den rheinischen Dialekt nachzuahmen, da seine Legende ihn als einen Kölner Obergefreiten ausgab. Dazu erteilte sie ihm Unterricht in deutscher Geografie und deutscher Geschichte, ihn ständig sprachlich berichtigend.
Randolph Spoke bildete Cyrus in einem mittelgroßen Wagenpark deutscher Herkunft aus. Er war außerordentlich stolz auf die zahlreichen Beutestücke, die nach der Landung in der Normandie in Carisbrooke eingetroffen waren. Er brachte Cyrus bei, wie man deutsche PKW's und LKW's kurzschloss, erklärte Straßenverkehrsregeln, Nummernschilder und Verdunkelungsvorschriften im Verkehr. Ein besonderes Steckenpferd aber war ein Opel Blitz mit Kohlengasantrieb, von denen die deutschen Gefangenen behaupteten, dies sei mittlerweile eine häufig anzutreffende Antriebsart im Reich, da der herkömmliche Sprit rationiert oder gar nicht mehr zu bekommen sei.
Zwischendurch erzählten ihm die Gefangenen Landser Witze, und auch Cyrus entdeckte langsam die komische Seite des deutschen Fatalismus, die dem britischem Galgenhumor verdächtig nahe kam. Dabei waren die Kürzesten die Besten: Lügen haben ein kurzes Bein betraf Göbbels einseitig kurzes Bein. Humpelstilzchens Märchenstunde seine Wochenschau. Er lernte die Bedeutung von Affe = Tornister, Churchill-Pimmel = Blutwurst, Dauerurlaubsschein = im Kampf sterben, Gefrierfleischorden = Auszeichnung für die Teilnahme am Russland-Feldzug 41/42, dazu passend: Karnickelorden =Mutterkreuz. Rückzugpastete = italienische Tomatenpaste, mit der die allgemeine Missachtung der militärischen Leistung der ehemaligen Achsenpartner gemeint war und noch hunderte von Ausdrücken und Wendungen. Er büffelte die Rangordnung der Wehrmacht, ihre Abzeichen und Uniformen.
An den Wochenenden sahen sie sich deutsche UFA-Filme an und anschließend gab es im Kasino immer einen kleinen Umtrunk, an dem auch Scrubbs teilnahm. Es wurden deutsche Sauflieder gegrölt und Scrubbs versuchte ihn betrunken zu machen. Cyrus aber blieb nüchtern. Er hatte sich in Frankreich angewöhnt, nur in sicheren Bereichen oder nach Abschluss von Einsätzen zu trinken. Sollte Scrubbs es doch versuchen.
Nach drei Wochen begann Cyrus endlich in Deutsch zu träumen. Er war bereit.