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Kapitel 14
ОглавлениеSkorni hatte nach langwierigen Nachforschungen herausgefunden, dass die sechzehnjährige Stefani Grewe, im Jugendkonzentrationslager Uckermark interniert worden war. Ein Lager speziell für junge Mädchen und Frauen, etwa hundert Kilometer nördlich von Berlin. Sofort hatte er dort angerufen und war nach einigen entnervenden Versuchen durchgekommen. Die Lagerleiterin hatte sich aber nicht von ihm einschüchtern lassen und sich beharrlich geweigert, aufgrund eines Telefongespräches einen Häftling ans Telefon zu holen. Erst die Drohung, ihr ein Disziplinarverfahren anzuhängen, hatte gewirkt. Trotzdem wollte sich diese dumme Kuh erst in Berlin zurückversichern. „Dann tun Sie das mal!“, hatte Skorni durchs Telefon gepoltert, was ihm aber bei dieser Frau nur Dienst nach Vorschrift eingebracht hatte. Den ganzen Tag hatte er auf ihren Rückruf gewartet.
Skorni hatte wie auf heißen Kohlen gesessen, und als die Lagerleiterin schließlich gegen Abend anrief, erzählte sie ihm hörbar unterwürfig, dass Stefani Grewe zur Zeit in einem Außenlager zur Zwangsarbeit abkommandiert wäre. Und da ginge gerade niemand ans Telefon.
„Meine Liebe, dann setzen Sie sich gefälligst in Bewegung und holen mir das Mädchen an die Leitung.“ Er benutzte als Anrede nicht ihren Dienstrang. Das war für diese Walküren immer eine besondere Demütigung.
„Es tut mir leid Herr Obersturmführer, aber ...“
„Ist mir scheißegal, was Sie jetzt wieder für Gründe vorbringen. Legen Sie los, Herrschaftszeit.“
„Jawoll, Herr Obersturmführer!“ hatte sie ins Telefon genuschelt und aufgelegt. Wieder musste er warten und war schließlich auf einem Sofa eingeschlafen. Erst gegen sieben Uhr am folgenden Tag läutete das Telefon und riss Skorni aus einem unruhigen Schlaf. Sein Rücken schmerzte.
„Skorni hier“, murmelte er verschlafen und musste sich erst darüber klar werden, wo er sich gerade befand. In Köln. EL-DE-Haus. Irgendein Büro mit Sofa.
„Herr Obersturmführer?“ Es war die Lagerleiterin. „Wir haben das Mädchen hier. Wollen Sie es sprechen?“
„Natürlich will ich das. Ich warte hier immerhin schon seit gestern Abend auf ihren Rückruf. Um nicht einzuschlafen, habe ich hier schon mal eine gepfefferte Beschwerde wegen Dienstpflichtverletzung formuliert.“
„Herr Obersturmführer, es war nicht schneller zu machen. Ich konnte ...“
„Maul halten! Und das Mädchen ans Telefon“, brüllte Skorni und ein gelangweilter Gestapo-Beamter ihm gegenüber am Schreibtisch blickte erschrocken auf.
Es raschelte kurz in der Leitung, als der Hörer weitergereicht wurde. Eine schüchterne jugendliche Stimme war am anderen Ende zu hören.
„Ja hallo! Stefani Grewe hier.“
Skorni setzte sich aufrecht hin und versuchte sich das Mädchen am anderen Ende der Leitung vorzustellen. Hoffentlich war die noch zurechnungsfähig. Die Lager waren nicht gerade gesundheitsfördernd. „Hallo Fräulein Grewe. Spreche ich mit der Schwester von Karl Grewe?“ Skorni bemerkte ein Zögern.
„Ja!“
„Fräulein Grewe! Hier spricht Obersturmführer Skorni. Ich möchte Ihnen ein Angebot machen, das Ihre und das Ihrer Eltern momentane Situation verbessert. Ich bin in der Position dazu. Allerdings bräuchte ich für meine Vorgesetzten in Berlin einen Beweis Ihrer Loyalität dem Führer und Reich gegenüber. Wenn Sie mir Rede und Antwort stehen, kann ich mich für Sie und Ihre Eltern verwenden.“ Am anderen Ende hörte er schweres Atmen. War es Aufregung oder Angst? Egal. „Und jetzt hören Sie genau zu. Sie und Ihre Eltern werden verrecken. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Ich kann Sie alle davor bewahren. Das ist eine letzte Chance, die Sie hier bekommen. Machen Sie sich das bewusst.“ Er wiederholte die wichtigste Passage seiner kleinen Ansprache noch einmal. „Verrecken. Sie und Ihre Eltern. Ich kann Sie da rausholen. Haben sie mich verstanden?“
„Ja.“ Das Mädchen weinte.
„Gut! Fräulein Grewe? Waren sie jemals Mitglied in einer verbotenen Jugendgruppe? Den Navajos, Edelweiß-Piraten oder wie die sich sonst noch nennen?“
Wieder war am Ende der Leitung ein Zögern spürbar. Dann folgte ein leises „Ja.“
„Mit Ihrem Bruder? Karl Grewe?“
„Ja.“
„Hat Ihr Bruder Ihnen von seinen Plänen, seine Freundin Frauke Hiller zur Flucht zu verhelfen, erzählt?“
„Nein!“
„Hat er es anderen in Ihrer Gruppe erzählt?“
„Nein!“
„Fräulein Grewe, ich warne Sie. Wenn ich auflege, war's das für Sie und Ihre Eltern.
„Mir hat er nichts erzählt, aber ...“
Stille.
„Aber was?“
„... aber er hatte einen guten Freund. Den haben wir nur Sid genannt. Aus Ehrenfeld.“
„Wie sieht der aus?“
Sie schwieg. Ihr Weinen war in ein Schluchzen übergegangen. Skorni half nach. „Ich zähle bis fünf! Eins ... zwei ...“
„Klein. Kräftig. Dunkle Haare. Hat immer einen Schlapphut getragen und so ein Westernhalstuch!“
„Wie alt?“
„Weiß nicht. Ich glaube so alt wie Karl.“
„Wo hat sich die Gruppe getroffen?“
„Unterschiedlich. Früher im Volksgarten. Aber auch am Rhein. Bei den Bunkern. Auf dem Heumarkt. Je nachdem!“
„Je nachdem, was?“ fragte Skorni ungeduldig.
„Je nachdem, ob die Luft rein war.“
Skorni fluchte innerlich. Es gab einfach nichts Greifbares.
„Wo war das in der letzten Zeit? Und wann?“
„Bevor ich verhaftet wurde, haben wir uns an der Hohenzollernbrücke oder im Hindenburgpark getroffen. Die meisten arbeiteten ja bei Ford oder hatten andere Dienste. Wir haben da nur so 'rum gesessen. Ehrlich. Wie ganz normale Jugendliche. Da war doch nichts Gefährliches dabei. Das müssen Sie mir glauben. Geht es darum? Um meine Zugehörigkeit zu den Edelweiß-Piraten? Ist es das, was man uns vorwirft?“
„Nein, Fräulein Grewe. Darum geht es hier nicht. Ich ...“
Das Mädchen unterbrach ihn einfach „Und was immer der Karl getan hat, dafür können doch meine Eltern nichts. Und ich wusste davon auch nichts. Wirklich, Herr Obersturmführer! Bitte, helfen Sie mir und meinen Eltern.“
Skorni hörte das Mädchen am anderen Ende der Leitung laut schluchzen. Aber er hörte nur mit einem halben Ohr hin. Der Hindenburg-Park lag nahe dem Stadtteil Marienburg, wo die Hillers wohnten. Dort konnte sich Frauke mit Karl getroffen haben. Und vielleicht war dieser Sid dann auch nicht weit. Die Angaben des Mädchens waren mager. Aber immerhin genug, um sich mal an der Hindenburgbrücke umzuschauen.
„Danke, Fräulein Grewe. Geben Sie mir Ihre Lagerleiterin. Ich werde sehen, was ich für Sie tun kann.“
„Danke Herr Obersturmführer. Ich danke Ihnen!“
„Ja, ja ...“, winkte Skorni ab. Dann plärrte die Lagerleiterin am anderen Ende in die Sprechmuschel. „Herr Obersturmführer?“
„Passen Sie auf, meine Liebe! Halten Sie das Mädchen noch für ein paar Wochen am Leben. Für den Fall, dass ich noch Fragen an sie habe. Danach können Sie weitermachen wie bisher.“
„Jawoll. Werden Sie nun von einer Dienstbeschwerde absehen?“
„Sie können mich mal am Arsch lecken, Gnädigste“, antwortete Skorni kurz und knallte den Hörer zufrieden auf die Gabel.
Etwas besser gelaunt sprang er auf und suchte nach Radke. Im Bereitschaftsraum fand er ihn. Er lag schnarchend auf einer Pritsche. Über ihm eine graue Wolldecke.
„Radke! Aufstehen. Wir schauen uns ein bisschen die Touristenziele dieser Stadt an!“
Radke war nicht begeistert.
Eine halbe Stunde später waren sie am Hindenburgpark, der den Namen allerdings nicht verdiente. Der Park war eher einer Brache. Nichts weiter als aufgerissene Erde und verkohlte, umgestürzte Bäume. Zu entdecken gab es hier nichts, nur zerfetztes Grün.
Nach wie vor war Skorni entsetzt über das Ausmaß der Zerstörung. Er hatte in vielen Städten Europas Jagd auf Juden gemacht, die in die Illegalität gegangen waren. Aber das waren intakte Städte gewesen. Mit Menschen und Strukturen, die man nutzen konnte. Hier war alles anders. Fast fühlte er sich wie ein Jäger in einer kahlen Bergwelt aus Trümmern, Schutt, Bombentrichtern, die wie kleine Seen das Stadtgebiet sprenkelten. Er hatte sich in der letzten Zeit gefragt, ob er seine Ermittlungsarbeit nicht auf die neuen örtlichen Gegebenheiten im Reich umstellen musste. Die Jagd hier hatte etwas Archaisches. Zudem hatte er noch nie etwas so nebulöses wie diese Jugendgruppen gejagt, die in keiner Form organisiert zu sein schienen und Spontanität wohl zu ihrer ersten Tugend gemacht hatten. Mit Widerstand hatte das wohl nichts zu tun, eher mit Trotz.
Sie schlenderten ein wenig herum und fuhren anschließend in die Innenstadt. Radke parkte den Wagen auf Skornis Befehl am Bahnhof. Den Rest des Weges hinunter zum Rhein bis zur Hohenzollernbrücke gingen sie zu Fuß.
Die Uferstraße war erstaunlich gut geräumt und entgegen den meisten anderen Straßen und Plätzen in der Stadt belebt. Menschen liefen das Ufer entlang, standen zusammen und unterhielten sich. Eine Szene wie im Frieden, wenn die Trümmer und die elenden Baumskelette nicht gewesen wären, die überall herumstanden und Skorni die Ödnis des Krieges wieder ins Gedächtnis riefen. Zur Stadt hin erhoben sich Schuttberge. Davor immer wieder Wracks ausgebrannter Autos, Lastwagen und Pferdefuhrwerke. Auf der Ladefläche eines dieser LKW-Wracks saß ein Soldat, der sich mit einem Jungen unterhielt. Weiter hinten exerzierten SA-Männer mit lautstark gebrüllten Kommandos. Mädchen mit Zöpfen spielten hüpfend und singend Himmel und Hölle. Alte Männer lasen auf Bruchsteinen sitzend die Zeitung.
Skorni wandte sich traurig mit der Gewissheit ab, ein bisschen Frieden gesehen zu haben. Dann begann er, mit Radke die nähere Umgebung abzusuchen. Schnell entdeckten sie, was sie suchten. Tatsächlich fanden sie unter der Hohenzollern-Brücke, die noch intakt war, einen Haufen Zigarettenstummel und viele durcheinander versetzte Fußabdrücke. Das war vielversprechend. Hier hatten sich eine Menge Leute länger aufgehalten. Hoffentlich nicht nur Schwarzhändler. Aber die hatten andere Orte, wie er von Manthey erfahren hatte. Heute Abend würden sie sich hier mal genauer umschauen und hoffentlich Glück haben.
Am Rhein entlang gingen sie bis zur NSDAP-Parteizentrale, die ganz in der Nähe lag und machten den diensthabenden SA-Führer ausfindig, dem sie befahlen, sich heute Abend mit einer Rotte seiner Männer für eine Razzia bereitzuhalten.
Anschließend kehrten Skorni und Radke ins EL-DE-Haus in der Elisenstraße zurück, wo sie bereits von einem aufgeregten Kommissar Manthey erwartet wurden.
„Wir haben da jemanden, der Ihnen etwas Interessantes zu erzählen hat“, rief der ihnen zu und brachte sie in sein Büro im ersten Stock.