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Kapitel 4
ОглавлениеFür Francis Beaumont stellte die Stereoskopie, die vor ihm auf dem Tisch lag, ein Ärgernis dar. Die Ränder des Doppelbildes waren abgegriffen und wellig. Immer wieder hatte er sie sich angeschaut und darüber gegrübelt. Sie hatte in einem Schwung Luftaufklärungsfotos gesteckt, die ein Flugzeug von der ostfriesischen Insel Borkum gemacht hatte. An sich nichts besonderes. Routinemäßig war der Aufklärer in einer Höhe von tausend Fuß über die schweren Flugabwehrstellungen hinweg geflogen und hatte Dünen, Häuser, Bunker, Sandsäcke, verdutzte hinaufschauende Passanten und sogar Badegäste auf der Strandpromenade fotografiert. Ein echtes Wagnis für den Piloten, denn Borkum war gespickt mit Luftabwehrgeschützen aller Kaliber. Ein Überflug musste überraschend geschehen.
Die Auswertung war im Gegensatz zur Beschaffung der fotografischen Information nur eine triste Wiederholung von Bildern meist geringen Aussagewertes. Francis hatte die Insel schon zu allen Jahreszeiten gesehen, kannte jedes Haus, jede Düne und jeden einzelnen Bombenkrater. Manchmal glaubte er sogar einzelne Menschen auf der Straße wiederzuerkennen und grüßte sie amüsiert, während er sie durch das Stereoskop beobachtete.
Konzentriert suchte er dennoch in den Bildern nach etwas Neuem, Unerwartetem. Er verglich alte mit neuen Aufnahmen, kontrollierte Negative, wenn er Verunreinigungen entdeckt zu haben glaubte, zog Kollegen hinzu, wenn ein Objekt nicht eindeutig identifiziert werden konnte. Seit einem Jahr war er für die deutschen Nordseeinseln und das nahe Festland in der Luftbildauswertung in Medmenham beschäftigt, aber außer dem Auf- und Abbau diverser Antennen, kleinerer baulicher Veränderungen und einiger neuer Anlagen für Radaraufklärung, die er zuweilen auf den Fotografien beobachtet hatte, war ihm nie etwas wirklich Kniffliges untergekommen. Bis zu diesem Tag.
Dabei war das, was er auf diesem Foto sah, eigentlich kein wirkliches Rätsel. Was er sah, war eindeutig. Es brauchte keine Kontrolle des Negatives, keine Meinung von anderen Auswertern hinsichtlich des Objekts, das er dort am oberen Rand des Fotos bemerkt hatte. Trotzdem war er sich nicht sicher, ob er dem Colonel Bericht erstatten sollte oder nicht.
Wieder betrachtete er das Foto. Auf der rechten Seite erkannte er die graublau gestrichenen Gebäude des Marineflugplatzes, die zu einem unregelmäßigen U geformt waren. In der Mitte des U selbst war ein großer Funkmast zu erkennen. Zweifellos der Grund, warum der Pilot des Aufklärungsflugzeuges auf den Auslöser gedrückt hatte. In näherer Umgebung lagen unregelmäßig verteilt zerstörte Baracken und weitere Hinterlassenschaften diverser alliierter Luftangriffe.
Gleich neben den Gebäuden begann die Rollbahn, auf der aber seit einem Jahr kaum noch Flugverkehr herrschte. Früher waren von hier Seeaufklärer gestartet, aber die Luftüberlegenheit der Alliierten machte es den Deutschen in diesen Tagen unmöglich, über der Nordsee Flugzeuge einzusetzen. Francis erkannte dennoch einen intakten Hangar und davor ein paar mit Planen abgedeckte Flugzeuge. Auf der anderen Seite des Platzes rosteten große viermotorige Fernaufklärer vor sich hin. Einer hatte einen Volltreffer erhalten und war wohl nur noch als Wrack zu bezeichnen. Die Motoren hatten die Deutschen dennoch mit grauen Planen abgedeckt. Gleich dahinter ein kompaktes zweistöckiges ebenfalls graublau gestrichenes Steingebäude mit einer weiteren langen Antenne auf dem Dach. Die Horstkommandantur, soviel Francis wusste.
Am äußersten Rand des Bildes schließlich, und das war das Problem, eine schwarz gestrichene Ju 52. An sich ebenfalls nichts Außergewöhnliches, wenn sie nicht diese SS-Rune auf der rechten Seite der Tragfläche getragen hätte. Auf der linken war nichts. Auch kein Balkenkreuz. Dass die SS eigene, schwarz lackierte Flugzeuge besaß, war Francis neu. Vielleicht eine Prominentenmaschine. Himmler vielleicht? Machte der auf Borkum Urlaub?
Sicher ist sicher, dachte Francis ermattet und rief den wachhabenden Offizier an seinen Tisch. Vielleicht konnte der ihm aus seinem Dilemma heraushelfen.
„Sehen Sie sich das mal an, Major Chandler!“
Der Offizier kam zu ihm herüber geschlendert, beugte sich mit auf dem Rücken verschränkten Händen über den Tisch und äugte durch das Stereoskop. Dabei bewegte er seinen Kopf hin und her, um den leicht dreidimensionalen Effekt der Stereografie besser ausnutzen zu können.
„Was soll denn hier zu sehen sein, Mr. Beaumont?“ Der Major war im Zivilberuf Dozent für Englisch am Hartmore-College und hasste militärisches Gehabe.
„Links oben in der Ecke, Sir! Das schwarze Flugzeug.“
Major Chandler schwieg einen Moment und schnalzte plötzlich laut mit seiner Zunge. Francis zuckte erschrocken zusammen.
„Hm, ein pechschwarzes Flugzeug der SS. Schau an, schau an ...“, murmelte der Major und setzte nach einer Weile mit der vollen Stimme eines Bühnendarstellers hinzu, „Den ich gesehen, kann ein Teufel sein; der Teufel hat Gewalt, sich zu verkleiden. Hamlet, Szene II, 2. Aufzug, Mr. Beaumont. Und das, was Sie da sehen, ist wohl ein Dienstflugzeug für irgendeinen dieser verächtlichen SS-Teufel. Offensichtlich lümmeln da bei der Kommandantur auf Borkum noch ein paar schäbige Begleiter in ihren schwarzen Uniformen herum. Schauen geradewegs in unsere Kamera. Je weiter der Krieg fortschreitet und das Ende dieser Brüder rückt, desto größenwahnsinniger werden sie. Was für ein degoutanter Auftritt.“ Der Major schüttelte angewidert den Kopf. „Weitaus interessanter wäre es zu erfahren, wer da warum wem einen kleinen Besuch abstattet. Nicht wahr, Mr Beaumont?“
„Oh ja, Sir!“
„Und? Ideen?“
„Nein Sir!“
Major Chandler kratzte sich nachdenklich die Nase, dann den Nacken. Mit dem gelangweilten Ausdruck eines Bahnbeamten, der die Annahme eines hundert Pfund Geldscheines für den Kauf einer Fahrkarte von 50 Pennys ablehnt, zog er das Foto aus der Bildhalterung. „Kategorisieren Sie es als eine nicht identifizierbare SS-Einheit und lassen Sie es mal in den anderen Sektionen herum reichen. Vielleicht erinnert sich da einer, ob er so ein schwarzes Ding schon mal gesehen hat. Wenn nicht, dann zurück an uns!“
„Jawohl Sir.“
„Und ich frage mal nach, ob einer der oberen braunen Bösewichter zur Zeit auf Tournee ist.“
Francis Beaumont war nicht glücklich darüber, das SS-Lümmel-Flugzeug-Foto, wie er es mittlerweile nannte, abgeben zu müssen. Es hatte für Spannung gesorgt. In den nächsten Wochen wertete er weitere hunderte von Fotos aus, ohne wieder etwas vom SS-Lümmel-Foto zu hören. Seit der Invasion war er zusätzlich einer Abteilung zugewiesen worden, die für die Auswertung von Landungsfotos aus der Normandie zuständig war. Und das bedeutete viel Arbeit und Überstunden. Also vergaß er allmählich das SS-Lümmel-Foto. Wahrscheinlich wäre es auch so geblieben, wenn er sich nicht während eines Wochenend-Urlaubs in London mit seinem alten Schulfreund getroffen hätte.
Sein Name war Kenneth Underwood und er hatte, ebenso wie Francis, das Glück, nicht bei der kämpfenden Truppe gelandet zu sein. Er hatte einen Bürojob beim MI5, das im britischen Inland nach feindlichen Agenten fahndete.
Eigentlich war Kenneth für einen solchen Job der falsche Mann, denn er tratschte für sein Leben gern. Da er, wie Francis, eine militärische Sicherheitsstufe besaß, hielt sich Kenneth denn auch meistens nicht weiter zurück und erzählte immer mit humorvoller Hingabe von angeblichen deutschen Spionen, die von nervösen Mitbürgern enttarnt worden waren, während sie ihren dunklen Geschäften nachgingen. Die fünfte Kolonne, das war sein Lieblingsthema.
Francis war dennoch über jede Abwechslung glücklich und beschloss, sich mit Kenneth in einem kleinen Pub auf der Nordseite der Themse zu treffen. Wie er es erwartet hatte, plapperte sein Freund fröhlich drauf los, ohne dabei viel Zeit mit Luft holen zu verschwenden.
Für Kenneth war das ganze Gerede über deutsche Agenten Blödsinn. 99 Prozent aller Fälle, die man ihnen beim MI5 meldete, stellten sich als Einbildung heraus. Aber die Leute blieben wenigstens wachsam. Das war wohl der Grund für die Angstmache der Behörden. Nach etwa einer Stunde bereute es Francis bereits, sich mit Kenneth getroffen zu haben. Die Geschichten, die er ihm erzählte, wurden zunehmend und auf entnervende Art und Weise langweilig, da sie immer nur von verdächtigen Obern, Dienstboten, Schmetterlingssammlern usw. erzählten, die dummerweise einen Akzent oder Sprachfehler hatten und daher von den aufmerksamen Teilen der englischen Bevölkerung als deutsche Agenten angezeigt wurden. Wenn man sie nicht sofort in Eigeninitiative festnahm oder schlimmeres. Denn manche waren kurz davor gewesen, mit Mistgabeln erstochen oder von Schrotflinten erschossen zu werden. Das war zwar auf makabre Art lustig aber nicht in der Menge, die ihm Kenneth servierte. Nur eine Geschichte war anders und weckte Francis' Aufmerksamkeit.
Kenneth erzählte mit einem traurigen Unterton, aus dem alles Zynische verschwunden war, von einem Privatflugzeug, das um den 2. Juni herum von einer hübschen rothaarigen Frau geflogen und dummerweise abgeschossen worden war. Tote schöne Frauen waren Kenneth, dem Frauenheld, ein Graus.
„War sie eine Agentin?“, fragte Francis neugierig und schlürfe sein Bier, während er sich die tote Schöne in dem zerschossenen Flugzeugwrack vorzustellen versuchte.
„Wissen wir nicht! Sie hatte nichts dabei! Der MI5-Beamte vor Ort hielt sie für einen Flüchtling. Vielleicht eine Jüdin aus Holland. Die Nazis werden zunehmend aggressiver bei der Suche nach versteckten Juden.“ Er gähnte und blickte über Francis' Schultern hinweg zur Eingangstür, durch die gerade zwei aufregende Blondinen den Pub betraten.
Francis sah noch immer das Wrack mit dem leblosen Körper des Mädchens vor sich „Woher sie wohl kam? Ich meine, wo ist sie gestartet?“, bohrte er. Warum, wusste er nicht. Vielleicht, weil ihn rothaarige Frauen eindeutig mehr interessierten, als die beiden Blondinen, die Kenneth ins Visier genommen hatte.
Kenneth machte bereits einen langen Hals. „Vom Flugkurs musste sie entweder in den Niederlanden oder an der deutschen Nordseeküste gestartet sein. Der Tank war nur halb leer. Das würde wohl einen Radius dieser Größe zulassen. Vielleicht war sie eine Agentin, vielleicht auch eine, die die Schnauze von Adolf voll hatte. Wer weiß? Sie hatte sich auf jeden Fall nicht gut vorbereitet. Werden wir wohl erst nach dem Krieg erfahren, was? Oder nie. Jetzt liegt sie in einem anonymen Grab in ... in ... ach, was weiß ich. Bin gleich wieder da!“ Damit erhob er sich und ging zur Toilette.
In Francis' Vorstellung tanzte das Flugzeug durch die Wolken. In diesem schweren Sturm. Er erinnerte sich dunkel. Vor einem guten Monat. In Medmanham hatte er eine ganze Reihe Bäume entwurzelt. Der Sturm ... Mit einem Mal fiel ihm wieder sein SS-Lümmel-Foto ein. War es nicht unter den Bildern gewesen, die am 2. Juni von dem Aufklärer gemacht worden waren? Gleich nach dem Sturm. Die Insel lag durchaus in der Reichweite der kleinen Maschine. Vielleicht bestand zwischen dem schwarzen SS-Flugzeug und der Rothaarigen eine Verbindung. Kenneth kam vom Pinkeln zurück und quetschte sich wieder hinter den Tisch. Francis schaute ihn nachdenklich an. Sein Freund glotzte amüsiert zurück: „Was?!“ Kenneth glaubte einen halb irren Ausdruck im Gesicht seines Freundes zu erkennen. „Alles in Ordnung, Francis?“
„Ich denke nur nach. Ich hab' da vor ein paar Wochen ein Aufklärungsfoto auf den Tisch bekommen. Stammt vom 2. Juni. Dem Tag nach dem Sturm. Und darauf ist ein pechschwarzes Flugzeug zu sehen, Ju 52, das nur auf dem rechten Flügel als einziges eine SS-Rune trägt.“
„Na und?“, fragte Kenneth und streckte mit einem Gähnen seine Glieder.
„Na ja. Ein solches Flugzeug ist für uns in der Luftbildaufklärung neu. Dass die SS so etwas besitzt, ist neu. Scheint nur für besondere Fälle da zu sein. Es steht da auf dem Borkumer Marineflugplatz genau einen Tag, nachdem deine schöne Rothaarige abgeschossen wird. Eines ist sicher, dieses SS-Flugzeug ist auffällig. Und junge, rothaarige Frauen, die in Privatflugzeugen während eines Weltkrieges ins Land des Feindes fliegen, obwohl hinreichend bekannt ist, wie gut deren Flugsicherung funktioniert ... das ist ebenfalls sehr seltsam. Seltsam und sehr seltsam ergibt bei mir verdächtig. Stimmt's?“
„Zufall. Wahrscheinlich haben die von der SS mal wieder irgendwelche Leute auf der Insel wegen Unfähigkeit festgenommen oder neue Schweinereien ausbaldowert. Vielleicht macht Himmler ja auch Urlaub oder verteilt Orden.“
„Und was ist, wenn sie wegen der Rothaarigen da waren? Ich würde da mal hinterher forschen. Vielleicht habt ihr ja was übersehen.“
Kenneth glotzte ihn ungläubig an und zog schließlich seine Stirn in Falten. „Vielleicht sollte ich dir nicht mehr so viele Geschichten von deutschen Agenten erzählen“, murmelte er lapidar und nahm Sichtkontakt zu den beiden Blondinen auf, die sich an die Theke gestellt hatten.
Francis suchte achselzuckend ebenfalls die Toilette auf, und als er wieder zurückkam, hatte Kenneth die zwei jungen Frauen zu ihnen an den Tisch gelotst. Es wurde eine lange Nacht.
*
Anders als Francis gedacht hatte, ging Kenneth die Sache mit dem schwarzen SS-Sonderflug auf Borkum und dem notgelandeten Flugzeug mit der Rothaarigen nicht aus dem Kopf. Wenn zwei, nicht alltägliche Vorfälle zeitlich und räumlich zusammenfielen, konnte man zumindest mit etwas Fantasie eine Kausalität herstellen, die Aufmerksamkeit erregte. Vielleicht war es ja nur ein Zufall, aber man konnte ja nicht wissen. Außerdem hatte Kenneth es satt, seinen Hintern in eine Bratpfanne zu verwandeln. Er wollte mal wieder raus an die Luft und etwas Feldforschung, wie er es nannte, betreiben. Also bauschte er Francis' Information gehörig auf und bekam die Erlaubnis, nach Norwich zu fahren, um sich vor Ort mal etwas genauer umzuschauen.
Mit dem Zug dauerte es einen halben Tag, bis er in der MI5 Nebenstelle angekommen war. Er ließ sich von einem Beamten namens Ellmann die Akten zum Absturz zeigen und untersuchte danach akribisch das Flugzeugwrack auf dem nahe gelegenen Stützpunkt. Aber er entdeckte nichts Neues. Wieder flüsterte ihm eine innere Stimme verschwörerisch zu, dass hier irgendwas nicht stimmte.
„Sie hatte nichts dabei, Ellmann?“ Kenneth und der Beamte standen im Schatten des Hangars und blickten auf die Überreste des Flugzeugs. „Keine irgendwie gearteten Schriftstücke? Ein Bordbuch zum Beispiel? Oder Gepäck? War vielleicht etwas im Cockpit was nicht in ein Flugzeug gehört? Vielleicht haben Sie es vergessen zu erwähnen.“
Kenneth blickte Ellmann durchdringend an. Der Beamte schaute auf das zerstörte Flugzeug und dachte offensichtlich angestrengt nach. Kenneth wusste plötzlich, warum einige Kollegen in der Provinz und nicht in London Dienst taten.
„Nein ...“, flüsterte er nach einer endlosen Weile. Dann plötzlich lauter, „Oder doch! Warten Sie!“ Ellmann trommelte mit seinen Fingern an die Unterlippe seines offen stehenden Mundes. Kenneth ließ seinen Kopf leicht sinken und versuchte Geduld zu bewahren.
„Der Chef hat eine Schachtel aus dem Flugzeug geholt. War aber nur ein Stein drin. So 'n gelbliches Ding. Sehr schwer für seine Größe.“
„Schön, Ellman, wo ist es jetzt?“
„Na, in der Asservatenkammer in Norwich.“
„Dann lassen Sie uns mal dahin fahren und uns dieses Ding anschauen.“
„Ja, Sir. Wie sie wünschen, Sir!“
Wie alle Asservatenkammern auf dieser Welt, war auch die in Norwich ein Panoptikum des Alltäglichen. Praktisch alle Dinge des täglichen Gebrauchs konnten für eine Straftat benutzt werden. Büstenhalter ebenso wie Gartenäxte. Die Kammer glich eher einem unaufgeräumten Keller als einem Verwahrbereich für Beweismitteln. Kenneth Underwood folgte Ellmann etwas angewidert durch das staubige und muffige Labyrinth, in dem zu allem Unglück auch noch jede zweite Glühbirne ausgefallen war.
Nach gut zehn Minuten peinlichen Suchens fand Ellmann die kleine Box aus dem Flugzeug. Sie war, wie Kenneth sofort erkannte, aus Blei. Er klappte den Deckel auf und nahm das gelbe Mineral heraus. Es lag schwer in seiner Hand. Er war sogar schwerer als das viel größere Bleikästchen. Kenneth legte den Stein stirnrunzelnd vor sich aufs Regal und betrachtete das Kästchen von allen Seiten, entdeckte aber nichts Auffälliges. Trotzdem beschloss er, beides mitzunehmen und es in London untersuchen zu lassen. Es war immerhin das Einzige, was er zurückbrachte. Nicht viel, wie er sich ärgerlich eingestand. Selbst wenn Francis mit seiner Vermutung eines Zusammenhanges zwischen den beiden Vorfällen recht hatte, würde Kenneth das nicht nachweisen können.
„Was hatte das Mädchen an?“
„Eine Fliegerkombination.“
„Wo ist die?“
„Da müsst ich noch mal nachschauen“, grinste Ellmann peinlich berührt und reckte den Hals in alle Richtungen der dunklen Asservatenhöhle. „Die haben wir ihr für die Obduktion ausgezogen. Müsste hier irgendwo sein. So steht's jedenfalls auf der Eingangsliste.“
Ellmann schob seinen Zeigefinger über das Blatt Papier. Dann kletterte er gekonnt ein Regal hinauf und fischte wider Erwarten einen blauen Overall hervor. Den drückte er Underwood mit siegreicher Geste in die Hand. Kenneth beäugte ihn interessiert und drehte ihn ein paarmal hin und her. „Den Aufnähern nach ist diese Kombination von einem Nachtjägergeschwader. Was steht denn da?“ Kenneth erkannte einen eingenähten Nameszug im Kragen. „Grewe“, las er langsam und zuckte mit den Achseln. Dann begann er, die verschiedenen Taschen zu öffnen und zu durchsuchen. Nichts.
„Haben wir auch durchsucht, Sir. War nichts drin“, sagte Ellman selbstsicher, während er Kenneth über die Schulter blickte.
Kenneth hörte gar nicht zu. Er konzentrierte sich auf eine kleine Wulst gleich unter der Brusttasche. Wenn man nicht nach etwas Verdächtigem suchte, konnte man es lediglich für eine Naht halten, mit dem das Emblem eines Reichsadlers festgenäht worden war. Aber Kenneth wusste von Untersuchungen abgeschossener Flieger, dass sich dort eine kleine Taschen befinden konnten, in denen Piloten ihre persönlichen Schriftstücke aufbewahrten. Zielsicher zog er die kleine Naht oberhalb des Emblems auf. Sofort wurde ein weißes Stück Papier sichtbar.
„Also, das haben wir irgendwie übersehen“, flüsterte Ellmann leise.
Kenneth legte seinen Ich-Profi-du-Amateur-Blick auf und fingerte ein zusammengefaltetes Briefkuvert hinter dem Reichsadler hervor. Die Fliegerkombination drückte er dem verdutzten Ellmann in die Hand. Dann begann er zu lesen. Abwechselnd wurde ihm heiß und kalt. Dieser Brief hatte es in sich.
„Was steht denn da?“
„Nichts! Mr. Ellmann. Nichts, was Sie interessieren könnte oder sollte.“
Als Kenneth zu Ende gelesen hatte, faltete er den Brief schnell wieder zusammen und stopfte ihn mitsamt Schachtel in seine Aktentasche. Kenneth hatte es plötzlich eilig.
„Vielen Dank Mr. Ellmann. Leider muss ich sofort zurück nach London. Ich brauche noch die Fotos von der Obduktion. Kommen Sie.“
Ellmann schaute dem Beamten des MI5 verwundert nach, als der zwischen den staubigen Regalen zum Ausgang stürmte. Leise verfluchte er sich dafür, diesen Brief nicht selbst gefunden zu haben. Das wäre ein echter Tiefschlag für Fulton gewesen, diesen Ignoranten. Er hatte sofort gewusst, dass mit dem Mädchen etwas nicht stimmte. Aber auf ihn hörte hier ja niemand. Enttäuscht folgte er Kenneth, nicht ohne mit einem kraftvollen Tritt einen herumstehenden braunen Reisekoffer quer durch den Raum zu kicken.