Читать книгу Kleine Sonne - Wolfgang Gröne - Страница 9

Kapitel 7

Оглавление

Etwa zwei Kilometer von der Hauptstrecke entfernt stand der Sonderzug Heinrich. Gut getarnt auf einem Nebengleis im dichten Nadelwald der ostpreußischen Tiefebene. Seitlich der insgesamt sieben Waggons verlief ein schmaler Brettersteg, der als Behelfs-Bahnsteig diente. Von ihm führten schmale Fußpfade zu grauen Bunkern und Holzbaracken, die verstreut im Schatten des Waldes lagen.

Sonderzug Heinrich unterstand dem Reichsleiters SS, Heinrich Himmler. Er war einer der vielen rollenden Hauptquartiere, mit denen die Elite des Reiches in den Anfangsjahren des Krieges durch halb Europa ihrem siegreichen Heer gefolgt war. Das war lange her. Die meisten der Züge fuhren nun nur noch selten und setzten langsam Rost an. Ihre Passagiere hatten stattdessen begonnen, sich einzumauern und auf neue Siegesmeldungen zu warten. Die allerdings ließen auf sich warten.

Heinrich Himmlers Sonderzug gehörte da vielleicht eher zu den Ausnahmen, denn anders als Göring, Ribbentrop, Goebbels oder Hitler gehörte Himmler zu den umtriebigsten Größen des Reiches und war anders als seine Parteifreunde ständig mit dem Ausbau seiner persönlichen Macht beschäftigt. Eine Macht, die in den letzten Jahren beträchtlich zugenommen hatte. Er war der oberste Chef der deutschen Polizei, des SD, der Gestapo, zusammengefasst im Reichssicherheitshauptamt. Er war Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums, Reichsinnenminister und schließlich Reichsleiter SS. Eine Machtfülle, die sonst nur der Führer selbst übertraf. Der nannte Himmler seinen treuen Heinrich und überließ es seinem obersten Diener, die gemeinsamen germanischen Fantastereien in die Tat umzusetzen. Himmler hatte daher in den letzten Jahren einen unheilvollen Aktivismus an den Tag gelegt, der darauf zielte, seinem Herrn den idealen Nährboden für dessen Nachkriegsfantasien zu bereiten. Anders als Göring, der sich nach dem Versagen seiner Luftwaffe langsam ins politische Abseits bugsiert hatte, war Himmler weiter im Aufstieg begriffen.

So fand ihn Rittmeister Manfred von Baselitz, als er das rollende Hauptquartier Himmlers gegen Abend erreichte, in Aufbruchstimmung vor. Einen Steinwurf entfernt schnaufte eine Lokomotive vor dem Zug und Männer in blauen Arbeitsanzügen waren eifrig damit beschäftigt, dicke Kabelstränge von den Waggons zu entfernen, die den Zug mit Strom, Wärme und Wasser versorgten. Augenscheinlich machte sich Himmler zum Abmarsch bereit.

Der Kübelwagen des Rittmeisters stoppte in der Nähe eines Postens, dem er seinen Befehl, sich sofort beim Reichsleiter persönlich zu melden, vorzeigte. Der große blonde Soldat musterte ihn kritisch, trat in ein kleines Wachhäuschen, telefonierte und winkte den Rittmeister weiter. Der Kübelwagen rumpelte über den steinigen Weg, der bis zum hölzernen Bahnsteig führte und stoppte dort. Ein Adjudant des Reichsleiters kam gelaufen. Schon von weitem rief er: „Menschenskinder, da haben Sie aber noch mal Glück gehabt, Herr Rittmeister! Der Reichsleiter fährt in ein paar Minuten ab!“ Der Adjudant wedelte mit den Armen und deutete auf den vordersten Wagen. „Kommen Sie, kommen Sie!“

Der Rittmeister sprang aus seinem Wagen und hastete dem Adjudanten hinterher. Sein Begleiter, ein hünenhafter Mann, folgte ihm mit einer Aktentasche in der Hand. Kurz hintereinander stiegen sie in den Zug. Der Rittmeister fragte sich, warum solche Eile geboten war. Der Adjudant schien seine Gedanken erraten zu haben. „Die Luftraumüberwachung hat einen anfliegenden Verband gemeldet. Wenn wir dem nicht über den Weg fahren wollen, müssen wir jetzt los! Nichts hasst der Reichsleiter mehr, als sich von den Alliierten seine Reisepläne diktieren zu lassen.“ Der Adjudant setzte sich atemlos hinter seinen Schreibtisch und streckte die Hand aus. „Ihren Befehl, Herr Rittmeister, dann kann ich Sie beim Reichsführer melden. Er wird sich freuen Sie zu sehen. Hat mich schon dreimal gefragt, wo Sie bleiben.“

Der Rittmeister blickte kurz seinen Begleiter an und wandte sich dann dem Adjudanten zu. „Es war nicht einfach, einen Platz in einem Flugzeug zu bekommen. Die Flieger sind mit Besuch für den Führer ausgebucht. Der scheint heute ein strammes Programm zu haben.“

„Ja, morgen früh ist in der Wolfschanze ziemlicher Betrieb. Am Nachmittag kommt der Duce zu einem Dankesbesuch für seine Rettung. Die haben alles vorverlegt. Da können Sie ja glücklich sein, dass Sie nicht nach Rastenburg in die Wolfsschanze müssen, sondern zu unserem König Heinrich.“

Der Adjudant blickte sich bei den letzten zwei Wörtern grinsend um, spannte einen Bogen Papier in die Schreibmaschine und hämmerte die nächsten Minuten darauf herum.

Mit einem kurzen Rucken setzte sich der Zug in Bewegung. Der Adjudant blickte auf und schlug sich vor die Stirn. „Oh, Entschuldigung, meine Herren. Setzen Sie sich doch. Ich mache Ihre Anmeldung fertig. Muss sein. Dann melde ich Sie beim Reichsleiter.“

Tatsächlich brauchten sie nicht lange zu warten. Wenige Minuten nachdem der Adjudant verschwunden war, kehrte er zurück und hielt mit einer Hand die Abteiltür zum mittleren Wagen auf. Mit einem Kopfnicken forderte er den Rittmeister auf einzutreten. „Bitte. Der Reichsleiter!“

„Ah, mein lieber Manfred!“, rief Himmler, als der Rittmeister das Abteil betrat. „Schön, dass du es noch geschafft hast! Isst du mit mir zu Abend?“

„Gerne!“

Himmler wies dem Rittmeister einen Platz an einem großen, den halben Wagen in Anspruch nehmenden Tisch an, und setzte sich dann an dessen Ende neben ihn. Auf der blank polierten Fläche standen derbes Bauernbrot, Butter, Käse und Marmelade. Daneben eine Karaffe mit Rotwein. „Wie war die Reise?“, fragte Himmler, blickte mit seinen kleinen eng beieinander stehenden Augen sein Gegenüber an und griff blind in die Brotschale.

„Anstrengend. Wir mussten auf Jäger-Geleitschutz verzichten. Das ist immer etwas nervenaufreibend. Die Amerikaner machen uns am Himmel ganz schön die Hölle heiß.“

„Das ist die Schuld von Göring, diesem trägen Nichtsnutz“, erklärte Himmler, während er sich energisch die Butter aufs Brot strich. „Ich habe den Führer schon vor Jahren vor ihm gewarnt. Der Mann mag ein Kämpfer sein, aber er ist kein Organisator. Das ist der Grund warum die Luftwaffe so versagt.“

„Das denke ich auch!“, erwiderte der Rittmeister und schmierte sich ebenfalls ein Brot.

„Wie war es bei dem Treffen mit diesem ... wie heißt er noch ... Ein impertinenter Mensch ... „

„Dr. Mannerheim?“

„Ja. Was ist denn das nun für eine Geschichte mit dieser … wie soll ich sie nennen? … Groß-Bombe?“

Projekt Nemesis musste dem Reichsleiter SS wie ein zu kleiner Fisch durch sein breit gespanntes Nachrichtennetz geschlüpft und anschließend zu beachtlicher Größe gewachsen sein. Jedenfalls schien Himmler nicht gut informiert. Eine Erkenntnis, die den Rittmeister in Staunen versetzte.

„Dr. Mannerheim hat es wohl geschafft, den Führer persönlich vom Nutzen seines Projekts zu überzeugen. Und ich denke, Obergruppenführer Kammler hat ihm dabei geholfen.“

„Kammler! Pah! Immer schön geheimnisvoll, diese intrigante Sau. Spekuliert auf die Nachfolge Speers als Rüstungsminister. Das macht ihn ein wenig übermütig. Vor allem, weil diese V-1 Raketensache anscheinend ein kompletter Reinfall ist. Da braucht er Erfolge. Die Raketen sind imposante technische Entwicklungen, aber sie haben dummerweise nur geringen militärischen Nutzen. Das wird Kammler langsam klar. Aber erzähl' weiter.“

„Diese neue Waffe ist da nicht anders, fürchte ich!“

„Wieso? Wenn sie das militärische Potential besitzt, um den Vormarsch der Alliierten an drei Fronten zu stoppen, soll's mir recht sein.“ Himmler schob sich ein Stück Brot mit Käse in den Mund und lehnte sich im Sessel zurück.

Der Rittmeister schenkte sich etwas Wein ein und begann in groben Zügen von der Unterredung in Berlin zu erzählen. Himmler hörte konzentriert zu, nickte hin und wieder und kaute dabei gemächlich sein Käsebrot. Als der Rittmeister geendet hatte, tupfte sich Himmler mit einer Serviette den Mund ab und blickte starr ins Abteil. Für eine Minute war nur das Rattern des Zuges zu hören.

„Wie viele dieser neuen Bomben können gebaut werden?“, fragte Himmler.

Der Rittmeister hob seine Aktentasche vom Boden auf, förderte eine rote Mappe hervor und schob sie über die lackglatte Tischplatte zum Reichsleiter herüber. „Das ist das Problem. Wir können die Fundstätte dieses neuartigen Urans nicht mehr lange halten. Die Russen rücken immer näher. Das bedeutet, dass wir nicht genug fördern können. Insgesamt geht Mannerheim davon aus, etwa sechs bis sieben von diesen Bomben bauen zu können.“

„Sechs bis sieben? So viele!“, rief Himmler mit einem unüberhörbaren ironischen Unterton.

„Ja. Dummerweise. Dazu kommt noch das Problem, dass die Gerätschaften für die Gewinnung des Bombenstoffs nicht in hinreichendem Maße zur Verfügung stehen. Trotzdem konnten Kammler und Mannerheim den Führer hinsichtlich ihrer psychologischen Wirkung überzeugen.“

„Und? Was glaubst du Manfred? Ist diese neue Bombe so furchteinflößend wie es dieser Mannerheim behauptet?“

Der Rittmeister presste hörbar Luft aus seinen Lungen und blickte auf die rote Mappe, die immer noch unberührt vor Himmler lag. „Sicher. Das ist sie. Sie hat immerhin eine Sprengwirkung von 13 Kilotonnen TNT. Das reicht, um eine Stadt mittlerer Größe komplett einzuäschern. Nur ...“

Himmler blickte ihn ernst an. Die Hände hatte er vor seinem Gesicht gefaltet. „Nur?“, wiederholte er.

„Na ja. Welche Stadt wollen wir denn damit einäschern?“

„Ich wüsste einige: London, Moskau, Washington ...“

„Natürlich, ja. Abgesehen davon, dass London schon ziemlich am Ende ist. Dennoch gibt es da ein Problem.“

„Welches?“

„Wie bringen wir sie ins Ziel?“

„Mit unseren neuen Raketen?“

„Das geht leider nicht. Der Gefechtskopf von diesem Ding wäre viel zu groß. Den kriegen wir auch in die neue A 4 nicht hinein. Die Luftwaffe kommt ebenso wenig in Frage. Die Alliierten haben die absolute Luftüberlegenheit. Kein Bomber kommt bis nach Moskau, London oder geschweige Washington.“

„Dann werfen wir sie eben auf die vorrückenden alliierten Verbände ab.“

„Das ginge, sicher. Aber was wäre damit gewonnen? Die Truppen des Gegners rücken nicht kompress in einem großen Haufen vor, sondern in weit auseinander gezogenen Kontingenten. Wir schmeißen so ein Ding über einem ab und ein Regiment oder Bataillon geht hops. Wenn wir sie überhaupt treffen. Der Rest der Armee marschiert weiter. Die Alliierten werden sehr schnell merken, dass diese Bombe zwar gewaltig kracht, aber nur verhältnismäßig wenig in freiem Gelände anrichtet.“

„Genau das Richtige für Goebbels Wochenschau. Viel Trara und nichts dahinter. Mein Gott Manfred! Sind wir denn in allem zu spät? Solch' eine Bombe hätte uns vor einem Jahr geholfen, die Amerikaner davon abzuhalten, in Europa einzugreifen. Aber jetzt scheinen alle Erfindungen in der Militärtechnik zu spät zu kommen und im Nichts zu verpuffen.“

Himmler verfiel in dumpfes Schweigen. Schließlich fuhr er leise nuschelnd fort. „Manchmal denke ich, dass dieser Krieg nicht mehr zu gewinnen ist. Krieg an drei Fronten. Dauerbombardement der Rüstungsindustrie. Dabei ist das noch nicht mal das Problem. Wir produzieren mehr als je zuvor. Aber uns fehlen Soldaten. Wir ziehen mittlerweile bereits den neunundzwanziger Jahrgang für die Wehrmacht ein.“

Der Rittmeister runzelte die Stirn. Dass im Reich allerorten über eine Niederlage spekuliert wurde, war nichts Neues. Dass aber der engste Getreue des Führers ebenfalls in diesen Chor mit einstimmte, überraschte ihn dennoch. Himmler beugte sich nach vorn, stemmte seine Ellenbogen auf den Tisch, so dass seine Arme ein umgedrehtes V ergaben und schaute Manfred traurig an. „Wir müssen die Errungenschaften unserer nationalen Revolution bewahren. Das Reich irgendwie erhalten. Das ist es, worauf es jetzt ankommt. Der Führer wird nicht kapitulieren, aber vielleicht wird es noch zu einem Konflikt zwischen unseren Gegnern kommen. Diese Waffengemeinschaft zwischen Kommunisten und Demokraten ist doch unnatürlich. Wenn es soweit ist, können wir den Westalliierten unsere Hilfe gegen die Bolschewiken anbieten und mit all unseren neuen Waffen können wir die Vernichtung unseres Volkes abwenden. Zusammen mit den Alliierten ist das ein Klacks!“

„Du sprichst deine Gedanken recht deutlich aus.“

„Ich habe Vertrauen zu dir. Bei deiner Biografie. Scheinst ein leidenschaftlicher Mensch zu sein und gleichzeitig ein Pragmatiker. Seltene Mischung.“

„Was macht dich so sicher, dass die Amerikaner und Engländer mit uns verhandeln werden? Sie halten uns für amoralisch. Wenn sie die Lager im Osten entdecken, dann erst recht ...“

„Die Lager ... über diese Geschichte werden sie nicht viele Worte verlieren. Juden. Keiner will die haben. Wir nehmen denen doch die Drecksarbeit ab. Du verstehst Politik nicht, Manfred. Moral dient immer nur dem Vorteil der Regierenden. Wir haben die ... Umsiedlungen nicht an die große Glocke gehängt. Wenn das Reich und das Generalgouvernement unbesetzt bleiben, breiten wir einfach ein Tuch des Schweigens darüber aus. Da sehe ich kein Problem. Die Leute wollen so etwas auch gar nicht wissen.“

„Und die Juden in Amerika? Die werden wissen wollen, was mit ihrem Volk geschehen ist.“

„Glaub´ mal nicht so sehr unserer eigenen Propaganda. Die Juden sind auch in den USA nicht tonangebend. Jedenfalls nicht in dem Maße, wie uns das der Goebbels immer weißmachen will. Ich weiß das. Deine Macht ist begrenzt.“

Der Rittmeister schwieg. Es war erschreckend mit anzusehen, wie schnell bei Himmler die Leidenschaft für die kompromisslose Ideologie des Nationalsozialismus einem machterhaltenden Pragmatismus wich. Er blickte zum Reichsleiter herüber, der sich etwas Wein nachschenkte.

„Wir müssen der Tatsache ins Auge sehen, dass wir von der SS es sind, die Deutschland vor der totalen Vernichtung schützen können. Und vielleicht retten wir ja auch den Führer vor sich selbst.“

Himmler ließ sich, wie es dem Rittmeister erschien, erschöpft in seinen Sessel zurück sinken. Sein Gesicht war mit einem Male grau und hart.

„Diese Bombe darf nicht zum Einsatz kommen!“, sprach Himmler bestimmt aber dennoch sehr leise. Fast war es ein Flüstern: „Wenn wir dieses Ding gegen die Westalliierten einsetzen, werden unsere Chancen, mit ihnen noch eine gütliche Einigung zu erzielen, gegen Null gehen.“

Der Rittmeister war wie vom Donner gerührt. Hatte er richtig gehört?

„Habe ich dich richtig verstanden? Du willst ein Projekt, das unter deiner eigenen Regie läuft, sabotieren?“

Himmlers Mund umspielte ein Lächeln.

„Wenn du es so nennen willst. Ich dagegen denke, dass wir lediglich die Kontrolle über gewisse Optionen bewahren sollten.“ Himmler ließ sich in seinen Stuhl zurücksinken. Dann sagte er langsam: „Du, Herr Rittmeister, wirst dafür sorgen, dass wir die Kontrolle über dieses Projekt bekommen. Ich kann das nicht befehlen. Denn anscheinend haben Mannerheim und Kammler die Unterstützung des Führers. Außer, sie begehen eine große Torheit. Dann kann ich helfend einspringen und dich mit der Leitung des Projektes ... wie heißt es gleich ...?“

Nemesis!“

„... Nemesis betrauen. Du bekommst vorläufig natürlich jede erdenkliche Unterstützung. Sichere diese Technologie und ein oder zwei funktionstüchtige Bomben. Zu gegebener Zeit werden diese Geräte mal eine gute Verhandlungsmasse mit den Westalliierten abgeben.“

Der Rittmeister starrte am Reichsleiter vorbei auf die vorbeiziehende Landschaft. Das ständige Tock, Tock, Tock der Schienen schob sich unangenehm in seine Denkprozesse.

Verhandlungsmasse abgeben? Wohl eher für dich selbst, Himmler, dachte er. Langsam wurde ihm klar, dass der Reichsleiter SS bereits Vorkehrungen traf, seinen Arsch zu retten. Der Rittmeister war entsetzt. Nicht, dass er noch an einen Sieg glaubte, aber die Direktheit, mit der ihm Himmler von seinen eigenen Sabotageplänen berichtete, bestürzte ihn. Ihm schien mit einem Male alles verlogen und niedrig. Wenig heldenhaft jedenfalls. Die guten Zeiten waren vorbei und es galt nun eine neue Stufe des Überlebens zu erklimmen. Auch wenn es schmerzte. Vielleicht hatte der Reichsleiter ja recht. Vielleicht konnte man die Alliierten doch noch umstimmen. Zum Wohle Deutschlands.

„Wie geht es übrigens deiner Frau“, plauderte Himmler mit verändertem Tonfall und machte sich über ein zweites Stück Brot her. „Ich habe gehört, sie sei in anderen Umständen?“

„Äh ... ja. Ich ...“ Der Rittmeister erwachte wie aus einer Starre, „Wir erwarten unser Kind im November.“

„Schön, schön.“

Himmler, der fühlte, dass dem Rittmeister nicht wohl war, beugte sich zu ihm. „Manfred. Vertrau mir. Der Führer ist, wie soll ich sagen ... in diplomatischen Dingen ... wenig geübt. Er kennt nur den aufrechten Kampf für das deutsche Volk. Er führt weiterhin begnadet, ohne Frage. Aber man muss das deutsche Volk auch vor seiner Leidenschaft schützen, die manchmal über das Ziel hinaus zu schießen droht. Glaub mir, es ist niemandem im Reich damit gedient, wenn es ausgelöscht wird. Diese Bombe hat keinen militärischen Wert mehr. Genauso wenig wie die Strahlflugzeuge, die Raketen, die neuen U-Boote. Zu spät. Aber all dass kann uns im entscheidenden Augenblick die Aufmerksamkeit der Alliierten sichern, wenn es zu einer Entzweiung mit den Bolschewiken kommt. Und das wird passieren. Verlass dich darauf. Diese Bombe ist ein Geschenk der Vorsehung. Nur gilt es, sie richtig einzusetzen. Denk an deine Frau und an ihr ungeborenes Kind. Wenn wir nichts mehr zum Verhandeln haben, werden sie uns einfach auslöschen.“

Der Rittmeister nickte benommen. Er wusste nicht, was er von all dem hier halten sollte. „Ja, vielleicht hast du recht. Wir müssen an die Zukunft denken.“

„Ziel ist, dass dieses Projekt für den Führer uninteressant wird. Sei verschwiegen. Lass die Alliierten machen. Die werden nicht untätig bleiben. Greif ihnen ein wenig unter die Arme. Denk an den Angriff auf die Schwerwasserproduktion der Norsk Hydro. Hier ist die Gefahr für ein alliiertes Kommando größer. Sorge dafür, dass sie soweit zum Ziel kommen, wie es uns nutzt. Wenn eine funktionstüchtige Bombe übrig bleibt, reicht das als Verhandlungsmasse. Mit einer einzelnen kann man militärisch nicht viel anstellen, aber politisch macht sie durchaus Sinn.“

Der Rittmeister schüttelte seine Beklemmung ab. „Mit deiner Unterstützung kann ich rechnen?“

„Wie ich sagte. Und ich stehe zu meinem Wort. Bist du satt?“

„Äh ... ja.“

„Dann entlasse ich dich. In Frankfurt Oder kannst du aussteigen. Informier´ mich bitte immer nur persönlich. Nichts schriftliches.“

Der Rittmeister erhob sich und grüßte: „Heil Hitler!“

„Heil Hitler“, wiederholte Himmler eher beiläufig und geleitete seinen Gast zur Abteiltür. Bevor der sie aufzog, hielt er den Rittmeister zurück.

„Und Manfred. Du solltest diese Friedel-Ehe mit der dänischen Journalistin beenden. Aus Sicherheitsgründen. Halte dich vorerst an deine eigene Frau.“ Damit zog er die Abteiltür auf. Der Rittmeister fühlte sich übertölpelt, brachte aber nur ein dünnes „Jawoll“ zustande.

„Na, dann is' ja gut!“ Himmler lächelte väterlich.

Kleine Sonne

Подняться наверх