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Kapitel 13

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Es war dunkel als Cyrus erwachte. Leicht benommen setzte er sich auf und versuchte das Ziffernblatt seiner Uhr zu erkennen. Fast Mitternacht. Es würde schwierig werden, das Haus der Hillers bei Nacht im Chaos der Ruinen und Trümmer zu finden und gleichzeitig dem Streifendienst der HJ auszuweichen. Cyrus entschloss sich daher, bis zum Ufer des Rheins zu gehen und sich dann flussaufwärts zu halten. Der Rhein bot vorläufig die beste Orientierung. Mit steifen Gliedern machte er sich auf den Weg.

Es klappte besser als er es erwartet hatte. Die Stadt war leer und Geräusche gut auszumachen. Da er es gewohnt war, sich leise in der Dunkelheit zu bewegen, war er den Streifen meistens einen Schritt voraus. Was bedeutete, dass er sie früher hörte und sah als sie ihn. Das war die halbe Miete. Deckung suchen war in der zerstörten Stadt kaum ein Problem.

Hin und wieder vernahm er das Krachen einstürzender Häuser, die ihm einigen Schrecken einjagten. Wenn irgend möglich hielt er sich auf der Uferstraße fern von den Ruinen.

Einige letzte Straßenschilder, teilweise verbogen und reichlich ramponiert, wiesen sie ihm den ungefähren Weg. Also lief er das Agrippina-Ufer entlang bis zum Hindenburgpark, dann noch mal etwa einen Kilometer bis zum Bismarck-Denkmal. Dort bog er in den Bayenthalgürtel ab und anschließend in die Pferdmengesstraße.

Das Bild der Zerstörung änderte sich. Marienburg war eine vornehme Wohngegend. Die Häuser waren meist großbürgerlich repräsentabel und mit viel Grün umgeben. Sie standen nicht dicht an dicht, sondern wiesen reichlich unbebaute Fläche auf. Lange Alleen säumten die Straßen und Cyrus vergaß fast das chaotische Durcheinander der Innenstadt. Trotzdem waren auch hier lange Schneisen alliierter Bombenteppiche zu sehen, die sich durch die grüne Villenlandschaft gegraben hatten. Viel war halb oder völlig zerstört. Wieder musste Cyrus metertiefe, mit Grundwasser vollgelaufene Krater umgehen. Umgestürzte Bäume lagen zersplittert in den kleinen Parks, totes Grün verwitterte zu herbstlichem Braun.

Die Fenster der meisten Häuser, die oftmals hinter hohen Mauern oder Zäunen lagen, waren vernagelt und dunkel. Cyrus blieb immer wieder stehen und lauschte. Die Stille war überwältigend. Nichts rührte sich. Der Stadtteil schien ausgestorben und Cyrus befiel die Sorge, dass die Hillers aus Köln fortgezogen sein könnten.

Um etwa vier Uhr morgens hatte Cyrus das Haus gefunden. Wie viele andere lag es etwas abseits der Straße und präsentierte sich mit einer schlichten neoklassizistischen Fassade, die, soweit Cyrus es erkennen konnte, nicht beschädigt war.

Langsam schritt er den schmiedeeisernen Zaun entlang, der das Anwesen umgab. Er versuchte sich ein Bild von der Lage zu machen. An der Rückseite entdeckte er einen Bombenkrater, der zu einer Hälfte die Straße und zur anderen ein breites Loch in den Zaun gerissen hatte. Irgendwer hatte versucht, es mit Resten umgefallener Bäume zu stopfen, was aber nicht wirklich gelungen war.

Genau gegenüber der Villa lagen drei Häuser oder besser zweieinhalb, da eines zur Hälfte zerstört war. Cyrus beschloss, sich in einem dieser Häuser vorläufig einzurichten, um die Hillers im Auge behalten zu können.

Schnell fand er einen Einstieg im zerstörten Mauerwerk und stieg lautlos die halb eingestürzte Freitreppe in das obere Stockwerk hinauf. Das Haus war, wie er es erwartete, verlassen. In einem Raum, der einmal als Schlafzimmer gedient hatte, setzte er sich in einen breiten, von feinem Mörtelstaub überzogenen Ohrensessel und blickte zwischen den im Wind leicht hin und her flatternden zerissenen Gardinen zum Portal der Villa herüber. Es war jetzt halb fünf und der Morgen graute bereits. In ein paar Stunden würde er wissen, ob die Hillers noch in Köln waren. So lange hieß es warten.

So stierte Cyrus mit leeren Augen auf das Haus auf der anderen Straßenseite. Irgendwann begann sich sein Bewusstsein selbstständig zu machen während er starr und steif in dem alten Sessel saß.

Bilder flimmerten unscharf in seiner Erinnerung auf. Unscharfe Bilder aus der Zeit im französischen Untergrund, als er den einsamen Tod, den niemand mitbekommen hatte, gestorben war. Und Geräusche. Die eines nahenden Zuges. Der näher kam. Ein neues Bild, diesmal eindeutiger in seiner Erinnerung verankert. Er lag in Deckung in einem eilig ausgehobenen Splittergraben. Zusammen mit den Maquis hatte er die Schienenstränge so mit Dynamit unterlegt, dass man damit eine halbe Stadt in die Luft hätte jagen können. Ein Zug mit deutschen Soldaten samt Ausrüstung zu sprengen war ihr Ziel. Das hatte man ihnen gesagt. Der sollte kommen. Aber seine Informanten hatten sich getäuscht. Nicht der Zug mit den Soldaten war gekommen.

Cyrus schluckte schwer und vergrub sein Gesicht in den Händen. In seinem Kopf dröhnte es laut und er wusste, dass es der Zug war, der auf ihn zukam. Laut quietschend durchfuhr er eine Kurve. Unbeleuchtet und nicht besonders schnell. Wie der Schatten einer Schlange kroch er näher und näher. Und Cyrus spürte den kleinen Hebel der Sprengvorrichtung in seinen Händen, dazu diese leise, fiebrige Spannung und das seltsame Bedürfnis, die Hand zu drehen und es zu Ende zu bringen.

Im Sessel sitzend hörte er sich stöhnen. Er hatte es zu spät gesehen. Oder nicht? Wollte er nicht einfach den Zünder drehen. Obwohl etwas nicht gestimmt hatte?

„Nein! Nein!“, flüsterte er jetzt leise und biss sich auf die Unterlippe bis er den trockenen Geschmack von Blut spürte. Dann huschten Bilder an seinem inneren Auge vorbei, jetzt in klarer Deutlichkeit. Grauenvolle Bilder, die er sein ganzes Leben mit sich herumtragen würde. Darüber lag die Kakophonie des Chaos. Ohrenbetäubendes Quietschen, entmenschlichtes Brüllen und dann dieses hohe Kreischen ... viel zu hoch für Soldaten. Sein Brustkorb hob und senkte sich hyperventilierend. Dann starb Cyrus wieder, wie so oft in den letzten Monaten.

Von der Straße drang ein lautes Hupen und Cyrus wachte auf. Seine Glieder schmerzten. Besonders seine Brust. Ihm war kalt. Er riss sich zusammen und schaute aus dem Fenster. Vor der Villa stand ein dunkelblauer Chevrolet. Ein Mann war ausgestiegen und hatte sich lässig daran gelehnt, während er zum Haus der Hillers herüber schaute.

Dort wurde die große Tür des Hauptportals geöffnet und ein Mann in einer SA-Uniform erschien. Unter seinem Arm klemmte eine schwarze Aktentasche. In den Unterlagen, die man Cyrus gegeben hatte, war auch ein Bild von Heinrich Hiller gewesen. Aus einer Zeitung zu Anfang des Krieges. Er war sich sicher. Der Mann in der Uniform war der Bruder von Fritz Hiller. Heinrich Hiller, Chef der gleichnamigen Stahlwerke.

Die Straße war so ruhig das Cyrus hören konnte wie der Fahrer Hiller begrüßte.

„Morgen Herr Generaldirektor!“

„Morgen Schmidt!“, antwortete Hiller nur kurz und stieg in den Wagen. Der Fahrer klemmte sich hinter das Steuer, zog die Tür zu, startete und bald danach war das Auto verschwunden. Über die Straße senkte sicher wieder morgendliche Stille. Irgendwo zwitscherten Vögel.

Hiller schien von der Benzinrationierung ausgenommen zu sein, dachte Cyrus während er langsam etwas Hartgebäck aus seinem Rucksack kaute. Er fixierte seinen Blick auf die Mitte der Fassade und versuchte Bewegungen dahinter wahrzunehmen. Fensterläden wurden geöffnet und Cyrus erkannte Personen hinter den Gardinen. Er fragte sich, wer noch in in dem Haus war. Und wie viele davon von der Gestapo waren. Sein Empfangskommando sozusagen.

Etwa eine Stunde nach Heinrich Hiller öffnete sich die Tür ein zweites Mal und heraus kam eine Frau mit einem einfachen dunklen Kostüm. Mitte Vierzig, schlank mit roten Haaren. Begleitet wurde sie von einem Mann in einem blauen Anzug. Die Frau bog nach rechts ab, der Mann aber blieb einen Augenblick stehen und folgte ihr dann. Ein Aufpasser.

Wieder beobachtete Cyrus die Hausfassade. Irgendwann erschien eine dickliche Frau am Eingang, die einen Eimer Wasser auf die Stufen ausschüttete und wieder verschwand. Die Wirtschafterin. Dann tat sich für einige Stunden nichts, außer einiger weniger Passanten, die am Haus vorbeigingen.

Nur für kurze Momente verließ Cyrus seinen Beobachtungsposten. Dann ging er pinkeln und durchsuchte das Haus nach Trinkbarem. In dem halb eingefallenen Wohnzimmer entdeckte er in einem Wandschrank etwas Selterswasser und eine halbe Flasche Cognac. Er kämpfte kurz mit sich, griff dann aber nur zu der Flasche Wasser und kehrte in den ersten Stock zurück. Das Warten war ermüdend.

Cyrus fragte sich, ob es nicht besser wäre, einfach hinüber zu gehen, die Wirtschafterin zu überwältigen und dann auf die Hillers zu warten. Aber konnte er sicher gehen, dass im Haus nicht Gestapo wartete?

Am frühen Nachmittag kam die Frau, bei der es sich um Luise Hiller handeln musste, zurück. Diesmal ging der Aufpasser direkt neben ihr. Beide schienen zu flirten. Sie unterhielten sich lachend und der Mann ging schließlich davon, während Luise Hiller nach einem kurzen Winken das Haus betrat.

Wenn die Gestapo die Familie schon seit dem Verschwinden ihrer Tochter überwachte, war die Aufmerksamkeit wahrscheinlich nachlässig geworden. Morgens hielt man noch auf Abstand, nachmittags schlenderte man schon mit einem Pläuschchen zurück. Dann verschwand der Aufpasser ganz. Ein Fahrzeug, von dem aus man das Haus observierte, hatte Cyrus nicht entdecken können. Gab es gleich eine Ablösung? Nein. Nichts geschah. Ebenso wenig schien sich im Haus Gestapo zu befinden. Auch die hätten irgendwann eine Ablösung vornehmen müssen.

Gegen zwanzig Uhr kehrte auch Heinrich Hiller in seinem blauen Chevrolet zurück. Er stieg aus und schnell war er im Haus verschwunden.

Aus dem unteren Stockwerk drang Licht durch die Ritzen der Holzläden und Cyrus glaubte Musik zu hören. Die Straße versank wieder in Dunkelheit. Er wusste jetzt, was zu tun war. Er würde auf den nächsten Morgen warten.

Noch bevor am nächsten Morgen der Chevrolet kam, hockte Cyrus bereits hinter einem umgestürzten Baumstamm und beobachtete die Szenerie. Alles spielte sich wie am Vortag ab. Deutsche funktionieren wie ein Uhrwerk, dachte Cyrus, als er das Auto des Generaldirektors am Ende der Straße verschwinden sah. Eine Stunde später erschien seine Frau. Diesmal ohne Begleitung. Die Gestapo war nachlässiger als er geglaubt hatte.

Luise Hiller trug ein schwarzes Kostüm und einen Seidenschal, der in den Strahlen der Morgensonne leicht glitzerte. Über ihrer Schulter baumelte eine Handtasche. Mit schnellen Schritten ging sie die Straße entlang und Cyrus heftete sich an ihre Fersen.

Sie begegneten nur wenigen Menschen, und als sie durch eine Straße liefen, in der ein Zeile Wohnhäuser stark zerstört war, schloss Cyrus schnell und lautlos zu ihr auf. Kurz bevor er sie erreichte, bog sie in eine von Trümmern übersäte schmale Gasse ein. Cyrus blickte sich spähend um, sah und hörte aber niemanden. Dann war er mit ein paar schnellen Schritten hinter ihr. Er zog seine Automatik aus der Manteltasche und legte der Frau von hinten seine Hand auf den Mund, während er gleichzeitig die Pistole schmerzhaft in ihre rechte Seite drückte.

„Seien Sie still. Dann geschieht Ihnen nichts.“

Die Frau grunzte nur unverständlich, ließ sich aber von Cyrus in einen nahe leerstehenden Laden mit zertrümmerten Fensterscheiben drängen. Cyrus schob sie weiter in das Haus hinein. Sie stolperten durch einige halb eingestürzte Räume, in denen Mobiliar kreuz und quer herumstand. Als sie das unversehrte Hinterhaus erreichten, stieß Cyrus die Frau in die Mitte des Raumes. Er betrachtete sie.

Luise Hiller war eine schöne Frau. Sie hatte das gleiche flammend rote Haar wie ihre Tochter und die gleichen sinnlichen Lippen. Frauke, nur älter. Ängstlich trat sie ein paar Schritte zurück, bis sie mit dem Rücken an eine Wand stieß. Mit schreckensweiten Augen musterte sie Cyrus.

„Was wollen Sie von mir? Geld ... oder mich?“

„Sie sind Luise Hiller?“, fragte Cyrus tonlos.

„Ja.“

„Haben Sie etwas, dass das bestätigt? Können Sie sich ausweisen?“ Cyrus schlug den kalten Ton eines Gestapo-Beamten an.

„Ja, sicher.“ Sie kramte in ihrer Handtasche und zog einen grauen Ausweis daraus hervor, den sie schüchtern vor sich hielt. Cyrus ließ sich mit der Kontrolle Zeit. Dabei stand er im Halbdunkel des Raums.

„Frau Hiller. Was machen Sie hier ohne Bewachung?“

„Das ist heute einmalig. Der Herr von der Gestapo ist aus persönlichen Gründen heute nicht da. Er ... er ... musste private Dinge erledigen. Sein Haus hat einen Bombentreffer erhalten und ...“

„Und die anderen? Haben die auch frei?“

Luise Hiller schaute verdutzt. „Die anderen? In unserem Haus ist nur noch unsere Wirtschafterin. Sonst niemand. Aber das wissen Sie doch ...“. Sie stutzte. „Wer sind Sie eigentlich?“

„Ich interessiere mich für Fritz Hiller, ihren Schwager!“

Luise Hiller schlug sich die Hand vor den Mund und machte ein paar Schritte vorwärts auf Cyrus zu. Ihr Körper schien vor Energie zu beben.

„Sie sind ein Alliierter, nicht wahr? Ein Agent oder so was. Von drüben?“ Ein zarter weißer feingliedriger Finger deutete auf ihn. „Oder spielen Sie mir etwas vor? Sind sie von der Gestapo?“

Wortlos holte Cyrus seine Brieftasche hervor und zeigte Luise Hiller den Ring ihrer Tochter, die ihn für einen Moment anstarrte, dann aber vorsichtig aus seiner Hand nahm. Mit leiser Stimme fragte sie:

„Was ist mit Frauke? Lebt sie? Ist sie wohlauf?“

Cyrus schaute sie ausdruckslos an. Ihm kam die Aufforderung seiner Vorgesetzten in den Sinn, die davon abgeraten hatten, den Hillers etwas über das Schicksal ihrer Tochter zu erzählen. Aber etwas ihn ihm sagte deutlich, dass er bei Luise Hiller besser fahren würde, wenn er ihr die Wahrheit sagte. Wenigstens die halbe.

„Sie ist tot.“

Luise Hillers ließ ihren Kopf sinken, die Schultern erschlafften und sie stand da, wie eine aufgehängte Marionette, aus der alles Leben gewichen war. Durch die zerstörten Scheiben des Hauses drang plötzlich Kindergeschrei hinein. Cyrus trat ans Fenster und kontrollierte kurz die Umgebung. Als er sich wieder Luise Hiller zuwandte, zitterten deren Bein unkontrolliert.

„Setzen Sie sich. Bitte!“ Vorsichtig griff Cyrus ihren Arm und führte sie zu einem verstaubten Stuhl.

„Wie? … Wie ist sie gestorben?“, fragte sie ihn nur kurz und Cyrus konnte hören, dass sie dabei schluckte.

„Ihr Flugzeug brannte bereits, als es die englische Küste erreichte. Wir glauben, dass sie eine Begegnung mit einem deutschen Nachtjäger hatte. Sie konnte das Flugzeug noch bruchlanden aber dabei hat sie ...“

„Ist sie verbrannt?“

„Nein. Ihr Genick. Der Aufprall war zu stark.“

Sie saß auf dem Stuhl und starrte den Ring an. Nach einer Weile blickte sie auf. In den Augen standen Tränen, die über ihre Wangen liefen. Der Lidschatten hinterließ schwarze Schlieren.

„Ich habe oft mit Fritz gesprochen ...“, brach es aus ihr heraus. „Ich habe ihn angefleht, das Mädchen in Ruhe zu lassen. Wenigstens bis der Krieg vorbei ist. Die Kinder sollten ihn überleben. Frauke hatte als Mädchen die besten Chancen. Sie musste nicht an die Front. So wie Hubert und bestimmt auch demnächst Albert. Aber er hat gesagt, dass der Krieg überall stattfindet und niemand unbeteiligt ist. Dass er mit dieser Regierung nie enden wird. Frauke war wie er. Energisch und selbstbewusst. Voller Tatendrang. Sie wollte helfen. Hatte die Fremdarbeiter in den Messewiesen gesehen. Wie die SS sie behandelte. Das Prügeln und Hungern. Das gleiche in den Hiller-Werken. Mein Mann hat eine Menge Kriegsgefangene, Hilfswillige, KZ-Häftlinge. Die SS bewacht sie. In einem Hof haben sie sogar einen eigenen Galgen. Für die Kzler! Den Hiller-Galgen! Das man Menschen so behandelt war für Frauke unerträglich. Ihr angeborenes Gerechtigkeitsgefühl ließ das alles nicht zu. Dazu das Geschwätz und Gesinge im BDM. Der Kampf für den Endsieg!“ Luise Hiller machte eine Geste, die Cyrus an Mussolini erinnerte. Dann sprach sie leiser. „Sie hat beim BDM ihren Hilfsdienst geleistet, bevor sie als Nachrichtenhelferin nach Borkum kam. Sie mussten den jungen Soldaten am Bahnhof zuwinken, wenn die zur Front fuhren. Junge Männern, so alt wie sie. Sterbebegleitung hat Frauke das genannt. Fritz brauchte nicht viel reden. Sie war wie er.“

„Was sagte Ihr Mann zu der politischen Einstellung seiner Tochter?“

Luise Hiller stierte mit tränennassen Augen durch ein Fenster auf die Straße. Kurz bevor sie antwortete, machte sie eine abfällige Handbewegung. „Der ... der hat nur die Firma im Kopf. Er holt massenhaft die Eisenträger aus den Ruinen und hortet sie irgendwo. Einen Teil bekommt die Rüstung, den anderen versteckt er. Für später. Heinrich wartet auch auf das Kriegsende. Wer gewinnt ist dem scheißegal. Am Ende wird er dann die Eisenträger für teures Geld verkaufen.“ Sie drückte ihr Kreuz durch und stemmte die Hände in die Seite. Mit tiefer Stimme imitierte sie ihren Mann. „Da muss es ja dann auch weitergehen. So oder so. Häuser müssen gebaut werden, Fabriken müssen errichtet werden. Und dann haben die Hiller-Werke das, was alle brauchen!“ Sie fiel wieder in sich zusammen. „Der freut sich über jeden Bombenangriff, dieser Mistkerl.“

Cyrus trat an das Fenster und blickte auf die zernarbte Häuserwelt. Er wollte mehr über Fritz Hiller erfahren. Mehr als das, was in seinem Dossier stand. „Die beiden Brüder sind sehr unterschiedlich. Der eine Kommunist und Wissenschaftler, der andere Nationalsozialist und Kapitalist.“

„Da hat man sie nicht gut informiert. Fritz ist nur ein Halbbruder. Der alte Hiller hat seine Mutter geheiratet, als sie mit Fritz von wem auch immer schwanger war. Sie war eine Schulfreundin. Dass er sie geheiratet hat und sie damit vor dem Tratsch der Leute bewahrt hat, war auch das einzig Anständige, was dieser alte Bock jemals getan hat. Heinrich ist der Zweitgeborene. Erklärt das Ihre Frage?“

„Ja.“

Cyrus setzte sich ebenfalls auf einen Stuhl und schwieg. Dann saßen sie ein paar Minuten bewegungslos da. Schließlich ergriff Luise Hiller wieder das Wort. „Aber Sie sind sicherlich nicht hergekommen, um mir zu erzählen, dass meine Tochter tot ist oder um etwas über unsere familiäre Situation zu erfahren. Was also wollen Sie von mir?“

Cyrus holte eine Zigarettenschachtel hervor und hielt sie Luise Hiller hin. Ihre schlanken Finger griffen sich eine Lucky Strike und Cyrus zündete sie an. Schachtel und Zippo legte er auf den Tisch. „Wir würden gerne wissen, was es mit Ihrer Flucht auf sich hat. Es gibt da einige Fragen. Vor allem, was Ihren Schwager angeht.“

„Mein Schwager und ich hatten ein gutes Verhältnis. Bis auf die Meinungsverschiedenheiten die ... Frauke betrafen ...“

Das kurze Stocken, bevor sie den Namen ihrer Tochter aussprach, machte Cyrus stutzig. Da war noch etwas, was sie ihm nicht sagte.

„... ein sehr gutes. Aber in der letzten Zeit bin ich ihm aus dem Weg gegangen. Ich habe den Kontakt zu ihm abgebrochen, obwohl es mir schwerfiel. Fritz war gefährlich für unsere Familie. Besonders für Frauke. Immer wenn er sich freimachen konnte, kam er nach Köln. Ich habe mich dann mit ihm getroffen. Er hat für das Kaiser-Wilhelm-Institut in Berlin gearbeitet. Heereswaffenamt. Wie Sie bestimmt wissen ist er Physiker. Aber wir haben wenig über seine Arbeit gesprochen.“

„Worüber dann?“

„Hitler, das Unrecht, die Partei und Unmoral. Über das, was mit den Juden geschehen ist. Wie Frauke konnte Fritz das nur schwer ertragen.“

„Wurde er nicht überwacht? Er war immerhin Kommunist. Wahrscheinlich einer der letzten, die frei herumliefen.“

Luise Hiller lachte kurz auf.

„Ja, natürlich wurde er überwacht. Aber er war auch verdammt intelligent. Er hat den SD nach Strich und Faden an der Nase herumgeführt. Und ihn richtig ins KZ stecken konnten oder wollten sie nicht. Dafür war er als Wissenschaftler zu wichtig. Besonders viele wirklich brillante Köpfe hatten sie ja nicht mehr, nachdem sie die Hälfte durch ihre Rassegesetze vertrieben hatten.“

„Haben Sie eine Ahnung, wo er jetzt stecken könnte?“

„Das letzte Mal als ich ihn gesehen habe war zu Fraukes neunzehnten Geburtstag. Sie hatte gerade Urlaub. Mein Mann hatte eine kleine Feier organisiert und eine ganze Schar BDM-Mädchen organisiert, obwohl Frauke eigentlich nichts mit ihnen zu tun haben wollte. Sie hatte schon andere Freunde. Fritz tauchte natürlich bei uns auf, aber Heinrich ließ ihn nicht herein. Die beiden haben sich immer misstraut, und eigentlich war Fritz auch gar nicht eingeladen. Heinrich wollte seine guten Namen, den er selbst in höheren Kreisen der NSDAP hatte, nicht aufs Spiel setzten. Oder besser seine Erlaubnis, mit dem Ausschlachten der Ruinen viel Geld zu verdienen. Also traf ich mich mit ihm. Er erzählte mir, dass er gerade aus Polen zurück wäre. Er war da beruflich mit einem, wie er sagte, scheußlichen Kollegen, gewesen. Der hieß wie dieser finnische General ... Mannerheim. Ja. Dies wäre wohl vorläufig der letzte Besuch, hatte er mir erzählt und dass er in den nächsten Wochen wohl einer neuen Dienststelle zugeteilt werden würde. Dann gab er mir noch das Geschenk für Frauke. Das war's.“

„War auch ein Brief oder irgendwas Schriftliches an Frauke dabei?“

„Nicht das ich wüsste. Vielleicht im Päckchen. Wenn dem so war, hätte er mir das nicht gesagt. Er wusste, dass ich diese subversiven Tätigkeiten von Frauke fernhalten wollte. Ich hab' nicht aufgepasst. Er hat sie doch damit reingezogen. Dieser verdammte Idiot.“

„Von welcher neuen Dienststelle er genau gesprochen hat, wissen Sie nicht?“

„Nein.“

„Ihr Mann? Weiß der es?“

„Nein. Der hat nicht mehr viel mit Fritz gesprochen. Wenn doch, haben sie meistens gestritten.“ Luise Hiller machte eine kurze Pause und zog an ihrer Zigarette.

„Dann kamen ein paar Wochen später das erste Mal diese beiden Gestapo-Männer. Skorni und Radke! Und die machten uns die Hölle heiß. Frauke sei nach England geflohen, hieß es. Sie sei eine Verräterin und ob wir wüssten, wer ihr dabei geholfen haben könnte. Mein Mann beschuldigte sofort seinen Bruder und diesen Karl Grewe, ihren Freund, den sie seit einem Jahr kannte. Und natürlich diese Edelweiß-Piraten.“

„Karl Grewe? Edelweiß-Piraten?“, fragte Cyrus obwohl er sich sofort an den Namen im Overall der Toten erinnerte.

Luise Hiller blickte ihn aus ihren dunkel verschmierten Augenhöhlen an. „Sie sind nicht wirklich gut informiert, nicht?“

„Deshalb sitze ich hier mit Ihnen.“

Sie nickte kaum merklich, zog an der Zigarette und redete weiter.

„Hier in Köln gibt es eine Gruppe Kinder und Jugendlicher, die sich Edelweiß-Piraten nennt. Arbeiterkinder aus Ehrenfeld und anderen Stadtteilen. Unzufriedene Jugendliche, die verbotene Musik hören, sich anders kleiden. Unangepasst eben. Wie sie in allen Gesellschaften zu allen Zeiten vorkommen. Frauke hat sich mit ihnen herumgetrieben bis sie als Nachrichtenhelferin nach Borkum geschickt wurde. Und Karl Grewe war der, der sie in diese Kreise eingeführt hat. Der gehörte solch' einer Gruppe an. Er war intelligent und wurde zur Luftwaffe eingezogen. Jetzt ist er glaube ich in Jever. Ganz in der Nähe zu Borkum.“

„Trotz seiner Vergangenheit?“

„Das war den Behörden anscheinend nicht klar und so ernst nehmen sie die Edelweiß-Piraten denn doch nicht. Für die sind das nur Asoziale. Zum großen Teil stimmt das wohl auch. Nach Fraukes Verschwinden jedenfalls haben sie seine gesamte Familie abgeholt. Ich wollte sie sprechen. Wollte irgendetwas über Frauke erfahren. Eine Nachbarin sagte mir, dass Vater, Mutter und eine Tochter von der Gestapo Besuch bekommen hätten. Was aus Karl selbst geworden ist ... keine Ahnung. Wahrscheinlich hat er ihr geholfen und sie haben ihn verhaftet. Und seine Familie gleich mit.“

„Kennen Sie noch andere Freunde von Frauke?“

„Nein. Sie hat mir am Ende misstraut. Diese Edelweiß-Piraten haben sich auch untereinander nur mit Spitznamen angeredet.“ Luise Hiller hob den Kopf und blickte zur Decke empor. Sie dachte nach. „Moment. Einen Namen habe ich behalten. Frauke hat ihn mal genannt. Klang amerikanisch. Wie aus einem Cowboy-Film. S ... S ... Kurz. Sid. Ja, so hat sie den genannt. Der soll mal Maschinenpistolen aus einem Wehrmachtslastwagen gestohlen haben. Für Frauke war er ein Held. Außerdem war er wohl ein guter Freund von Karl.“

„Haben sie Erkennungsmerkmale: Spezielle Aufmachung, Sprüche ... irgendwas, woran man sie erkennen kann?“

„Nein, eigentlich nicht. Aber ich weiß es auch nicht. Das einzige, woran ich mich erinnere sind diese kleinen farbigen Nadeln. Die tragen sie am Revers. Auch Frauke. Ich habe das für eine Modesache gehalten.“

„Wissen Sie, wo ich sie finden kann?“

„Nicht genau. Aber Frauke wurde einmal von der Gestapo abends mit ein paar anderen am Rheinufer aufgegriffen. Nahe der Innenstadt. Da hatten sie sich mit der HJ geprügelt. Wir haben sie dann aus der Gestapo-Zentrale abholen müssen.“

Cyrus schmiss die Zigarette auf den Boden und ging zur Tür.

„Was ist mit Ihren Söhnen? Könnten die was wissen?“

„Nein. Hubert ist irgendwo in Russland. Und Albert ist auf der Napola in Sonthofen. Die wissen nichts.“

Das alles war wenig, dachte Cyrus. Er hatte mit mehr gerechnet. Mit einer Adresse, einem Abschiedsbrief. Irgendetwas, was seine Suche nach Fritz Hiller beschleunigte. Stattdessen musste er jetzt nach einem Jungen namens Sid suchen. Aber ob der Licht ins Dunkel bringen konnte, war mehr als zweifelhaft.

„Vielen Dank, Frau Hiller. Es tut mir leid, dass wir das Leben Ihrer Tochter nicht schützen konnten. Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen.“

„Was werden Sie jetzt machen?“

„Ich weiß es noch nicht.“

Cyrus blickte auf den Hinterhof. Die Fenster der gegenüberliegenden ausgebrannten Fassaden schauten wie tote Augen. Trostlos. Er drehte sich zu Luise Hiller um.

Die schneuzte sich die Nase und steckte den Ring ihrer Tochter zitternd an ihren kleinen Finger. Cyrus seufzte. Er hasste das, was er jetzt tun musste. „Den Ring können Sie nicht mitnehmen. Vielleicht brauche ich ihn, um mich bei ihrem Schwager zu identifizieren, wenn ich ihn finde.“

„Oh nein!“ Ihre Augen flehten ihn an. „Bitte. Ich habe sonst nichts von ihr. Sie können das nicht machen. Lassen Sie mir den Ring!“

„Frau Hiller, bitte. Ich brauche ihn!“

Luise Hiller blickte sich verzweifelt um. Ihr Blick hellte sich auf.„Ich weiß etwas besseres. Wenn sie Fritz treffen, sagen Sie ihm einfach Was du heute kannst besorgen, verschiebe nicht auf Morgen. Das wird er verstehen. Das haben wir uns immer gesagt, weil er doch so ein hoffnungsloser Chaot ist. Sagen Sie ihm das, aber lassen Sie mir den Ring.“

Cyrus fühlte, das er weich wurde. „Meinetwegen! Behalten Sie ihn! Aber verstecken Sie ihn. Sonst stellt man Ihnen noch unangenehme Fragen.“

„Danke“, hauchte sie, erhob sich vom Stuhl und trat in den Flur, der zur Straße hinausführte. „Kann ich jetzt gehen?“

Cyrus nickte.

Sie wandte sich um und ging den dämmrigen Flur entlang.

„Frau Hiller!“, rief Cyrus ihr nach.

„Ja!“ Luise Hiller dreht sich um und sah ihn an. Helles Sonnenlicht fiel durch einen Spalt in der Decke auf ihre Haare, die daraufhin goldrot aufloderten.

„Fritz ist der Vater von Frauke, nicht wahr!“

„Ja!“; sagte sie kurz ohne zu zögern und blickte zu Boden. Dann hängte sie sich ihre Handtasche über die Schulter und verschwand.

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